Thorsten Burkard

Briefe an die Seele

Der Elegienzyklus des deutschen Horaz




  • Lutz Claren u.a. (Hg.): Jacob Balde SJ. Urania victrix. Liber I-II - Die siegreiche Urania. (Frühe Neuzeit 85) Tübingen: Max Niemeyer 2003. XLIV, 394 S. Gebunden. EUR 108,00.
    ISBN: 3-484-36585-4.


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Der »deutsche Horaz« Jacob Balde (1604–1668) erfährt in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit – und das zeigt sich nicht zuletzt an der zunehmenden Zahl der seinem Oeuvre gewidmeten Publikationen. Stach das Jahr 2002 durch zwei Veröffentlichungen von ›Neu-Baldeanern‹ hervor, 1 so erschien ein Jahr später mit dem hier zu besprechenden Buch ein Werk aus einer traditionellen Balde-Hochburg, nämlich aus Heidelberg. Ungeachtet der alphabetisch bedingten Reihenfolge im Buchtitel wird man die Federführung bei diesem beachtlichen Unternehmen Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand zusprechen dürfen, wie auch aus der Notiz auf S. xliv hervorgeht (»Zur Entstehung des Bandes«) 2 – und somit zwei Forschern, die sich ohnehin schon nicht geringe Meriten um Balde erworben haben; erwähnt sei nur der 1990 besorgte und mit einer Einleitung versehene Nachdruck der achtbändigen Opera omnia von 1729. 3

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Die hier teilweise edierte, übersetzte und kommentierte Urania Victrix zeigt eine Seite des elsässischen Dichters, die über den kleinen Kreis der Balde-Forscher hinaus wenig bekannt sein dürfte: 4 Es handelt sich um einen, übrigens Papst Alexander VII. gewidmeten, Elegienzyklus, in dem geschildert wird, wie die Sinne und ihre Adlati (so wird der Gesichtssinn von einem Maler unterstützt) mit Briefen um Urania, eine Chiffre für die menschliche Seele, werben. Entsprechend dem Sujet (Liebe) wählt Balde das elegische Distichon als Versmaß, und da es sich um Briefe handelt, wird man am ehesten an Ovids Heroides als Vorbild denken. Der stoffliche Vorwurf wächst nun – für elegische Verhältnisse – zu einem Monumentalwerk an, das in den Opera omnia von 1729 immerhin 240 Seiten umfasst, 5 und nur der Balde-Laie wird es den Herausgebern zum Vorwurf machen wollen, dass sie sich mit den ersten beiden Büchern beschieden haben, 6 die in ihrer Edition immerhin 100 Seiten umfassen. Das Recensendum ist ein Pionierwerk – dazu muss man nur einen Blick in die Balde-Bibliographie von Wolfgang Beitinger und Wilfried Stroh werfen, wo nur eine deutsche Übersetzung (von 1679!) 7 und eine schmale annotierte französische Auswahlübersetzung von Andrée Thill (von 1989) verzeichnet sind. 8

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Der Aufbau des äußerlich und vom Layout her ansprechenden Buches ist traditionell: Auf eine ausführliche, alle wichtigen Probleme ansprechende Einleitung (S. vii-xliv) folgt die Edition des lateinischen Textes mit der deutschen Übersetzung (S. 1–203), sodann der Kommentar (S. 205–372) und schließlich nach dem Literaturverzeichnis (S. 373–383) ein Index Nominum (S. 385–394), in dem dankenswerterweise nicht nur auf Baldes Text, sondern auch auf Einleitung und Kommentar verwiesen wird.

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Die Einleitung

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Der erste Teil der von Wilhelm Kühlmann verfassten Einleitung (S. vii-xxvi) führt überaus kenntnisreich und gelehrt in das historische und literarische Umfeld der Urania Victrix ein. 9 Hier findet man auch eine ausführliche Darstellung der Textgeschichte des Werkes, wobei auch das Problem der jesuitischen Zensur den ihm zustehenden Raum erhält (S. xiv-xviii).

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In diesem ersten Teil diskutiert Kühlmann auch die Briefe Baldes, die aus der Zeit der Abfassung der Urania stammen und die u.a. seinen Wandel vom lyrischen und satirischen Dichter (also von einem ›Horaz‹) zu einem elegischen Poeten behandeln. 10 An dieser Stelle sei eine kleine Anmerkung erlaubt: Diesen Wechsel der poetischen Schreibweisen vollzieht Balde nicht etwa, »um das Odium einseitiger Horaznachfolge loszuwerden« (S. xiii), sondern weil er, wie aus den beiden zitierten Briefstellen hervorgeht (S. xiii mit Fußn.12), 11 beweisen möchte, dass er auch elegisch dichten kann: Er will die Breite seines dichterischen Könnens demonstrieren. Zu Recht weist Kühlmann darauf hin, dass ihn die Elegien anderer Autoren zur aemulatio gereizt haben (S.xiv).

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Der zweite und dritte Teil der Einleitung geben einen an wichtigen Beobachtungen reichen Inhaltsüberblick über die ersten beiden Bücher der Urania und ordnen diese in den kulturellen Kontext ihrer Zeit ein (S. xxvii-xli). Der Klassische Philologe vermisst lediglich eine Behandlung des Verhältnisses zwischen Baldes Elegienzyklus und dem vielleicht wichtigsten antiken Vorbild, Ovids Heroides (was wohl den Rahmen gesprengt hätte). Hier ist aber ein solides Fundament gelegt worden für eine spätere Beschäftigung mit dieser Problematik. Auch der Frage, inwieweit sich Balde in der Urania als concettistisch-manieristischer Dichter zu erkennen gibt, wie in der Einleitung (S. xxxiv f.) und im Kommentar wiederholt behauptet wird, wäre auf der Grundlage des Recensendum weiter nachzugehen – hier könnte eine generelle Skepsis angeraten sein, mag auch der eine oder andere Brief zuweilen sehr einfallsreich und verblüffend argumentieren.

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Die Edition. Allgemeines

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Die Prinzipien der Textkonstitution (S. xlii) sind einleuchtend und angemessen: Die Herausgeber wählen die einzige zu Lebzeiten Baldes entstandene Edition von 1663 als Leitdruck und übernehmen dessen Text, soweit sinnvoll, diplomatisch. Die stillschweigende Korrektur von Druckfehlern ist zu begrüßen (eine Praxis, die leider nicht überall anzutreffen ist), da die zweite Ausgabe von 1729 mit hoher Wahrscheinlichkeit auf diesen Druck zurückgeht, 12 so dass es unnötig ist, Druckfehler zur Erstellung eines Stemmas heranzuziehen. Die Einrichtung des Apparats folgt den üblichen Standards, als benutzerunfreundlich muss lediglich die lässliche Sünde verzeichnet werden, dass der Apparat zu Baldes Einführung in das Werk (Isagoge; S. 1–51) am Ende des Textes (statt sub linea) steht (S. 52 f.); über die Gründe legen die Herausgeber leider keine Rechenschaft ab.

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Bei Orthographie und Interpunktion weichen die Herausgeber unnötigerweise zuweilen von A ab, wenn B sozusagen moderner ist: z. B. pulchritudo statt pulcritudo (S. 56, Z. 1); Fratres; dignissimus statt Fratres. dignissimus (S. 56, V.5). 13 Wäre man immer A gefolgt (außer natürlich bei echten Versehen), so hätte man sich häufiger Einträge im Apparat sparen können, wie überhaupt die deutlich andere Interpunktion in B (1729) zu häufig dokumentiert wird. 14

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Die Edition
Varianten und Emendationen

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Von den editorischen Entscheidungen können nicht alle überzeugen: In dem Brief des Mathematicus Phisco übernehmen die Herausgeber an einer Stelle die Lesart der Münchener Gesamtausgabe: »Hoc [gemeint ist Tycho Brahe] ego perfeci Sphaeram monstrante Magistro« mit folgender Übersetzung: »Unter seiner Anleitung verfertigte ich einen Himmelsglobus« (S. 104, V. 45). Hier scheint aber, wie der Fortgang der Elegie zeigt, die Lesart von A, profeci, die bessere zu sein: Tycho Brahe zeigt Phisco nämlich den Sternenhimmel und nicht etwa, wie ein Globus herzustellen wäre (V. 47–78). Der Vers bedeutet also: »Unter diesem Lehrer machte ich Fortschritte, indem er mir die Himmelskugel zeigte.« 15

[13] 

Auch S. 126, V. 146 ist die Lesart von B wohl abzulehnen: In A lesen wir (angesprochen ist eine Jagdgesellschaft, die aus Angst vor einem Unwetter wieder umkehren will): »ite bonis avibus [...] / ite bonis canibus [avibus B]« (V. 145 f.). Vermutlich steckt hier irgendein Witz hinter dieser Variation, vielleicht eine Anspielung auf den Hundsstern, der bekanntlich Hitze bringt (was in den Kontext einigermaßen passen würde), denn woher soll die Lesart canibus kommen, wenn nicht von Balde? Entweder handelt es sich bei der Lesart von B (avibus) um eine Aberratio oculorum, oder aber der Herausgeber von 1729 hat canibus nicht verstanden und mithilfe des vorhergehenden Verses emendiert.

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Auch S. 186, V. 96 ist die Entscheidung für B nicht stichhaltig: »Marmoreis quondam statuis ornamur (donamur A), et aris.« Zum Ausdruck aliquem donare statua vergleiche man Balde Diss. stud. poet. Kap.8 (= Op. omn. [Anm.2] 3,325), wo es ebenfalls um Dichter geht. Hier sollte man die Lesart des Leitdrucks übernehmen, es sei denn, man kann plausibel machen, dass die B-Variante doch auf ein Autormanuskript (oder eine Autorverbesserung) zurückgeführt werden kann.

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Die Emendationen sind treffend (z. B. Lucaribus auf S. 162). Besonders hervorzuheben ist Wolfgang Schibels Coniectura palmaris zu S. 150, V. 131 buxumque statt luxumque. Die dazu gehörende Argumentation im Kommentar (S. 326) ist schlagend. Überflüssig erscheint dem Rezensenten hingegen die Korrektur quod loquor für überliefertes quod loquar (A und B) (S. 68, V. 63), 16 da Balde häufig den Konjunktiv in Nebensätzen setzt, für die unsere Schulgrammatik den Indikativ vorschreibt, 17 so eben (für unser Empfinden) auffällig häufig wie hier in faktischen quod-Sätzen. 18 Problematisch ist auch die Emendation Deum (S. 82, V.106), wo man in A Deam, in B das unmögliche Denm liest. Hier ist wohl einfach Deam von A zu übernehmen, das Distichon lautet nämlich: Virgo, tamen Virgo est, et vultu Mater eodem. / Ex illo scires non sterilem esse Deam (V. 105 f.). Die Bezeichnung Mariens als Dea ist damals üblich, und der Vers ergibt in dieser Form einen einwandfreien Sinn. Verführerisch wirkt die Verbesserung linguae auf S. 148, V. 94: »Nam quoties [sc. auris] linguae tetra venena bibit!« Aber der überlieferte Ablativ lingua (A, B) lässt sich durchaus halten: Bei bibere kann der Ort, aus dem getrunken wird (Gefäß, Gewässer, Quelle), mit einem bloßen Ablativ angegeben werden (vgl. ThLL II 1963,13–1964,4), was Balde hier kühn, aber durchaus innerhalb der Möglichkeiten des Lateinischen ausnützt.

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Die Übersetzung

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Die Übersetzung ist gut lesbar und, was man zumal bei diesem schwierigen Autor nicht genug hervorheben kann, nahezu fehlerfrei. Hier merkt man, dass viel Zeit und Mühe darauf verwendet wurde, die Übertragung auszufeilen. Wenn man von dieser Leistung auch nur mit gezogenem Hut reden darf, so seien dennoch einige kleine Beanstandungen erlaubt:

[18] 

Die Subjunktion dum bedeutet nicht nur ›während‹ (wie überhaupt viel zu oft zu lesen ist), sondern auch ›indem‹, so auch auf S. 2, Z. 27 f. (hier parallel zu dem instrumentalen Ablativ circumveniendo), S. 36, Z. 34 und S. 38, Z. 5–7. Die Prädikativa inconstantes ac leves (S. 4, Z. 11) können nicht bedeuten »[die Sinne] werden unstet und leichtfertig«, sondern: »[die Sinne], weil sie unstet und leichtfertig sind usw.«. Die anaphorischen qua auf S .6, Z. 11 f. sind als instrumentale Ablative auf fiducia zu beziehen (›Selbstvertrauen, mit dem‹, nicht »zu dem«). 19 sancte jucundi auf S. 12, Z. 33 kann sich nicht auf Apologus beziehen, sondern nur auf den Genitiv D. Francisci.

[19] 

Auf derselben Seite, Z. 36, kann fabula nicht die Bedeutung ›Fabel‹ haben, da hier ein Bezug auf Ovids Metamorphosen vorliegt; gemeint ist einfach ›Geschichte‹. Den Ausdruck simplex epistolaris stylus mit »direkter Stil von Briefen« wiederzugeben (S. 38, Z. 5), ist missverständlich; simplex bezeichnet ›einfache Nüchternheit‹. Die schmeichelnden Werber um Liebesgunst verstehen sich auch nicht darauf, die Zustimmung der Geliebten zu »erpressen« (extorquere), sondern ihr ›endlich zu entwinden‹ (S. 38, Z. 10). »Hîc et Parrhasij renovant fallacia vela« (S. 78, V.3 7) bedeutet nicht »Hier arbeitet man wieder die täuschenden Segel des Parrhasios auf Leinwand nach«: Die vela bezeichnen hier den Vorhang aus der bekannten Geschichte von Parrhasios und Zeuxis, von Segeln kann keine Rede sein; vgl. auch die korrekte Erläuterung der Anspielung im Kommentar (S. 245). Wenn Urania den werbenden Dichter mit der Begründung ablehnt, dass das Leben der Dichter eine fabula sei (S. 190, Synopsis 1), so ist damit nicht gemeint, dass es »Stadtgespräch« ist, sondern einfach, dass sie ein Leben fingieren, wie auch aus S. 192, V. 1–24 hervorgeht.

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Der Kommentar

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Der Kommentar beschränkt sich programmatisch (vgl. S. xliii) auf die Erklärung von Realien und das Aufspüren von Belegstellen und Similien. Wo nötig, werden auch Probleme erläutert, die den Wissenschaften der damaligen Zeit entstammen und deren Erläuterung für das Verständnis des Textes notwendig ist. Dagegen handelt es sich nicht um einen durchgehenden hermeneutisch-interpretatorischen Kommentar: Zum einen steht hierzu bereits sehr viel in der vorzüglichen Einleitung, zum anderen wäre dies angesichts von Umfang und Komplexität des zu behandelnden Textes unmöglich gewesen.

[22] 

Die Belegstellen und Similien werden nun in einer verblüffenden Vielzahl zur Verfügung gestellt, so dass für den Benutzer keine Wünsche offen bleiben: Hier wurde mit erstaunlichem Fleiß jede noch so versteckte Parallele geradezu im Wortsinne ausgegraben, so dass der Rezensent (seines Zeichens Klassischer Philologe), dem beim Lesen des Textes die eine oder andere Stelle aus einem antiken Autor einfallen mochte, immer wieder resigniert feststellen musste, dass in Heidelberg schon alles entdeckt worden ist. 20 Zu bemängeln wäre allenfalls, dass die (eindeutigen) Similien nicht unterhalb des Textes als Similienapparat gegeben wurden; im Kommentar mit seinen guten Beobachtungen wirken sie wie positivistische Fremdkörper.

[23] 

Der einzige grundsätzliche Vorwurf, den man gegen den Kommentar erheben kann, ist der völlige Verzicht auf die Benutzung des Thesaurus Linguae Latinae oder frühneuzeitlicher Lexika. Auf diese Weise wären etwa Vermerke wie »expallens] Das Kompositum zu palleo ist nicht in OLD oder Georges zu finden.« (S. 289, V. 222) zu vermeiden gewesen. Gerade bei einem solchen Verb, das nach ThLL s.v. nur bei Priscian belegt ist, wäre es interessant, ob es in barocken Lexika erscheint und woher Balde es überhaupt kennen konnte. Hier steht aber überhaupt (für Balde wie für alle neulateinischen Autoren) noch ein weites Betätigungsfeld offen.

[24] 

Wie der Rezensent aus eigener Erfahrung weiß, führt ein großer Fluss notwendigerweise gelegentlich Schlammspuren mit sich; hier sei nur auf grundsätzliche Probleme allzu großer, wenn auch staunenswerter Gelehrsamkeit hingewiesen: Bei den Belegstellen wird zuweilen Selbstverständliches belegt; so ist es unnötig, zu dem Lemma membrum (S. 220) eine Definition bei Cicero anzuführen, wenn membrum an der in Frage stehenden Stelle (S. 56, V. 12) einfach »Körperteil« bedeutet; auf S. 226 wird eine Lukrez-Stelle (zu V. 105) zitiert, um ›Spiegel‹ (speculum) zu definieren. Ebenso trägt es wenig zur Erläuterung bei, wenn der Gesichtssinn auf seine utilitas verweist (S. 56, V. 16) und der Leser im Kommentar auf eine Plautus-Stelle »zum ›Nutzen‹ der Augen« verwiesen wird (S. 220): Sollte Balde wirklich just an diese Stelle gedacht haben, als er seinen Visus eine solche Trivialität formulieren ließ? Zum Lemma ex pharetra ...tela bedarf es keiner Belegstelle, mit der man nachweist, dass Pfeile aus einem Köcher genommen werden (S. 222). Hier hätte nach der arbeitsreichen Inventio also vieles ohne Verlust der aussondernden Dispositio zum Opfer fallen dürfen. 21

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Andererseits rechnet der Kommentar offenbar mit einem hochgebildeten Leser, der bestimmte Anspielungen sofort versteht. Zumindest für den Rez. wären aber bei folgenden Formulierungen Belege hilfreich gewesen: »Der Blick als Waffe und dgl. auch verbreitet in erotisch-petrarkistischer Lyrik.« (S. 222, V. 41); »eine aus Platon (Phaidon) von den Kirchenvätern vielfältig aufgegriffene Vorstellung« (S. 224, V. 88); »Die Verspassage ähnelt in einzelnen Formulierungen dem Genre des erotischen Tageliedes« (S. 225, V. 96); »Formeln des gegenseitigen Versprechens bei Eheschließungen, so gelegentlich auch in pastoraltheologischen Handbüchern angegeben« (S. 227, V. 134); »Im humanistischen Schuldrama des 16. Jahrhunderts spielt der Stoff von der ›Keuschen Susanna‹ eine wichtige Rolle.« (S. 269, V. 189).

[26] 

Zuweilen machen es sich die Kommentatoren unnötig schwer: So ist es unproblematisch, unter Cyprigena Venus zu verstehen (S. 259, V. 46), wenn man sich Bildungen wie terrigena, nubigena oder Baetigena (Silius Italicus, Punica 9,234) vor Augen hält. Auch wenn es instruktiv ist, für bene vivere zwei Parallelen zu zitieren, um zu belegen, dass der Ausdruck »ethisch konnotiert« ist (S. 258, V. 26), so ist es dennoch unnötig, da dies die normale Bedeutung dieser Junktur ist. Der Akkusativ Scaldim (S. 262, V. 102) ist der reguläre 22 und daher nicht kommentierungswürdig. Das Verb inducere hat nicht nur an einer einzigen Stelle die Bedeutung »(Farben) auftragen« (S. 264, V. 133), vgl. Oxford Latin Dictionary s.v. 16.

[27] 

Mitunter finden sich, ein typischer morbus commentatorum, Überinterpretationen, so heißt es zu der Formulierung »virtutem gratia vincit«: »Wohl gegen Luther gerichtete theologische Polemik.« (S. 349, V. 189). Weder geht es an der Stelle um Theologie, noch handelt es sich um einen so speziellen Gedanken, dass man hier an eine entsprechende Anspielung denken könnte. 23 Schwer nachzuvollziehen ist auch, dass hinter Gallus in dem Vers Quo Gallus Corybas Cybeleia tympana pulsans (S. 194, V. 57) mehrere Bedeutungsebenen verborgen sein könnten, indem der Ausdruck auch auf den Elegiker Cornelius Gallus und die französische Dichtung referieren soll (S. 368). So werden auch an einigen wenigen weiteren Einzelstellen Bedeutungsebenen in den Elegientext hineingelesen, die dort nur schwer zu finden sind. Solche Deutungen hätte man vielleicht besser in einem Aufsatz vorgetragen, also an einer Stelle, wo man seine Position ausführlicher und überzeugender begründen kann.

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An einigen Stellen ist der Rezensent, was bei einem solchen Opus maximum nicht ausbleiben kann, anderer Meinung: Mit »jonico stylo« (S. 12, Z. 1 f.) ist wohl nicht ein klassischer Stil (S. 208) gemeint (diese Bedeutung von ionicus ist zumindest dem Rezensenten in dem hier vorliegenden Zusammenhang unbekannt), sondern Balde spielt wohl auf Ionien als das Ursprungsland der Elegie an. Mit Lucia (S. 74, V. 189) ist wohl einfach die gleichnamige Heilige gemeint (nicht erwähnt im Komm. ad loc., S. 241), wie auch Uranias im folgenden Vers ausgesprochene Drohung, sich die Augen herauszureißen, zeigt. Wenn der Maler Cinna Urania ein Selbstporträt schickt mit den Worten, dass »das Bild liebe«, so handelt es sich nicht um eine »paradoxe Hyperbel im Ähnlichkeitsanspruch« (S. 243, V. 9 f.), sondern um eine, wenn auch ungewöhnliche Metonymie (Darstellung für Dargestelltes), also um einen Kontiguitäts-, nicht Ähnlichkeitstropus. Wenn Apelles i.S.v. ›(großer) Maler‹ verwendet wird (S. 261, V. 85), so liegt keine Antonomasie vor, sondern eine Vossianische Antonomasie (die streng genommen keine Antonomasie, sondern eine Metonymie ist). In dem Ausdruck aliquem metro contexere nodum (S. 196, V. 91) bedeutet nodus wohl nicht als dramentechnischer Terminus technicus ›Handlungsknoten, Verwicklung‹ (S. 369), sondern einfach die Verknüpfung (nämlich von Wörtern zu einem metrisch gebundenen Vers); vgl. Manilius, Astronomica 2,757 mit Alfred E. Housmans Komm. ad loc. und Cicero, Orator 222.

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Unkommentiert ist leider der schöne Ausdruck Jovis cerebrum (S. 14, Z. 15) geblieben, der so viel bedeutet wie ›Delikatesse‹ (vgl. August Otto: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer. Leipzig 1890, s.v. Iuppiter 4). Bei der Erwähnung von Baldes Batrachomyomachia (S. 254 unten) fehlt der Verweis auf die jüngst erschienene kommentierte Ausgabe von Veronika Lukas. 24

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Abschließend noch eine prinzipielle Bemerkung zu einem Lemmakommentar (S. 211, V. 22): »propudiosè] Seltenes spätlateinisches Wort (Gellius, Apuleius), kennzeichnend für Baldes gerade in der Lexik oft manieristisches Stilkolorit.« Abgesehen davon, dass die Zuordnung der beiden genannten Autoren zum Spätlatein ungewöhnlich ist (und eine Erläuterung benötigte), sei vor allem darauf aufmerksam gemacht, dass man die damalige poetische Produktion nicht mithilfe unserer heutigen Stilurteile bewerten darf. Ein Blick in die zeitgenössischen Schullexika zeigt, dass hier unterschiedslos Wörter aus verschiedenen Epochen des antiken Lateins versammelt werden. Daher kann man nicht aus der Lexik eines Textes auf seine Stilzugehörigkeit (barock, klassizistisch, manieristisch) schließen.

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Überhaupt hat man sich zu sehr daran gewöhnt, Balde als Manieristen zu sehen und allenthalben concettistische Spielereien und Verrätselungen zu entdecken. So bezeichnen die Kommentatoren den Ausdruck »lacero centone« (»zerschlissener Lumpenrock«) als »pleonastische, barock-überladene Formulierung« (S. 351, V. 215). Die Bestimmung eines Substantivs durch ein Adjektiv, dessen Bedeutung im Begriff des Bezugswortes schon enthalten ist, findet sich aber bereits in der klassischen antiken Dichtung. 25 Es handelt sich hier um das Stilmittel des poetischen Epithetons; vgl. die theoretischen Äußerungen bei Aristoteles (Rhetorik 3,3,3, 1406a) und Quintilian (Institutio oratoria 8,6,40), die diese Form des Epithetons speziell den Dichtern zuweisen. Zur methodisch einwandfreien Beurteilung solcher Stilelemente müssten freilich neben den antiken Theoretikern auch die barocken Poetiken herangezogen werden.

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Fazit

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Die Heidelberger Baldegemeinde hat hier ein Werk vorgelegt, das den Ansprüchen an einen Kommentar samt Einleitung, Text und Übersetzung ausnahmslos gerecht wird und somit eine so zuverlässige wie bedeutsame Grundlage zur weiteren Beschäftigung mit dem Werk des späten Balde liefert. Besonders herausragende Einzelteile sind Einleitung, Übersetzung und die Similienpartien des Kommentars. Es bleibt zu wünschen, dass auf diese kenntnisreiche und ehrgeizige Art und Weise auch in Zukunft neulateinische Werke dem Spezialisten wie dem Laien erschlossen werden. Die oben vorgetragenen kritischen Bemerkungen zu Einzelstellen können dieses positive Urteil nicht entwerten, sie sollen vielmehr als erste Schritte der Rezeption dieser eindrucksvollen Arbeit verstanden werden, über die Balde das letzte Wort sprechen soll: justum opus et lauro dignum.


Prof. Dr. Thorsten Burkard
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Institut für Klassische Altertumskunde
Leibnizstr. 8
DE - 24118 Kiel

Ins Netz gestellt am 14.10.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Gernot Michael Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Thorsten Burkard: Briefe an die Seele. Der Elegienzyklus des deutschen Horaz. (Rezension über: Lutz Claren u.a. (Hg.): Jacob Balde SJ. Urania victrix. Liber I-II - Die siegreiche Urania. Tübingen: Max Niemeyer 2003.)
In: IASLonline [14.10.2004]
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Anmerkungen

Eckard Lefèvre (Hg.): Balde und Horaz. (NeoLatina 3) Tübingen 2002; Iacobus Balde: Liber Epodon. Hg. von Ulrich Winter. München, Leipzig 2002.   zurück
Leider geht aus der dortigen Formulierung nicht deutlich genug hervor, ob Lutz Claren für den Text (also die editorischen Entscheidungen) alleine verantwortlich ist; daher ist im Folgenden immer von »den Herausgebern« die Rede.   zurück
Jacob Balde SJ: Opera poetica omnia. Bd.1–8. München 1729. Nachdruck, hg. und eingel. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. (Texte der Frühen Neuzeit 1) Frankfurt/M. 1990.   zurück
Wolfgang Beitinger und Wilfried Stroh (Anm.8) verzeichnen gerade einmal fünf Titel unter der Urania Victrix (S. 56*-57*); vgl. auch die Einleitung des Recensendum, S.viii Fußn.2.   zurück
Jacob Balde (Anm. 3), 5,1–240.   zurück
Zur Rechtfertigung durch die Herausgeber vgl. S. xxxix mit Fußn. 77.   zurück
Diese muss offenbar bedauernswerterweise als verschollen gelten, vgl. S. viii Fußn. 2 in der Einleitung von Wilhelm Kühlmann.   zurück
Wolfgang Beitinger / Wilfried Stroh: Bibliographischer Anhang. In: Hans Pörnbacher / W.S. (Hg.): Georg Westermayer: Jacobus Balde [...]. München 1868. Amsterdam, Maarssen 1998, S. 15*-71*, hier S. 24*.   zurück
Den souveränen Überblick über die Literatur dokumentieren etwa die reichhaltigen Fußnoten.   zurück
10 
Diese liegen von Wilhelm Kühlmann ediert vor in: Euphorion 76 (1982), S. 133–155.   zurück
11 
Dazu ist zu vergleichen Diss. stud. poet. Kap.70 (= Op. omn. [Anm.3] 3,352 f.).   zurück
12 
Allerdings wäre eine Monographie über das Verhältnis der zu Baldes Lebzeiten entstandenen Drucke zu der Münchener Gesamtausgabe von 1729 ein Desiderat, da deren Herausgeber behaupten, auch Manuskripte Baldes verwendet zu haben. Auch wenn diese Aussage in der Balde-Forschung nicht allzu ernst genommen wurde, ist der Rez. in seiner bisherigen Auseinandersetzung mit der Balde-Überlieferung wiederholt auf Stellen gestoßen, die zumindest Zweifel wecken bzw. den Verdacht entstehen lassen, dass die Münchener Herausgeber zum Teil eigenmächtig eingegriffen haben (z. B. bei den Titeln). Daher seien hier die Stellen angeführt, an denen A (Ed. 1663) und B (Ed. 1729) in auffälliger Weise voneinander abweichen: hac primâ parte A vs. hisce Elegis B (S. 4, Z. 21); fragmentis B (sicherlich korrekt) vs. fractis A (S. 14, Z. 27); quàm sapiat B vs. quod sapiant A (S. 54, Z.18); Anne A vs. Tune B (S. 120, V. 35); avibus B vs. canibus A (S. 126, V. 146) (s.o. im Haupttext); torta B vs. tocta A (S. 148, V. 89); eripiere B vs. eriperere A (S. 160, V. 136); ornamur B vs. donamur A (S. 186, V. 96) (s.o. im Haupttext); curas A vs. cures B (S. 202, V. 223).    zurück
13 
Weitere Beispiele für die Interpunktion: S. 58, V. 23 und V. 51; S. 62, V. 125; S. 86, V. 191 (eine wohl überflüssige Emendation); S. 132, Z. 14; S. 48, V. 81 (eine überflüssige Emendation); für die Orthographie: S. 96, V. 130 (überflüssige ›Emendation‹ foedae für faedae; hier hätte man stillschweigend ›korrigieren‹ können).   zurück
14 
Überraschenderweise wird auf S. 136 zweimal die heute unübliche Graphie -ijs von B (statt -iis in A) übernommen (V. 45 und 46). Da es sich um den Anfang von Buch 2 handelt, lässt sich vermuten, dass hier vielleicht der Editor wechselte.   zurück
15 
Zur hier geforderten Bedeutung von sphaera vgl. Op. omn. (Anm. 3) 4,130. 233. 261 (»Contemplabatur Sphaerae mirabile textum«).   zurück
16 
Leider werden die Eingriffe der Herausgeber im Kommentar (oder an anderer Stelle) fast nie erläutert; nur an einer Stelle (S. 150, V. 131) wird der auctor coniecturae genannt. Zu Recht werden übrigens Andrée Thills Konjekturen nicht übernommen (S. 92, V. 53; S. 100, V. 225 und V. 233; S. 110, V. 146 und V. 169).   zurück
17 
Man sollte überhaupt vorsichtig damit sein, neulateinische Autoren mit unserem grammatischen (Un)Wissen zu messen. So wundern sich die Herausgeber darüber, dass Balde dummodo non statt dummodo ne schreibt (S. 346, V. 139): Woher wollen wir denn wissen, dass Balde die Unterschiede zwischen eventualem und volitivem Konjunktiv (bzw. Nebensatz) so klar waren?   zurück
18 
Vgl. dazu in der Urania selber S. 4, Z. 14 und Rez.: Jacob Balde: Dissertatio de studio poetico. Einleitung, Edition, Übersetzung, Kommentar. (Münchner Balde-Studien 3) München 2004, S. 234 (Komm. zu quòd ... exspectet).   zurück
19 
Sehr zu erwägen ist allerdings die Emendation von qua in quam in den beiden Sätzen qua intra eqs. und qua erudita eqs.   zurück
20 
Nur an einer Stelle ist es dem Rez. gelungen, eine treffendere Parallele zu kennen: Bei parce precor (S. 342, V. 99) ist wohl eher auf Horaz, Carmina 4,1,2 als auf Juvenal zu verweisen.   zurück
21 
Ähnliche wenig instruktive Parallelen finden sich etwa: S. 224, V. 88; S. 225, V. 93, 95, V. 94; S. 226, V. 111, V. 112 (zweimal), V. 117, V. 120 (zweimal); S. 227, V. 131; S. 228, V. 10; S. 229, V. 23; S. 243, V. 2; S. 251, V. 120; S. 252, V. 126, V. 132, S. 253, V. 152; S. 260, V. 62; S. 262, V. 104; S. 263, V. 127; S. 273, V. 31.   zurück
22 
Vgl. Hans Rubenbauer / Johann Baptist Hofmann: Lateinische Grammatik. Neu bearbeitet von Rolf Heine. Bamberg u.a., 12. Aufl. 1995, § 38.   zurück
23 
Zur Antithese virtus vs. gratia vgl. etwa Seneca, Epistulae 76,6; vgl. auch Sallust, Bellum Iugurthinum 25,3: »ita bonum publicum, uti in plerisque negotiis solet, privata gratia devictum.«   zurück
24 
Veronika Lukas: Batrachomyomachia [...] Ausgabe des ersten Buches, Übersetzung, Kommentar. (Münchner Balde-Studien 2) München 2001.   zurück
25 
Vgl. umida vina und dentes albi bei Vergil (Georg. 3,364; Aen. 11,681).   zurück