Kai Merten

Texttheater und Bewußtseinstheater

Zur Repräsentation des Menschen um 1800 und um 2000




  • Martin Huber: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 282 S. 7 s/w Abb. Gebunden. EUR 49,90.
    ISBN: 3-525-20826-X.


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Literarische Theatralität als
Forschungsdesiderat

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Mit ihrer Thematik widmet sich Martin Hubers Habilitationsschrift einem Forschungsdesiderat. Die hauptsächlich in Berlin ansässige Forschung zu den ›Kulturen des Performativen‹ (so der Name des von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte geleiteten Sonderforschungsbereichs) arbeitet intensiv an und mit umfassenden kulturwissenschaftlichen Konzeptionen zur Theatralität und bezieht sich dabei auf die ganze Spannbreite historischer und heutiger Medien. Eine mit dem Berliner Kontext lose verbundene Münchener Forschergruppe um Gerhard Neumann 1 beschäftigt sich andererseits vor allem mit der Theatralität von Literatur und weist diesen Bereich als Forschungsdesiderat aus. 2 Hubers Arbeit, die sich dem Entstehen eines ›theatralen Erzählens‹ in Texten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zuwendet, profitiert nun von beiden Forschungskontexten, wobei sie sie miteinander verbindet, aber auch herausfordert.

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Auf der einen Seite mag man Hubers umfassende Erkundung einer Theatralisierung der Literatur um 1800 als eine implizite Rückdatierung des vom SFB auf die Zeit um 1900 angesetzten umfassenden Performativitätsschubs der Moderne ansehen. 3 Zum anderen aber, und das ist wichtiger, weist Huber auf die Grenzen des literaturbezogenen Theatralitätskonzepts Gerhard Neumanns 4 hin und schlägt eine umfassendere Berücksichtigung des kulturwissenschaftlichen Theatralitätskonzepts, das von Helmar Schramm erarbeitet wurde 5 , vor. Er kritisiert die Bestimmung von literarischer Theatralität als das Auftreten von »›Zeichen von Zeichen‹« (S. 77) im literarischen Text als zu beschränkt und verlangt eine Beachtung der – neben der Kategorie der ›Semiosis‹ – anderen beiden von Schramm genannten Theatralitätskategorien ›Aisthesis‹ und ›Kinesis‹: »Mir [...] scheinen für den Zeitraum um 1800 insbesondere [die Körperlichkeit und der Wahrnehmungsaspekt] heuristisches Potential für die Literaturwissenschaft bereitzustellen.« (ibd.) Literarische Theatralität um 1800 ist demzufolge ein »Kulturmodell« (S. 12), das »zentrale Bereiche der menschlichen Kommunikation vereinigt«, »Wahrnehmung, (Körper-)Bewegung und Sprache [verbindet] und [...] im Verhältnis zwischen Darsteller und Zuschauer konstitutiv die Beobachtung der eigenen Wahrnehmung [enthält]« (S. 12). Hubers Arbeit nimmt hier also eine Erweiterung der systematischen Konzeption literarischer Theatralität nach Maßgabe umfassenderer Theatralitätsmodelle vor.

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Aber, so Huber einschränkend, »[i]m Unterschied zur Theatralität der Bühnenaufführung in der ›performance‹ kann die Literatur [...] nur vertextete, also ›narrative‹ Theatralität vermitteln« (S. 81). Huber schlägt daher den Begriff der ›narrativen Inszenierung‹ vor, der impliziert, daß die genannten Elemente des Theatralen im betreffenden literarischen Text zwar zur Generierung eines »Erkenntnismodell[s], in das potentiell all jene Zeichenfelder integriert werden können, die eine Theaterbühne zur Bühne machen« (S. 81), zur Verfügung stehen, allerdings stets in einer erzählten, mithin »bereits medial vermittelte[n] Form« (S. 82). Das Theater ist für Huber eine im Sinne Hans Blumenbergs ›absolute Metapher‹, die um 1800 vor allem eine »Beobachterrelation« (S. 84) umfaßt, in der Literatur aber mit den Medienspezifika Schrift, »Fiktionskontrakt« und den »Autor / Erzähler / Leser-Rollen« (ibd.) in Verbindung tritt.

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Im Texttheater der Zeit wird die Beobachtung zweiter Ordnung, die in Theaterkultur und Theatertheorie des 18. Jahrhunderts als Hauptmerkmal des Theaters erscheint, vertieft zu einer Beobachtung des Theaters selbst: Im Theater gelangt der Mensch zu Selbsterkenntnis durch Fremdwahrnehmung, aber erst in der (Text-)Literatur reflektiert das Medium Theater selbst auf seine Spezifika: »In der Literatur wird das in der Theaterperformance unmittelbar rezipierte Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmung, Bewegung und Sprache bewußt aufgenommen, reflektiert und kommuniziert.« (S. 85)

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Historische und
systematische Interessen

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Wie unschwer zu erkennen ist, geht es Huber also um historische Zusammenhänge und systematische Belange gleichermaßen. Nicht nur möchte er die Entstehung eines literarischen Texttheaters um 1800 nachzeichnen, welches, etwa in Form der großen Goetheschen Romane Die Leiden des jungen Werthers und Wilhelm Meisters Lehrjahre, mehr und mehr an die Stelle des Theaters selbst trat. Huber fragt darüber hinaus auch nach den anthropologischen Funktionen eines solchen Texttheaters, er möchte »die kulturwissenschaftliche wie literaturwissenschaftliche Diskussion der Verbindung von Theatralität und sozialem Leben, von Theater und Literatur über die Bereiche der Gefühle, also der emotionalen Körper- und Selbsterfahrung, stärker als bisher an die aktuelle humanwissenschaftliche Forschung an[...]binden« (S. 23).

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Im Speziellen sollen Parallelen zwischen dem literarischen Theatermodell der Zeit um 1800 und seinen Funktionen einerseits und Modellen des menschlichen Bewußtseins, wie sie die heutigen Kognitionswissenschaften verwenden, andererseits herausgearbeitet werden. »[D]ie biologische wie die literarische Anthropologie [erscheinen] gleichermaßen nur als jeweils einer der Teilnehmer am kulturellen Diskurs der Konstruktion unseres Selbst« (S. 23). Der Leser wendet sich von den (vornehmlich) theoretisch orientierten Abschnitten (S. 9–87) des Buchs mit Spannung zu den um Textlektüren zentrierten Kapiteln.

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Lektüren des Texttheaters
um 1800

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Keimzelle von Hubers Textlektüren ist dabei eine Analyse von Jean Pauls Das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal (S. 78–81), die er bereits in seine historisch-systematische Modellierung literarischer Theatralität einlagert. Schon die Erzählsituation ist theatral, indem der Erzähler in einem bühnenartig angelegten Interieur entworfen wird. Die Wahrnehmung des Lesers wird also bereits in der initialen Rahmung auf die erzählende Figur gelenkt und gebündelt, so daß »Wahrnehmungsselektion und Wahrnehmungsfokussierung« (S. 79) zum fundamentalen (theatralen) Erzählmodell des Textes werden. Die Hauptfigur übernimmt gewissermaßen diesen theatralen Modus für ihre Selbstinszenierung vorm Leser und entwirft ihr Leben in atmosphärisch verdichteten, selektiv beleuchteten und theatral arrangierten sowie ausgestatteten Erinnerungsszenen.

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Die (narrativ) theatrale Verknüpfung von Wahrnehmung, Arrangement und Erinnerung wird vertieft und auf den zeitgenössischen romantheoretischen Kontext bezogen im dritten Kapitel, »Erzählen als Inszenieren« (S. 89–139), das sich um eine umfangreiche Lektüre des Werther anordnet. An Goethes frühem Roman entzündete sich eine zeitgenössische Debatte um die Gattung des Briefromans. Huber arbeitet den fiktionalen Brief als ein zentrales Textmedium der Empfindsamkeit zur literarischen Diskursivierung von Gefühlen heraus. Dabei, so forderten Rezensenten wie Friedrich von Blanckenburg, sollte eine Verbindung hergestellt werden zwischen dem Innen, den Gefühlen, und dem Außen, den auf den Menschen einwirkenden externen Faktoren, die den Betroffenen als Sinnesdaten erreichen. Vor dem Hintergrund derartig weitreichender Anforderungen an den Roman autonomisierte sich die Gattung zusehends zu einem »technische[n] Experimentierfeld des Erzählens«, das »die Leser auf suggestive Weise [...] an der sinnlichen Erfahrung und den Emotionen ihrer Protagonisten [teilhaben läßt]« (S. 99).

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Die Leiden des jungen Werthers, Paradebeispiel theatralen Erzählens und interpretatives Zentrum dieses Kapitels, konstruieren ihre textuelle Bühne, auf der vor allem der Ich-Erzähler auftritt, hierbei in einem Wechsel von Innen- und Außenwahrnehmung, einem Changieren von eigenen Gefühlen und den Wahrnehmungen des Körpers durch andere, mit dem der beschriebene theatrale Modus einer Selbsterkenntnis durch Fremdbeobachtung in exemplarischer Weise in den Roman übernommen und dort verdichtet wird. Wie im Schulmeisterlein Wutz auch werden Erinnerungsmomente konstitutiv für die narrative Inszenierung des Helden: Durch externe Umstände angeregte Erinnerungen generieren – als gewissermaßen äußere Faktoren – im Protagonisten wiederum Gefühle, werden dabei aber selbst zu topischen Szenen verdichtet, an denen nicht nur der Gefühlszustand, sondern auch eine Lebensgeschichte des Subjekts ables- bzw. nachgerade fühlbar wird. »Goethes Briefroman ist durch ein Erzählverfahren bestimmt, das die Gefühle der Protagonisten durch das Aneinanderkoppeln von Körper-, Raumwahrnehmungen und Lebensgeschichte darzustellen sucht.« (S. 130). Insgesamt wird der Werther damit zu einem literarischen Protokoll »moderner ›Individualität‹ in der Literatur, die wesentlich an die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung (auch körpersprachlicher Aktionen) im Wechsel von Innen- und Außenperspektive gebunden ist« (ibd.).

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In einem späteren Kapitel (S. 195–244) kommt Huber (neben Jean Paul) noch einmal auf Goethe zu sprechen. Interessanterweise nimmt er mit den Briefen aus der Schweiz ein Wiederaufgreifen der Werther-Figur in den Blick und bringt sie in Zusammenhang mit Goethes umfassender theoretischer und praktischer Beschäftigung mit der menschlichen Anatomie. Im Falle der Briefe aber konstatiert Huber ein vorübergehendes Scheitern von Goethes »Projekt der Balancierung von Kunst und Natur« (S. 222), da Goethes Ich-Erzähler erkennen muß, daß männlicher wie weiblicher Körper unhintergehbar kulturell vermittelt sind. Erst in den Erotica Romana, so Huber, gelingt Goethe eine »phänomenologisch adäquate Umsetzung eines multisensoriellen Empfindungsvorganges mit poetischen Mitteln« (S. 226), indem die erotische Erfahrung durch einen Bezug zum Medium der antiken Skulptur einerseits und durch eine Verschränkung visueller und haptischer Sinnesdaten sowie von Erinnerung und gegenwärtiger Erfahrung andererseits kommuniziert wird. Auch bei Jean Paul verfolgt Huber eine »alle Sinne umgreifende[...] Darstellung von Körpererfahrung, die in der Außenperspektive auf das Ich zugleich die Selbstbeobachtung mit einschließt« (S. 242) und die bei diesem Autor im Zuge einer »theatralen Poetik« (S. 243) zu einer an die inszenierte Subjektivität angekoppelten (ebenso inszenierten) Todeserfahrung erweitert wird.

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Hubers Dreischritt vom »Erzählen als Inszenieren« (Kapitel 3) über »Inszeniertes Bewußtsein« (Kapitel 4) zum »Inszenierte[n] Körper« (Kapitel 5) wird so im Ganzen zu einer sich sukzessive verdichtenden Entfaltung eines literarischen Texttheaters um 1800, wobei das vierte Kapitel, auf das ich im folgenden detaillierter eingehen möchte, wiederum historisch übergreifende und systematische Überlegungen enthält. Insgesamt wird die Brauchbarkeit des angewandten »Sinnbildungsmusters[s]« (S. 81) einer narrativen Inszenierung nachdrücklich unter Beweis gestellt und das nicht nur an kanonischen Texten, sondern auch an populärliterarischen Beispielen, deren Beiträge zur Intensivierung der (literarischen) Beobachtungsrelationen (Schauerliteratur, S. 132–136) und der sinnlichen Anbindung des Lesers an die narrative Inszenierung (erotische Literatur, S. 158–162) Huber kursorisch nachweist. Dabei wäre diesem Phänomen nicht nur eine »vergleichende europäische Geschichte« (S. 248) zu gönnen, wie sie sich der Autor wünscht, sondern auch, wie ich im folgenden darlegen will, eine Würdigung in der ganzen Reichweite seiner medien- und epistemegeschichtlichen Implikationen.

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Inszenierung menschlichen
Bewußtseins um 1800

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»Vor dem Hintergrund der Bewußtseinsdebatte des 18. Jahrhunderts wird ›narrative Inszenierung‹ [...] als eine literarische Form der Konstitution von ›Bewußtsein‹ sichtbar.« (S. 141). Dieser Satz, der ganz zu Beginn des vierten Kapitels steht, ist gewissermaßen der Startschuß für das nun Folgende: den Abgleich der literarisch-theatralen Bewußtseinsmodellierung mit zeitgenössischen, aber in einem weiteren Schritt eben auch gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Modellen menschlichen Selbstgefühls.

[17] 

Im späten 18. Jahrhundert war es dabei vor allem die Debatte um das sog. ›commercium mentis et corporis‹, also der Verbindung von Psyche und Physis, aus der sich ein Diskurs über menschliches »Selbstbewußtseyn« entwickelte. Im Zuge der (diskursiven) Überwindung der Leib-Seele-Dichotomie in dem für die germanistische Aufklärungsforschung bereits sprichwörtlich gewordenen »ganzen Menschen« 6 trat dabei eine metaphysische Lokalisierung der Seele im Körper, wie sie Schiller in seiner Dissertation verfocht, einer vollständigen Materialisierung der Seele gegenüber, wie sie etwa Ernst Platner vertrat. In dieser Atmosphäre wurde ›Selbstbewußtsein‹ zu einem »Konzept in der Kombination von Neuro-Physiologie, Psychologie und philosophischen Erkenntnismodellen« (S. 153), also zum Leitbegriff einer Anthropologie, in der menschliche Selbstaussagen, etwa auch literarischer Art, im Rahmen der »Erforschung der eigenen Seele« (ibd.) zentrale Bedeutung erhielten. In der anthropologischen Selbstschau wird dabei das beobachtende Subjekt, wie Kant und Lichtenberg kritisch vermerkten, zugleich zum beobachteten Objekt, so daß gerade in diesem Kontext das Theater als der Ort einer Selbst- durch Fremdbeobachtung zum Leitmedium avancierte. Durch die Verbindung »[der] klassische[n] Theatersituation [mit] ein[em] moderne[n] Bewußtseinskonzept« (S. 155) wurde dabei, so Huber, das Theater verdoppelt zu einer äußeren und einer inneren Bühne.

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Inszenierung menschlichen
Bewußtseins um 2000

[19] 

An diesem Punkt ist der Bogen zur heutigen Bewußtseinsforschung leicht zu schlagen und Huber tut dies auch im übernächsten Abschnitt (S. 166–183). Nach einer beeindruckenden Revue heutiger Hirnphysiologie kommt Huber zu dem Schluß, daß »›[n]arrative Inszenierungen‹ [...] nach dem Bauprinzip des mentalen Selbst [funktionieren] und [...] demnach Elemente der Bewußtseinskonstitution in die Literatur [übertragen]« (S. 193). Das literarische Texttheater gleicht demnach in seinen wesentlichen Konstituenten den Modellen menschlichen Selbstbewußtseins, wie sie die modernen Kognitionswissenschaften erarbeitet haben.

[20] 

In Antonio Damasios Bewußtseinsmodell, das Huber favorisiert, werden Wahrnehmungen, die der Organismus macht, erst dann bewußt, also ihrerseits wahrgenommen, wenn sie ein weiteres Mal abgebildet, und dabei einen Repräsentationsvorgang im Inneren des Gehirns unterworfen werden. Und das bedeutet, so schließt Huber, nichts anderes, als daß menschliches Bewußtsein auf einer inneren Bühnenanordnung beruht, die im Aufbau der narrativen Inszenierung gleicht. Damit wir die Literatur ab 1800 zu einem Bewußtseinstheater in einem ganz fundamentalen Sinne: »Das erzählte Erleben der literarischen Figur gleicht in der Narration dem eigenen Erleben des Lesers.« (183)

[21] 

Mentaler Konstruktivismus
oder (kulturelle) Konstruktion des Mentalen?

[22] 

So beeindruckend diese Aussage über die moderne Literatur ist, ist sie doch nicht ganz frei von problematischen Implikationen. Huber ist ja von der nicht nur relativistischen, sondern auch vorsichtigen Grundannahme ausgegangen, daß auch hirnphysiologische Modellierungen lediglich (keineswegs überlegene) Teilnehmer am »kulturellen Diskurs der Konstruktion unseres Selbst« (S. 23) seien, an dem auch die Literatur um 1800 partizipiert. Wenn er nun aber schreibt:

[23] 
Es gibt keinen Weg zurück hinter die Forschungsergebnisse der Neurobiologie, Neuropsychologie und Kognitionswissenschaft, die uns deutlich gemacht haben, daß auch unsere Erlebniswelt von unserm Geist hervorgebracht wird. (S. 171),
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so setzt er den radikalen Konstruktivismus, der in einer derartigen Position zum Tragen kommt, absolut und impliziert die Möglichkeit einer wahren Rede über das »eigene[...] Erleben des Lesers«. Die mag es durchaus geben – und weder einem Literaturwissenschaftler noch seinem (ebenfalls literaturwissenschaftlichen) Rezensenten steht es zu, ihre Möglichkeit ein für alle Mal in Abrede zu stellen.

[25] 

Andererseits muß an dieser Stelle aber schon darauf verwiesen werden, daß Hubers Entfaltung eines literarischen Texttheaters um 1800, gerade aufgrund ihrer Umfassendheit und Gründlichkeit, ebenso in die andere Richtung verfolgt und als die Rekonstruktion der Geburt einer kognitionswissenschaftlichen »Bühne des Bewußtseins« aus dem Geist des Texttheaters des späten 18. Jahrhunderts aufgefaßt werden könnte. Aus dieser Perspektive hätte der Text als Bühne um 1800 die Kognitionswissenschaften also nicht etwa nur vorweggenommen, sondern im Gegenteil ihre Voraussetzungen allererst geschaffen. Das moderne kognitionswissenschaftliche Bewußtsein als ein selbst- und weltschaffendes Repräsentationssystem wäre nach dieser Auffassung lediglich eine Weiterentwicklung des literarischen Bewußtseinstheaters um 1800. Es wäre also genau umgekehrt: Nicht die moderne Kognitionswissenschaft, sondern die Ästhetik auf der Schwelle zur Moderne war es, die unser Wissen über den Menschen auf nachdrückliche Weise beeinflußt hat, indem sie nämlich die Medialität schuf, in der wir uns bis heute wahrnehmen.

[26] 

Allerdings ist nicht letztgültig zu entscheiden, ob man von heutiger Kognitionswissenschaft auf die Ästhetik um 1800 zu schließen hat oder umgekehrt. Gerade in diesem Sinne stellt Hubers Studie die Ermöglichung des von ihm gewünschten Dialogs zwischen Geistes- und Naturwissenschaften dar, der – bezüglich der epistemegeschichtlichen Rolle der Ästhetik der frühen Goethezeit – eben noch nicht abgeschlossen ist.

[27] 

Theater:
Medium oder Metapher?

[28] 

Vielleicht unterschätzt Huber die Tragweite – und die Tragfähigkeit – seines Konzepts literarischer Theatralität insgesamt selbst ein wenig. Es ist verwunderlich, daß er trotz der sorgfältigen Bezugnahme auf die drei von Schramm herausgearbeiteten Theatralitätskonstituenten Wahrnehmung, Körperlichkeit und Sprache darauf verzichtet, von literarischer Theatralität durchweg als einer Repräsentation und Kommunikation ermöglichenden Medialität zu sprechen und stattdessen den Begriff einer Metapher mit »wahrnehmungs- und erkenntnisstiftende[r] Funktion« (S. 23) vorschlägt. Wenn das Theater in der Literatur nur eine Metapher wäre, verlöre es dann nicht seine spezifische wirklichkeitsfundierende Funktion? Denn gefüllt sein könnte eine Metapher ja mit allem möglichem – mit Theater, aber eben auch mit »Schiffahrt« –, wobei die Bereitstellung der Kommunikation bei einer Metapher ja nicht vom Bildbereich, sondern von der Wirkungsweise des Metaphorischen an sich ausgeht: »Metaphern integrieren differente Beobachtungen in semantische Ganzheiten und ermöglichen deren Kommunikation.« (S. 176), wie Huber selbst schreibt. Das Theater oder ein theatrales Modell wäre an den Möglichkeitsbedingungen dieser Kommunikation nach dieser Auffassung nicht beteiligt. Allerdings kann Huber an derselben Stelle selbst nicht umhin, den Status des Theaters als (lediglich) Füllung einer Metapher zu sprengen:

[29] 
›Theater‹ ist als kulturelles Modell für jeglichen (selbst)reflexiven Vorgang vermutlich deshalb so erfolgreich, weil es im Modell an sich schon die eigene Beobachtung mitdenkt. (S. 175)
[30] 

Dergestalt würde den Aufbau von Erfahrung und Kommunikation eines menschlichen Selbst hier doch nicht ein irgendwie geartetes Metaphorisches leisten, sondern die (literarisierte) Medialität des Theaters. Hubers These einer literarischen (Mit-)Arbeit am Bewußtsein als einem »repräsentationale[n] Werkzeug« (S. 181) würde durch eine derart stärkere Bewertung der Leistung literarischer Theatralität doch selbst nur gestärkt: Literarisches Texttheater um 1800 ist dann nicht die (kontingente) Füllung einer kollektiven Metaphorik, mit deren Hilfe wir uns verständigen, sondern vielmehr die kulturelle Erfüllung und Realisierung eines Bewußtseinstheaters und damit die Grundlage der Kommunikation.

[31] 

Diese Einwände knüpfen allerdings an das von Hubers Studie Geleistete an und denken das Erarbeitete bereits fort. Insgesamt ist nämlich zu konstatieren, daß Huber – über die Anregung wissenschaftlichen Dialogs hinausgehend – seine anderen Ziele, nämlich moderne literarische Theatralität historisch zu rekonstruieren und theoretisch zu fundieren, erreicht. Und vom Aufruf, dieses Modell weiterzuführen und auf andere Literaturen Europas zu übertragen, fühlt sich nicht zuletzt auch der (anglistische) Rezensent selbst angesprochen.


Dr. Kai Merten
Justus-Liebig-Universität Gießen

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Ins Netz gestellt am 11.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Ralph J. Poole. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Kai Merten: Texttheater und Bewußtseinstheater. Zur Repräsentation des Menschen um 1800 und um 2000. (Rezension über: Martin Huber: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003.)
In: IASLonline [11.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=880>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Die beiden wichtigsten Publikationen dieser Forschergruppe sind die von Gerhard Neumann, Caroline Pross und Gerald Wildgruber bzw. von Ethel Matala de Mazza und Clemens Pornschlegel herausgegebenen Sammelbände Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft sowie Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte. Beide sind im Freiburger Rombach Verlag erschienen (2000 bzw. 2003).   zurück
»[L]iteraturwissenschaftliche Arbeiten, die sich explizit und systematisch dem Moment der ›Theatralität‹ [...] gewidmet hätten [...], gibt es bislang nicht.«, wie Gerhard Neumann betont (Neumann / Pross / Wildgruber [Anm. 1], S. 16).   zurück
In der Darlegung des Gesamtkonzepts des SFB ist von zwei zentralen »Umbruchsituationen« die Rede, von denen die erste »vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit« v.a. die Verschriftlichung der Volkssprachen und die Einführung des Buchdrucks betrifft, während die zweite »mit der Entwicklung der neuen Medien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert« zusammenhängt, im Zug derer »die Dominanz von Textualität durchbrochen wird und in verschiedensten kulturellen Bereichen Performativierungsschübe zu verzeichnen sind« (URL: http://www.sfb-performativ.de/seiten/frame_gesa.html [Stand: 06/03]).   zurück
Huber bezieht sich dabei auf Neumanns Einleitung zu Neumann / Pross / Wildgruber (Anm. 1), S. 11–32.   zurück
Helmar Schramm: Karneval des Denkens: Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts (LiteraturForschung 1) Berlin: Akademie Verlag 1996.    zurück
So der Titel des für das Forschungsfeld sowohl als Bestandsaufnahme als auch als Anstoß für weitere Forschung maßgeblichen Sammelbands: Hans Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (Germanistische Symposien Berichtsbände 15) Stuttgart / Weimar: Metzler 1994.   zurück