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»Eine Art von Ausgleichung finden« 1

Goethe und das Zeitalter der Romantik

  • Walter Hinderer (Hg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik. (Stiftung für Romantikforschung 21) Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 524 S. Kartoniert. EUR 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-2303-3.
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Goethe, die Romantik
und kein Ende

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»Es ist über Goethe und die Romantik schon so viel gesagt, daß es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig, und doch ist dies die Eigenschaft einer der spannungsreichsten Kontroversen in der deutschen Literaturgeschichte, daß sie den Geist ewig anregt« 2 – so könnte man Goethes berühmtes Fazit aus seinem am 12. Mai 1815 im Morgenblatt für gebildete Stände erschienenen Aufsatz Shakespear und kein Ende auf sein bekanntermaßen ambivalentes Verhältnis zu den Dichtern der Romantik ummünzen. So ist denn auch seit dem späten 19. Jahrhundert, als Stephan Waetzold 1887 das Verhältnis zwischen Goethe und den Romantikern, hauptsächlich jener Jenenser Provenienz, in den Blick nahm, 3 das Trennende und Verbindende vor allem seitens der Goetheforschung immer wieder hinterfragt worden. Der 2002 von Hartmut Fröschle in seinem voluminösen Buch Goethes Verhältnis zur Romantik 4 vorgelegte Forschungsüberblick umfasst daher allein rund 150 Seiten zu diesem Thema.

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Im selben Verlag und im selben Jahr sind die von Walter Hinderer herausgegebenen Beiträge einer bereits 1999 in Princeton veranstalteten interdisziplinären und internationalen Tagung erschienen. Nicht weniger voluminös als Fröschles Studie versammelt dieser Band in den fünf Themenkreisen »Klassik und Romantik« (S. 17–148), »Philosophische und Literarische Perspektiven« (S. 149–241), »Goethe und die Künste« (S. 242–395), »Goethe und die Musik« (S. 397–471) und »Historische und Politische Aspekte« (S. 473–514) insgesamt 25 Beiträge, von denen, laut »Präludium« (S. 9–15) des Herausgebers, 21 erweiterte Tagungsbeiträge sind. Ursprünglich nicht Tagungsgegenstand waren demnach die Beiträge von Manfred Osten »›Alles Veloziferisch‹: Goethes Ottilie und die beschleunigte Zeit« (S. 213–229), von Dagmar Ottmann »Gebändigte Natur. Garten und Wildnis in Goethes Wahlverwandtschaften und Eichendorffs Ahnung und Gegenwart« (S. 345–395), von Dieter Borchmeyer »›Eine Art Symbolik fürs Ohr‹. Goethes Musikästhetik« (S. 413–446) sowie von Walter Hinderer »Goethe und Amerika« (S. 489–505).

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Lässt sich eine klare Frontstellung zwischen Goethe und den deutschen Romantikern, 5 wie es das bekannte Diktum des Dichterfürsten vom Klassischen als dem Gesunden und dem Romantischen als dem Kranken suggerieren mag, nicht aufrechterhalten, verschwindet die vermeintliche Trennschärfe in einem per se heterogenen Sammelband vollends, zumal Goethes Verhältnis zu romantischen Dichtern selbstverständlich auch einem Wandel unterlag. Aufgrund der skizzierten Ausgangslage kann man von diesem Sammelband ohnehin kaum Homogenität erwarten. Insofern erfüllt das vorliegende Buch durchaus seinen Zweck.

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Gleichwohl überzeugen, um ein erstes Fazit vorwegzunehmen, nicht alle Beiträge gleichermaßen durch neue Beobachtungen, ja der eine oder andere Beitrag (beispielsweise der von Stéphane Moses über Freuds Goethe-Traum [S. 231–241]) wirkt durchaus als Fremdkörper. Trotzdem bietet der Band Anregungen genug, die wechselvollen Begegnungen beider Literaturströmungen neu in den Blick zu nehmen. Schließlich war die Zeitgenossenschaft, wie der Band nachdrücklich deutlich macht, eben nicht nur geprägt durch eine Frontstellung zwischen ›sternbaldisierenden Klosterbrüdern‹ auf der einen und dem »wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden« auf der anderen Seite, 6 wie Novalis Goethe in seinem 106. Blütenstaubfragment bezeichnet. Vielmehr stand ein fruchtbarer Austausch im Zentrum, wie der Alte in Weimar im Gespräch mit Eckermann am 12.5.1825 selbst bekennt: »daß die Gebrüder von Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzutreten anfingen, war von der größten Wichtigkeit. Es sind mir daher unnennbare Vorteile entstanden.« 7 Und mit Blick auf den zweiten Teil des Faust stellt er am 16.12.1829 fest, dass »in den frühen Akten das Klassische und Romantische anklingt und zur Sprache gebracht wird, damit es, wie auf einem steigenden Terrain, zur Helena hinaufgehe, wo beide Dichtungsformen entschieden hervortreten und eine Art von Ausgleichung finden.« 8 Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, wie Hinderer im Anschluss an Nietzsche, von einer »klassisch-romantische[n] Personalunion Goethes« (S. 12) zu sprechen.

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Produkte der Rezeption

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Als Produkte eines Rezeptionsprozesses begreift Dieter Borchmeyer in seinem ersten Beitrag »Zur Typologie des Klassischen und Romantischen« (S. 19–29) die Begriffe »klassisch« und »romantisch«. Beiden gemeinsam »ist ihre hochgradige Polysemie und die ständige Überlagerung ihrer verschiedenen Verwendungsweisen.« (S. 20) Borchmeyer verweist in seiner luziden Darstellung auf die komplementäre Funktion des Wortes ›klassisch‹ zu ›romantisch‹ »im frühromantischen Diskurs« (S. 24) vor allem der Brüder Schlegel: »Deren Synthese ist wie für den späten Goethe eines der Ziele der Romantiker, das sie gerade in Goethes Dichtung erreicht sehen.« (S. 25)

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Ist Borchmeyers kurze Typologie des Klassischen und Romantischen überaus konzise, so gilt das leider nicht in gleichem Maße für Jacques Le Riders Analyse (S. 31–49) der Beziehung Goethes zur Farbe auf der einen und der Romantiker und ihrer Stellung zur Farbe auf der anderen Seite. Goethes Kritik an der Vermischung der Kunstformen – in der Einleitung in die Propyläen von 1798 – als einem Kennzeichen des Verfalls steht nicht nur das romantische Bedürfnis nach Synthese gegenüber, sondern Le Rider setzt zugleich Goethes Farbenlehre und seinen Kampf gegen die »›Entzweiung‹« (S. 35) der Kultur durch die Trennung von Wissenschaft und Kunst in Beziehung zur frühromantischen Newtonkritik. Die Fülle der Beziehungen, überdies durch Anmerkungen zu einer »[h]istorische[n] Anthropologie des Farbensehens und [einer] Kulturgeschichte der Farbenlehren« (S. 42–44), »[z]ur Homologie der semiotischen Systeme ›Tonsprache‹ und ›Farbensprache‹« (S. 45) sowie zur »Poetik der Farben nach Goethe« (S. 46–49) verstellt den Blick auf die ohnehin rhetorische Leitfrage: »War die Klassik farbenfeindlich und die Romantik farbengläubig?«

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Zentrale Märchen-Spuren

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Als wichtiger Bezugstext zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen den Romantikern und Goethe erweist sich dessen Märchen am Ende der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten sowohl mit Blick auf das Gegenwartsbewusstsein Goethes und der Romantiker als auch in der »staunenerregende[n]« (S. 66) Verwendung der Arabeske durch den ›Klassiker‹, jenes zentralen künstlerischen Gestaltungsmittels der Romantiker.

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Ist es in einem Fall Ingrid Oesterle, die anhand des Märchen-Losungsworts »Es ist an der Zeit!« die »kulturelle[ ] Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800« (S. 91–119) untersucht, so ist es im anderen Fall Christine Lubkoll, die in stringenter Argumentation das Verhältnis von »›Neue[r] Mythologie‹ und musikalische[r] Poetologie« untersucht, um »Goethes Annäherungen an die Romantik« über dessen musikalische Poetologie (S. 399–412) zu beschreiben. Neben der »musikalische[n] Mythopoetik« (S. 411), in Faust II theatralisch umgesetzt, beschreibt Lubkoll Goethes Märchen, Novalis’ Verständnis des Textes als einer erzählten Oper folgend, als »eine in lineare Sprache überführte musikalische Partitur« (S. 406). Verweist Lubkoll in ihrer Diskussion der frühromantischen Musikreflexion auf Friedrich Schlegels Strukturvergleich mit der Arabeske (vgl. S. 402 f.), so analysiert Günter Oesterle das »Faszinosum der Arabeske um 1800« (S. 51–70). Dabei greift er auf Wilhelm Heinses Anmerkungen über Jean Paul (S. 51–53) zurück, referiert Goethes 1789 im Teutschen Merkur publizierten Integrationsversuch durch dessen Aufsatz Von Arabesken (S. 54–56), erläutert überdies Philipp Otto Runges Technik des Medienwechsels beziehungsweise seine medialen Entgrenzungen mittels Arabesken (S. 57–61) und verweist auf die romantischen Entgrenzungen von Subjektivität etwa bei Ludwig Tieck und Edgar Allan Poe, um seine Darstellung schließlich in das »arabeske Zusammenspiel einer haptischen Raum- mit einer suggestiv-prophetischen Zeitimagination in Goethes Märchen« (S. 66–70) münden zu lassen: »Im Spiel zwischen Ornament und Arabeske eröffnet sich der klassizistischen Arabeske eine von der Romantik sich unterscheidende Provokation des Vertrauten, eine in Konkurrenz zum Erhabenen sich abzeichnende Möglichkeit, Staunen zu erwecken.« (S. 66)

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Jenen ästhetischen Reaktionen auf den veränderten Zeitbegriff um 1800 widmet sich Ingrid Oesterle, die ihre Beobachtung einer veränderten Zeitwahrnehmung an Goethes Märchen von 1795, an Novalis’ Klingsohr-Märchen aus dem Heinrich von Ofterdingen von 1800 und an Wackenroders Ein wunderbares Mährchen von einem nackten Heiligen aus den Phantasien über Kunst, für Freunde der Kunst aus dem Jahr 1799 verifiziert, zumal die Romantiker »die erste deutsche Literatengeneration« seien, »die in den Zeithorizontwechsel, den Begriffsgebrauchswandel und die von ihm indizierte Reflexivität von Gegenwart hineinwächst«, wobei »die Verzeitlichung in die Kunst selbst hineingetrieben« werde (S. 101). Nicht zuletzt der veränderte Gegenwartsbezug, indem diese mit einer zukunftsgerichteten »Aufbruchsdisposition« (S. 103) aufgeladen wird, kennzeichne die Modernität der Romantiker:

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Gerade diese futurische Überschreitung aber unterscheidet das romantische Jetzt vom klassizistischen prägnanten Moment, der die Möglichkeit einer Konzentration, einer Verdichtung, eines Höhepunkts, eines Maximums in der Zeit denkt, aber zeitlich nicht über sich selbst in die kommende Zeit hinausgeht. (S. 103)
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Goethes »Es ist an der Zeit«-Losungswort gewinnt so in der frühromantischen Literatur die Dimension einer Zeitenwende und erhält in Jean Pauls Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht alle »temporalen Modalitäten des Möglichen« (S. 119), während es in Goethes Märchen »strikt an die Insichgeschlossenheit des ästhetischen Spiels gebunden« (S. 107) bleibe.

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Zwischen Komplementarität,
Resignation und Ausgleich

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Während Gerhard Neumann (S. 71–90) anhand des Vergleichs von Romananfängen bei Novalis und Goethe den »Zerfall eines in der Transzendenz verankerten Weltordnungskonzepts« (S. 71) um 1800 erläutert und dabei anhand des Werther, der Theatralischen Sendung, des Heinrich von Ofterdingen und der Lehrlinge zu Sais die jeweilige Verlagerung »von Lebenssinn mehr und mehr aus einer transzendenten Instanz in die Verantwortung des lebenden Subjekts« (S. 86) in ihrer Komplementarität begreift, zeichnet Wilhelm Voßkamp (S. 121–131) pointiert Goethes »vielperspektivische[ ] Bandbreite zwischen Resignation, Polemik und Versuchen zum distanzierenden Ausgleich« (S. 121) mit der Romantik – nicht zuletzt in der Zeitschrift Über Kunst und Alterthum – nach.

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Demgegenüber folgt Alexander von Bormann – ausgehend von Eichendorffs Tafellied aus dem Jahre 1831 anlässlich von Goethes Geburtstag – der »Goetherezeption in der Hochromantik« (S. 133–148) und zieht das Fazit vorweg, es »ist schmal genug: Goethe wird zuerst als Naturpoesie, dann als Kunstpoesie, später wieder als Naturpoesie rezipiert.« (S. 133)

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Philosophische und
literarische Perspektiven

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Mit Gabriel Motzkins Versuch, »Goethes Theory of Memory« (S. 151–162) anhand seiner Wahlverwandtschaften zu erörtern, beginnt die zweite Abteilung dieses Bandes unter der weit gefassten Überschrift »Philosophische und literarische Perspektiven«. Die Beiträge in dieser Abteilung beleuchten nicht nur – wie Motzkin etwas oberflächlich – Goethes »memory« als »precondition for imagination« (S. 153), als »reexperience« (S. 154) wie auch seine Nähe zu einer »theory of symbol memory« (S. 162), während Liane Weissberg – nicht weniger oberflächlich beschreibend – Goethes Verhältnis zur »New Philosophy« (S. 163–174) in den Blick nimmt.

[20] 

In einem lesenswerten Beitrag analysiert David E. Wellbery »Goethes Lyrik und das frühromantische Kunstprogramm« (S. 175–192). Ebenfalls überzeugend liest sich der Beitrag von Gabriele Brandstetter, die »Schreibszenen« anhand der Briefe in den Wahlverwandtschaften (S. 193–212) untersucht. Während sich, wie eingangs gesagt, Stéphane Moses’ Ausführungen über Freuds Goethe-Traum als Fremdkörper in diesem Band ausnehmen, kommt der Essay von Manfred Osten »Alles Veloziferisch« (S.  213–229) über die beschleunigte Zeit durchaus erfrischend daher, wenn er im Faust »das Gleichnis für die Tragödie der Übereilungen der Moderne« (S. 215) gestaltet sieht.

[21] 

Anhand der 1774 entstandenen Prometheus-Ode und des im selben Jahr entstandenen Gedichts An Schwager Kronos zeigt Wellbery bei der hymnischen Dichtung Goethes eine zweifache Bewegung: zum einen eine »Poetik der Immanenz […], deren metaphysischer Inhalt von spinozistischen und hermetischen (d.h. letztlich neoplatonischen) Vorgaben geprägt ist«, und zum anderen das »autonome Ich, das nunmehr die Position des hergebrachten göttlichen Zentralsymbols besetzt«. Dies sei jedoch »auf eine weiblich-mütterliche Figur, die ihm seine schöpferische Leistung ermöglicht«, angewiesen (S. 187). Im Vergleich mit Hardenbergs Hymnen an die Nacht zeige sich nun »ein höchst bedeutsamer semantischer Wandel, den man als die endgültige Abschiednahme von der Natur als einem poetologisch relevanten Prinzip [Hervorhebung im Original, A.K.] beschreiben könnte.« (S. 188). Gemeint ist eine – so Wellbery – »Rechristianisierung der poetischen Form [...]. Denn das an Goethes Texten, womit die Romantik am entschiedensten bricht, ist die Insistenz auf Immanenz. Das romantische Kunstprogramm zielt auf die Wiedergewinnung der Transzendenz als eines authentischen poetischen Themas.« (S. 189; Hervorhebung im Original, A.K.)

[22] 

Brandstetter liest die Briefe innerhalb der Wahlverwandtschaften als »Performance des Mediums« selbst. Sie zeigten »die Praxis des Schreibens«, als Schrift den »Akt der Übertragung« (S. 206) und seien zugleich signifikante »Medien der Verfehlung« (S. 210).

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Alte Meister, Schattenrisse,
Ikonisierungen und vieles mehr

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Die Fülle der Aspekte, die die kunstgeschichtlichen Beiträge von Paolo Chiarini: »›Alte Meister‹ in klassisch-romantischem Kontext« (S. 245–263), von William Vaughan: »Goethe, Line and Outline« (S. 265–279), von Nicholas Boyle über »Goethe’s Later Cycles of Drawings« (S. 281–306), von Cordula Grewe über »Mignon als Allegorie des Poetischen« (S. 307–343) sowie von Dagmar Ottmann über die »Gebändigte Natur« (S. 345–395) in der dritten Abteilung im vorliegenden Sammelband nachzeichnen, kann hier nicht im einzelnen in extenso referiert werden, wie etwa Ottmanns ausführliche Darstellung des Verhältnisses von Garten und ungestalteter Natur in den Wahlverwandtschaften und Eichendorffs Ahnung und Gegenwart. Lesenswert und informativ sind die Beiträge dieser Abteilung jedoch allesamt.

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So geht Chiarini der teils gegensätzlichen Haltung von Friedrich Schlegel und Goethe zur deutschen Renaissance-Kunst nach, wobei Schlegel den Kunst historisierenden, »d.h. stark relativierende[n]« (S. 254) und regionalisierenden Goethe der Weimarer Preisaufgaben als »explizite[n] Gegner« (S. 251 ff.) seiner Bevorzugung der altdeutschen Künstler ausmache, die »›nicht minder groß und erfinderisch in der Mahlerkunst‹ waren als die Italiener und Griechen.« (S. 249 f.)

[26] 

Die gegensätzliche Ästhetik Friedrich Schlegels und Goethes nimmt auch Vaughan in den Blick, wenn er sich – ausgehend von der Lili Schönemann-Episode aus Dichtung und Wahrheit – deren Stellung zur Umrisszeichnung und deren Relation zur Imagination vergegenwärtigt (vgl. S. 268 ff.), von wo aus es wiederum nicht weit ist zur »notwendigen Arabeske«.

[27] 

Während Boyle sich dem Reise-, Zerstreuungs- und Trostbüchlein sowie den Radirten Blättern widmet, untersucht Grewe detailliert die »zunehmende Popularität von Mignon als Bildvorlage« (S. 314) in der Romantik, nämlich jene mit Novalis beginnende Rezeptionslinie, die Mignons Tod als Symbol der untergehenden Poesie begriff, bis sie schließlich in der Spätromantik – vor allem in der Düsseldorfer Schule, bei Schadow etwa – als »mystische[ ] Allegorie« (S. 321) wiederauferstand:

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Die Kunst der Spätromantik, insbesondere die Werke der Düsseldorfer Malerschule, stellen […] eine Herausforderung an jene kunsthistorischen Wertmaßstäbe dar, die nach Einheit, Geschlossenheit und Kohärenz suchen. Trotz ihrer Hybridität findet sich aber auch in der Spätromantik der Anspruch auf Ganzheitlichkeit, deren Unmöglichkeit zugleich mit gedacht wird. (S. 343)
[29] 

Eine »heitere Kunst schlechthin«: Musik

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Nicht weniger inspirierend als die Beiträge der dritten Abteilung sind die meisten Essays der Rubrik »Goethe und die Musik«, die mit dem oben bereits referierten Beitrag von Christine Lubkoll »›Neue Mythologie‹ und musikalische Poetologie« eröffnet wird.

[31] 

Seinen zweiten, gleichfalls instruktiven Beitrag in diesem Sammelband beendet Dieter Borchmeyer mit dem Satz: »Die Musik ist für Goethe die heitere Kunst schlechthin – heiter aber nur wie der Regenbogen auf dem ›dunklen Grund‹ der Melancholie« (S. 446), nachdem er Goethes Musikästhetik als »eine Art Symbolik fürs Ohr« luzide beschrieben hat (S. 413–446). Einmal mehr bringt er, um den Titel von Stefan Börnchens Besprechung des Sammelbandes Musik in Goethes Werk – Goethes Werk in der Musik 9 zu zitieren, den Basso continuo volltönig zum Klingen. Bei seinem souveränen Parforceritt konzentriert sich Borchmeyer »auf einige theoretische und dramaturgische Gesichtspunkte« (S. 417) und weist »zwei Traditionsbahnen« der Goetheschen Theorie der Musik nach: die eine führe »zur Idee der musica mundana zurück, die andere über die Gefühlsästhetik und Affektenlehre, in der auch Goethes ›Tonlehre‹ noch gründet, zur Katharsis-Vorstellung der Griechen.« (S. 442)

[32] 

Hans Joachim Kreutzer schließlich widmet sich der »Musik in Goethes Faust« (S. 447–458), wobei er unter anderem plausibel unterstreicht: »Die Ausmaße der musikalischen Anteile am Faust sind exorbitant.« (S. 449) Rund 19 Prozent des ersten und gar fast 24 Prozent des zweiten Teils der Tragödie seien »in irgendeiner Form mit Musik gedacht« (S. 449), so dass er mit Recht konstatiert: »der I. Teil des Faust [ist] ein musikalisches Drama, er ist nicht etwa ein Schauspiel mit Musik. Im Gang seiner Entstehung hat die Musikalisierung des I. Teils entscheidend zugenommen, im II. Teil wird das fortgeführt, aber in einem wesentlich anderen Stil. Dabei setzt Goethe neue, hochkomplexe multimediale Szenenformen ein.« (S. 451 f.)

[33] 

Weniger hochkomplex ist die bloße Sichtung der »Goethe-Lieder« einiger romantischer Komponisten, die Gioacchino Lanza Tomasi in seinem Beitrag (S. 459–471) vornimmt, wobei noch ärgerliche Fehler unterlaufen, wie überhaupt der Band an einigen Stellen (S. 154 f. oder 464 f.) leider etwas nachlässig lektoriert ist 10 und im Übrigen auch eines Registers ermangelt.

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Historische und
politische Aspekte

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Die letzte Abteilung des Bandes gilt, wie eingangs dargelegt, historischen und politischen Aspekten, wobei Marie-Claire Hoock-Demarle das Thema »Europa, die Frühromantik und der ›europäische‹ Goethe« (S. 475–487) in den Blick nimmt, während Walter Hinderer unter dem Titel »Goethe und Amerika« (S. 489–505) auf Goethes »Papierreisen in die Neue Welt durch die Optik der Alten« (S. 491) und Goethes ›huronische Existenz‹ (vgl. S. 493 f.) rekurriert. Abschließend widmet sich Johannes Willms der »Folgenlosigkeit Goethes« (S. 507), die »das nahe Ende der bürgerlichen Epoche« (S. 511) ankündige. Diese drei Skizzen klappen etwas nach, ohne den Band abzurunden, was angesichts des endlosen Endes aber auch gar nicht möglich erscheint.

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Fazit

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Sammelbände sind per se in sich meist heterogen, umso mehr bei einem solch weit gefassten Thema. Mit einigen Abstrichen gelingt es jedoch insgesamt, zwar nicht die von Goethe gewünschte Art von Ausgleich zu finden, aber in toto einen erneuten Fokus auf eine spannende Epoche zu richten. Insofern, um das eingangs vorweggenommene Fazit zu wiederholen, erfüllt der vorliegende Sammelband durchaus seinen Zweck.

 
 

Anmerkungen

Goethe im Gespräch mit Eckermann am 16.12.1829, worauf Walter Hinderer in seinem »Präludium« (S. 9-15) hinweist.   zurück
Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. I. Abt., Bd. 19: Ästhetische Schriften 1806–1815. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, S. 637.   zurück
Vgl. Stephan Waetzoldt: Goethe und die Romantik. In: S W.: Die Jugendsprache Goethes. Goethe und die Romantik. Goethes Ballade. Drei Vorträge. 2., vermehrte Aufl. Leipzig: Dürr’sche Buchhandlung 1903, S. 28–56.   zurück
Vgl. Hartmut Fröschle: Goethes Verhältnis zur Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 564 Seiten.   zurück
Noch schwieriger würde es, wollte man romantische Strömungen verschiedener Nationalphilologien einbeziehen. Vgl. hierzu die Rezension von Detlef Kremer: Die Entdeckung des Längstbekannten oder Romantik als Subversion. (Rezension über: Volker Kapp u.a. [Hg.]: Subversive Romantik. Berlin: Duncker & Humblot 2004.) In: IASLonline (13.06.2006). URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Kremer342811440X_1451.html. (Datum des Zugriffs: 27.02.2007).   zurück
Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch eine Berücksichtigung der Naturphilosophie oder einzelner romantischer Goethe-Anhänger wie etwa Carl Gustav Carus gewesen. Vgl. hierzu besonders Stefan Grosche: »Zarten Seelen ist gar viel gegönnt«. Naturwissenschaft und Kunst im Briefwechsel zwischen C. G. Carus und Goethe. Göttingen: Wallstein 2001; die Dissertation von Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus. Berlin, New York: de Gruyter 1995, sowie auch das Kapitel über Carus in meiner Dissertation: Zwischen Idylle und Tabu. Die Autobiographien von Carl Gustav Carus, Wilhelm von Kügelgen und Ludwig Richter. Dresden: Thelem 2002, vor allem S. 49 ff.   zurück
Goethe: Frankfurter Ausgabe (Anm. 2), II. Abt., Bd. 12: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 158.   zurück
So Hinderer in seinem »Präludium«, S. 12.   zurück
Vgl. Stefan Börnchen: Basso continuo mit Quintparallelen. Neue Lieder und alte Weisen auf das Thema »Goethe und die Musik«. (Rezension über: Andreas Ballstaedt / Ulrike Kienzle / Adolf Nowak [Hg.]: Musik in Goethes Werk – Goethes Werk in der Musik. 2., unveränderte Aufl. Schliengen: Edition Argus 2005.) In: IASLonline (11.12.2006). URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Boernchen393126422X_1016.html. (Datum des Zugriffs: 27.02.2007).   zurück
10 
Hierauf hat Benedikt Jeßing in seiner Besprechung des Bandes im Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 365–369, ebenfalls hingewiesen.   zurück