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Deshalb brauchen wir eine
Kafka-Faksimile-Ausgabe

Eine Antwort der Literaturwissenschaft
an die Editionspraxis

  • Malte Kleinwort: Kafkas Verfahren. Literatur, Individuum und Gesellschaft im Umkreis von Kafkas Briefen an Milena. (Epistemata Literaturwissenschaft 492) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 264 S. 20 s/w Abb. Geheftet. EUR (D) 29,00.
    ISBN: 3-8260-2694-2.
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Kafkas Manuskripte

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Wer Kafkas Schreiben verstehen will, muß seine Manuskripte lesen. Sein Ringen um Literatur läßt sich nachvollziehen in der Lektüre seiner Schreibprozesse. Das Stocken des Schreibens ist dessen konstitutiver Bestandteil, ebenso wie Streichungen, Überschreibungen, Umschreibungen, Neuanfänge und Wiederaufnahmen von Erzählsträngen, thematischen Kohärenzmustern und literarischen Gestalten. Jeder Versuch der Übersetzung dieser komplexen Schreibprozesse in die gedruckten Buchstaben einer historisch-kritischen Ausgabe muß mit dem Verlust relevanter Information leben. Faksimile-Ausgaben reduzieren diesen Verlust auf ein Minimum, weil sie nicht primär lesbare Texte herstellen wollen, sondern das Schreiben in seiner Materialität dokumentieren. Doch stellt sich seit einiger Zeit die Frage, ob diese aufwendig hergestellten Faksimile-Ausgaben auch gelesen / ›genutzt‹ werden, ob die Literaturwissenschaft für die Handschriften angemessene Fragestellungen entwickelt. 1 Welches neben dem dokumentarisch-archivalischen Forschungsinteresse 2 befriedigt eine Faksimile-Ausgabe der Texte Kafkas?

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Kafkas Verfahren

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Malte Kleinwort entwickelt in seinem Buch Kafkas Verfahren. Literatur, Individuum und Gesellschaft im Umkreis von Kafkas Briefen an Milena eine literaturwissenschaftliche Fragestellung an die Manuskripte:

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Die Studie versucht, für das den aktuellen Stand der Editionswissenschaft widerspiegelnde Editionsprojekt der Franz Kafka Ausgabe (FKA), das die Faksimiles im Verbund mit einer diplomatischen Umschrift bietet, eine angemessene literaturwissenschaftliche Praxis zu finden. (S. 12)
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Auf ein solches Projekt wartete die Literatur- und Editionswissenschaft seit Erscheinen des ersten Bandes (Der Process 1995) dieser nicht nur in der Fachöffentlichkeit viel diskutierten Ausgabe. Im Zentrum der textgenetischen Untersuchung von Malte Kleinwort stehen die Briefe Franz Kafkas an Milena Jesenská und Texte aus dem Jahr 1920, die mit Aufzeichnungen von 1910–12 und 1916 / 17 verglichen werden. Zu allen drei Zeitpunkten befindet sich Kafka in einer Schreibkrise, aus der heraus er mit Hilfe bestimmter Verfahren den Weg zur Literatur findet. Kleinworts Erkenntnisinteresse richtet sich auf den den Texten inhärenten Produktionsprozeß und die in den Manuskripten dokumentierte Handschrift.

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Theoretischer Bezugspunkt seiner Studie sind Theodor Adornos Aufzeichnungen zu Kafka. 3 Das dort entwickelte Prinzip des »déjà vu« kennzeichnet auch Kafkas Texte, in denen das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum als verdrängtes Unheimliches immer wieder hervorbricht. Kafkas Texte sind, so Adorno, literarische Versuchsanordnungen der eingeschränkten Möglichkeit zu Individualität und Singularität in der spätkapitalistischen Gesellschaft. Der rote Faden von Kleinworts Lektüre ist dabei Kafkas Verfahren »einer einzigen die Texte Kafkas miteinander verbindenden charakteristischen Bewegung oder Kraft« (S. 15). Kafkas Verfahren, das sich auf die Auseinandersetzung mit Literatur richtet, schlägt sich nieder im Geschriebenen und im Gestrichenen wie auch in graphischen Auffälligkeiten. All dies läßt sich nur im Manuskript beziehungsweise an dessen Faksimile erkennen.

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In der Untersuchung von Kafkas Verfahren bringt Malte Kleinwort Literaturtheorie und philologische Praxis miteinander in Verbindung. Zugrunde legt er dabei einen erweiterten Textbegriff: Nicht nur der Schreibstrom gerät ins Stocken, sondern der Text selbst findet keinen Weg zwischen Aus- und Eingrenzung des Möglichen. 4 In Anlehnung an Adorno kann das »déjà vu« in den Momenten des Stockens das problematische Verhältnis des Einzelnen zu den Anderen thematisieren. Kafkas literarische Gestalten loten den Bedeutungsraum auf der Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft aus (zum Beispiel Jäger Gracchus oder der Kübelreiter). Theoretische Fluchtpunkte seines Schreibens sind Literatur, Individuum und Gesellschaft, in der Schreibpraxis vermittelt durch die Personalpronomen er, ich und Du. In diesen drei Fluchtpunkten sieht Kleinwort das Verfahren in wiederum drei Bedeutungen aufgefächert: »Das Verfahren als Methode hat als originären Fluchtpunkt die Literatur oder das er, das Verfahren als Prozeß das Individuum oder das ich und das Verfahren als Verirren die Gesellschaft oder das Du« (S. 17).

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Stockungen
und Wiederaufnahmen

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Fast zwei Jahre hat Kafka vor Beginn der Briefbeziehung mit Milena außer Aphorismen in Zürau 1918 und dem Brief an den Vater Mitte November 1919 nichts geschrieben. Wie konnte nach der langen Schaffenspause seit 1918 das Schreiben 1920 wieder in Gang kommen? Im Januar 1920 beginnt die »Reihe ER«, die symptomatisch für diese Schreibphase von der Aussichtslosigkeit geprägt ist (Kapitel 2). Kleinwort untersucht gewinnbringend die Streichungen: Gerade hier wird der Prozeß gegen das Individuum geführt, mit dem Durchstreichen wird auch jeder Versuch verhindert, den gewünschten Zusammenhang herzustellen.

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1910 / 11 verwendet Kafka für sein Schreiben zwei Oxforder Quarthefte, das eine überwiegend für literarische Einträge, das andere für autobiographische. Die textgenetische Untersuchung dieser beiden Hefte (Kapitel 3), die seit 2001 in der Franz Kafka Ausgabe (FKA) als Faksimile vorliegen, zeigt, wie eng verwoben literarische Arbeit und Tagebucharbeit sind. Die Fragmente zum kleinen Ruinenbewohner aus dem Jahr 1910 eröffnen Möglichkeitsräume des ich, die DU-Fragmente von 1910 / 11 Facetten des Du. Während es beim ich um immer wieder neu ansetzende und mißlingende Versuche der Selbstgewißheit geht, kreisen die Schreibversuche der DU-Fragmente um Selbstverwirklichung in der Beziehung zum Gegenüber. Im experimentellen Wechsel der Personalpronomen entwickelt Kafka zu diesem frühen Zeitpunkt sein Verfahren, im Urteil von 1912 kommt es zu einem Einschnitt. Georg Bendemann ist die erste Figur, in der das er als konsistente literarische Form erscheint.

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Einen weiteren Markstein in der Entwicklung von Kafkas Verfahren sieht Kleinwort in den im Herbst und Winter 1916 / 17 entstandenen Texten (Kapitel 4). In den Aufzeichnungen der Oktavhefte bewegt sich das Schreiben vom ich zum er, eine Bewegung, die sich Jahre später wiederholt: vom aussichtslosen Verfahren im Frühjahr 1920 über das Frankieren des Verfahrens im Sommer 1920 (Kapitel 5) zum einschränkenden Verfahren im Herbst 1920 (Kapitel 6). Dabei läßt sich ein Zusammenhang zwischen Briefen und literarischen Texten feststellen. Kafkas Briefe an Milena schließlich entwickeln Facetten des Du, die die Wiederaufnahme des Schreibens im Herbst 1920 ermöglichen.

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Zwischen den Texten von 1920, 1910–12 sowie 1916 arbeitet Kleinwort überzeugend Ähnlichkeiten beziehungsweise Schreibstrategien heraus. Stets handelt es sich um Krisen, die in Literatur münden: die er-Krise beziehungsweise die Krise des Verfahrens als Methode, die Du-Krise oder Krise des Verfahrens als Verirren von 1911 / 12 sowie die ich-Krise oder Krise des Verfahrens als Prozeß 1916 / 17. »Die drei Verfahren bilden aufgrund ihrer dialektischen Verwobenheit eine Textur, durch die Kafkas Texte als Versuchsanordnungen hindurchscheinen« (S. 233). Immer geht es um die Möglichkeit des Einzelnen, seine »Eigentümlichkeit« in der Gesellschaft zu leben. Jedem Text, das kommt in der textgenetischen Analyse der Manuskripte zum Ausdruck, ist zugleich sein eigenes Entstehen eingeschrieben. Noch die »unscheinbarsten Fragmente und Miszellen« lassen sich als »Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft« lesen, in den »Streichungen und Verwerfungen, den Umarbeitungen und Neuansätzen manifestiert sich bei Kafka eine Konstellation, in der Literatur und Theorie auf das Engste miteinander verknüpft sind« (ebd.). Mit dieser Erkenntnis leistet die Studie auch einen wichtigen Beitrag zur textgenetischen Forschung.

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Von der Liebe zum Detail.
Komplexe Schreibprozesse

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Kafka verwendet für sein Schreiben zuweilen mehrere Schriftträger gleichzeitig: Schulhefte unterschiedlichen Formats für literarische Aufzeichnungen, Tagebuchhefte, Briefe. Eine eindeutige Unterscheidung, was literarisches, was biographisches Schreiben ist, ist in vielen Fällen unmöglich. Peter Höfle bezeichnet dieses Phänomen treffend als »Enjambement der Schriftträger«. 5 Um die Wechselwirkungen zwischen Niederschriften an unterschiedlichen Orten nachzeichnen zu können, bedarf es jedoch nicht nur eines zu jedem Zeitpunkt der Untersuchung klar erkennbaren roten Fadens, sondern genau jener detaillierten Lektüre, die Malte Kleinwort als »Verirren im Detail« (S. 13) kritisiert.

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Eine detaillierte Lektüre, orientiert an einem leitenden Erkenntnisinteresse, ist meines Erachtens gerade für die Untersuchung komplexer Schreibprozesse unabdingbar. Dafür seien zwei Beispiele genannt:

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1. Kleinwort untersucht die Texte des Herbstes 1916 / 17 im Hinblick auf die Entwicklung von Kafkas Verfahren als Methode, allerdings ohne konkret zu erläutern, worin die Methode besteht: »Die Texte aus den Jahren 1916 / 17 belassen das er weitgehend in den Zusammenhängen des ich« (S. 125). Er analysiert Texte dieser Zeit, ohne sie genau in Zeit und Ort der Schreibprozesse zu lokalisieren. So kommt auch er wie viele andere vor ihm zu der eindimensionalen Schlußfolgerung, die für diese Schreibphase zentrale Aufzeichnung »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe« im Oktavheft B sei eindeutig dem Jäger Gracchus zuzuordnen. Aus der detaillierten Analyse des Schreibprozesses wird jedoch erkennbar, daß hier drei Instanzen verwoben sind: der reale Autor Franz Kafka als Urheber der Schrift, die Instanz des schreibenden Subjekts, das sich im Fixierungsvorgang der Schrift manifestiert, und der Ich-Erzähler. Der paradoxe Satz zeigt die Uneinholbarkeit des Schreibaktes als räumlich und zeitlich gebundener Vorgang der Singularität, der lesbare Spuren hinterläßt. Diese komplexe Inszenierung von Identität entgeht Kleinwort, weil er den Kontext dieses Satzes im Manuskript vernachlässigt.

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2. Kleinworts Aussage, die Briefe an Felice im Herbst 1916 erleichterten auch das literarische Schreiben, stimmt nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Als das Schreiben in den Oktavheften im Herbst 1916 einsetzt, wird die Briefflut, mit der Kafka Felice seit September 1912 überschüttete, merklich dünner. Offenbar bringt ihn der nach seiner Lesung in München einsetzende Zwist mit Felice in eine innere Distanz zu ihr, die sich als Voraussetzung seines Schreibens erweist. Nur elf Postkarten sind erhalten, Ende Dezember 1916 folgt ein längerer Brief, allerdings der letzte erhaltene für fast ein Jahr. Kleinwort weist zwar auf die Wechselwirkung unterschiedlicher Schriftträger hin, doch muß eine Untersuchung von Schreibprozessen quasi-archäologisch vorgehen: Für die Rekonstruktion der Schreibstrategien gibt es kein überflüssiges Detail. Die Herausforderung besteht darin, aus der Fülle an Einzelerkenntnissen Strategien oder Kohärenzmuster zu erkennen. Bei Kafkas Schreiben, das einen potentiell unabschließbaren, nicht immer linear verlaufenden Prozeß darstellt, ein schwieriges Unterfangen.

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Der rote Faden der Untersuchung Kleinworts verliert sich manches Mal vor dem Auge des Lesers. Die Ergebnisse der textgenetischen Lektüren der zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Aufzeichnungen stehen nebeneinander, deren Mehrwert für den Anspruch der Arbeit, die Entwicklung von Kafkas Verfahren nachzuzeichnen, könnte noch gewinnbringender ausgeschöpft werden. Das Buch gibt eine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Nutzen einer Kafka-Faksimile-Ausgabe. Für Kafka zentrale poetologische Verfahrensweisen werden nachgewiesen am physischen Schreibakt auf dem Papier. Bedauerlicherweise nimmt der Autor die Forschung zur Materialität des Schreibens nicht zur Kenntnis. 6 Daß die Arbeit an den Manuskripten für ein Verständnis der Texte Kafkas unabdingbar ist, ist eines der zentralen Ergebnisse der Untersuchung:

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Erst mit Kafkas Streichungen, seinen Randbemerkungen, mit den grafischen Eigenarten seines Schreibens wird der eigentümliche Kafka, wird sein Versuch, im Schreiben zum individuellen und literarischen Ausdruck zu gelangen, lesbar. (S. 234)
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Schreiben und Lesen
1910 – 1916 / 17 – 1920

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Ein Ergebnis der Studie von Malte Kleinwort ist das Nachzeichnen des wechselseitigen Einflusses von Lektüre und Schreiben. Offenbar verwickeln sich die Erzählstränge, erneute Umschreibungen finden auf einem anderen Schriftträger statt. Es wäre ein Desiderat der Kafka-Forschung, textgenetisch detailliert nachzuverfolgen, inwieweit die erneute Lektüre der Tagebücher von 1910 das Schreiben 1916 / 17 in den Oktavheften beeinflußt und wie sich die Re-Lektüre dieser Texte wiederum auf das Schreiben von 1920 auswirkt.



Anmerkungen

Ausgehend von seiner Beurteilung der Frankfurter Hölderlin Ausgabe stellt Axel Gellhaus fest: »Allerdings hat sich hier ein philologisch-technischer Perfektionismus entwickelt und verselbständigt, dessen wissenschaftlichen Wert man solange in Frage stellen darf, wie seine Resultate von der interpretierenden, textanalytisch orientierten Literaturwissenschaft nicht zur Kenntnis genommen werden. Und dies hat wohl seinen Grund darin, daß die Literaturwissenschaft noch gar nicht die Fragestellungen entwickelt hat, die mit Hilfe der philologischen Befunde beantwortbar wären« (Axel Gellhaus: Textgenese zwischen Poetologie und Editionstechnik. In: A. G. (Hg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994, S. 311–326, hier S. 315).   zurück
Roland Reuss: Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe. In: Einleitung zur Franz Kafka Ausgabe. Basel, Frankfurt / Main 1997, S. 9–24.   zurück
Theodor Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: T. A.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Band 10, 1 (Kulturkritik und Gesellschaft I) Darmstadt 1988, S. 254–287.   zurück
Eine klare Definition des Begriffes meidet er; worin genau der Unterschied zwischen Schreiben – Text – Manuskript besteht, erläutert Kleinwort bedauerlicherweise nicht. Auch die literatur- und editionswissenschaftliche Diskussion dieser Kategorien bleibt unerwähnt.   zurück
Peter Höfle: Von der Unfähigkeit, historisch zu werden. Die Form der Erzählung und Kafkas Erzählform. München 1998, S. 169.   zurück
Z.B. Martin Stingelin: »Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«. Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1999, herausgegeben im Auftrag der Lichtenberg-Gesellschaft von Wolfgang Promies und Ulrich Joost. Saarbrücken 2000, S. 81–98; George Bornstein / Theresa Tinkle (Hg.): The Iconic Page in Manuscript, Print and Digital Culture. Ann Arbor 1998.   zurück