Jonas Grethlein

Narratologia, quo vadis?




  • Tom Kindt / Hans-Harald Müller (Hg.): What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. (Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie 1) Berlin: Walter de Gruyter 2003. X, 368 S. Gebunden. EUR 98,00.
    ISBN: 3-11-017874-5.


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Es ist mittlerweile ein locus classicus, daß am Beginn von narratologischen Veröffentlichungen und deren Besprechungen auf die erneute Blüte der Narratologie hingewiesen wird. Mehr und mehr Arbeiten widmen sich der erzähltheoretischen Analyse nicht nur des Romans, sondern auch lyrischer und dramatischer Gattungen; darüber hinaus wird die Narrativität anderer Medien von der darstellenden Kunst über Filme bis zur Musik diskutiert. Theorien wie der Feminismus oder Cultural Studies erheben zumindest den Anspruch, neue Narratologien zu entwickeln, und auch in anderen Fächern – es seien nur Philosophie, Geschichte und Psychologie genannt – genießt das »Paradigma der Narrativität« besondere Aufmerksamkeit. Umgekehrt ist innerhalb der Literaturwissenschaften versucht worden, andere Wissenschaften für die Narratologie fruchtbar zu machen und die Erzähltheorie auf ein neues theoretisches Fundament zu stellen; als prominentestes Beispiel erwähne ich kognitionswissenschaftliche Ansätze.

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Die hier skizzierte Dynamik wird aber nicht immer mit Begeisterung wahrgenommen. Traditionelle Narratologen befürchten, daß die methodische und inhaltliche Ausweitung zur Auflösung ihrer Disziplin führt. Angesichts dieser Situation präsentiert der hier besprochene Sammelband, der die Beiträge eines internationalen Kolloquiums der Hamburger Narratologie-Forschungsgruppe versammelt, nicht wie andere jüngst erschienene Sammelbände einen Überblick über das Spektrum narratologischer Ansätze, sondern stellt die Frage nach dem wissenschaftsgeschichtlichen, wissenschaftstheoretischen und systematischen Ort der Narratologie, kurz: What is Narratology?. Die 14 Beiträge des Bandes, der, von Tom Kindt und Hans-Harald Müller herausgegeben, der erste Band der neuen Reihe Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie ist, bieten nicht nur verschiedene Antworten auf die Frage, sondern auch ganz unterschiedliche Herangehensweisen. Ich möchte im folgenden vier Spannungsfelder skizzieren, die sich aus der Zusammenstellung der Aufsätze ergeben.

1. Definition der Narratologie durch
ihren Gegenstand oder als Disziplin?

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Die Schwierigkeit der Frage »What is Narratology?« zeigt sich bereits daran, daß nur wenige Beiträge es wagen, sie so klar zu stellen. Dennoch kristallisieren sich zwei grundsätzlich verschiedene Wege heraus, Narratologie zu definieren: Einige Beiträge bestimmen den Gegenstandsbereich der Narratologie. Gerald Prince gibt seine bekannte Formel wieder, eine Narration sei »the representation of one (or more than one non-randomly connected, non-simultaneous, and non-contradictory) transformation of one (or more than one) state of affairs, one (or more than one) event which is not logically presupposed by the transformed state and / or does not logically entail its transform.« (S. 5 f.). Wolf Schmid kombiniert die strukturalistische Tradition mit der deutschsprachigen Erzählforschung und definiert Narration in einem weiten Sinne durch die ›story‹, in einem engen Sinne durch die vermittelte Form der Darstellung. Als Charakteristikum der Narration (im weiten Sinne) entwickelt er den Begriff ›event‹.

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Fotis Jannidis dagegen hält den Begriff der Narrativität für eine wenig hilfreiche Abstraktion. Der Hauptfokus narratologischer Forschung richte sich nicht auf die ›story‹, sondern auf die Form der Repräsentation. Da diese aber spezifisch für Genera und Medien sei, könne Narratologie keine »self-sufficient metascience of its own« sein, sondern nur als »collective term for a series of specialized narratologies« dienen (S. 50). Obgleich Fotis Jannidis anders als Gerald Prince und Wolf Schmid den Modus der Darstellung ins Zentrum der Narratologie rückt, nähert auch er sich der Narratologie über ihren Gegenstandsbereich.

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Dagegen plädiert Jan Christoph Meister dafür, Narratologie als eine wissenschaftliche Disziplin zu definieren, als ein »object orientated system of scientific practices« (S. 58). Nicht auf den Gegenstandsbereich, sondern auf die Verfahren (»procedures«) und die Terminologie solle sich eine Definition stützen. Auch Tom Kindt und Hans-Harald Müller halten es in ihrem Beitrag für nicht fruchtbar, sich auf den Gegenstandsbereich zu konzentrieren (S. 214), und schlagen vor, die Narratologie mit anderen Ansätzen der Literaturtheorie zu vergleichen. Einen ähnlichen Weg verfolgen Matías Martínez und Michael Scheffel, wenn sie das Verhältnis von Narratologie und Fiktionstheorie analysieren. 1 Angesichts des Dissenses über den Gegenstandsbereich der Narratologie mag es einfacher erscheinen, sie als Disziplin zu definieren; aber auch ein solcher Zugang wird der Frage nicht entkommen, auf welche Objekte sich die Verfahren und Terminologie der Narratologie richten.

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Als ein weiterer wichtiger Aspekt zur Bestimmung der Narratologie erweist sich die Wissenschaftsgeschichte. Disziplinen sind nicht nur durch Gegenstand, Verfahren und Terminologie definiert, sondern stehen auch in Traditionen. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag verdeutlicht, wie wenig die Entwicklung der Narratologie erforscht ist: Anja Cornils und Wilhelm Schernus wählen Oskar Walzel als den Ausgangspunkt ihres Überblicks und zeigen, daß narrative Strukturen zuerst in der Romantheorie erörtert wurden. Die Entwicklung von der Erzähltheorie zur strukturalistischen Narratologie wird von ihnen weniger als Bruch denn als vielschichtiger Prozeß beschrieben. 2

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Der Blick auf die Entwicklung der Narratologie hat aber nicht nur einen wissenschaftsgeschichtlichen Wert. Tom Kindt und Hans-Harald Müller führen die Wissenschaftsgeschichte als Maßstab ein, an dem sich die Relevanz gegenwärtiger narratologischer Forschung bemessen läßt (S. 214 f.). Daß der Blick auf die Wissenschaftsgeschichte auch systematische Sachverhalte zu beleuchten vermag, demonstriert John Piers Überblick über das Begriffspaar ›story / discourse‹, der die Möglichkeiten und Grenzen dieser Dichotomie in verschiedenen narratologischen Ansätzen betrachtet.

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Im folgenden möchte ich exemplarisch an zwei Punkten die Spannungen darstellen, die sich aus den Beiträgen für eine Definition der Narratologie durch ihren Gegenstandsbereich oder ihre Bestimmung als Disziplin ergeben: die Medien, auf welche sich die Narratologie richtet, und das Verhältnis der Narratologie zu anderen Disziplinen.

2. Narratologie und narrative Medien

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Ein wichtiger Aspekt für die Definition der Narratologie durch ihren Gegenstandsbereich sind die narrativen Medien: Ist Narratologie auf sprachliche Texte einzuschränken? Kann und soll sie auch andere Medien wie Bilder oder Musik erfassen?

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Wie bereits erwähnt, betont Fotis Jannidis, daß das Medium die Modi der Repräsentation bestimme, in deren Analyse er das zentrale Anliegen der Narratologie sieht. Als Beispiel diskutiert er unter anderem das Phänomen der ›bullet time‹ in Filmen (S. 37). Auch Jens Eder möchte die Narratologie nicht auf sprachliche Narrative beschränken (S. 279).

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Einen interessanten medientheoretischen Zugang eröffnet Marie-Laure Ryan. Sie plädiert ebenfalls dafür, daß die Narratologie nicht nur sprachliche Texte analysieren soll, verläßt in ihrem Beitrag aber den Rahmen sprachlicher Narrative nicht, sondern untersucht ihre visuelle Komponente. Die ›visuelle Narratologie‹ umfaßt zum einen die »graphic description of narrative features«, zum anderen »the verbal description of the visual dimensions of narrative« (S. 335). Beide Komponenten erörtert Marie-Laure Ryan anhand des vielschichtigen Verhältnisses zwischen Erzählungen und Karten, indem sie folgendes vorstellt: Karten des geographischen Kontextes und der wirklichen Welt, in denen Erzählungen stattfinden; Karten, die als Navigatoren durch multilineare Texte dienen; Karten, welche das ›spatiale‹ Bild einer Erzählung veranschaulichen; Karten, die den ›plot‹ in ein Schaubild übersetzen.

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Ansonsten wird, was angesichts der grundsätzlichen Fragestellung des Bandes verwundert – der Medialität von Narrationen wenig Beachtung geschenkt. In vielen Beiträgen wird die Frage, auf welche Medien sich die Narratologie richten solle, nicht einmal erwähnt – die Gegenüberstellung von Narratologie und Theorie der Fiktionalität führt Matías Martínez und Michael Scheffel sogar dazu, gegen Gerard Genette die Eigenständigkeit der Narratologie fiktionaler Texte zu behaupten. Der Band hat – so läßt sich feststellen – einen klaren literaturwissenschaftlichen Fokus. Die Frage, welche Medien die Narratologie erfassen solle, wie eine medienübergreifende Narratologie zu konzeptionalisieren sei und welche Anregung die narratologische Analyse von Erzählungen aus dieser Erweiterung erfahren könne, wird in ihm nicht gefördert. Daß die ›mediale Frage‹ nach wie vor fruchtbar ist und eine transmediale Ausrichtung der Narratologie nicht zu einem Schärfeverlust der Erzählanalyse führen muß, zeigt – bei allen Schwächen – Werner Wolfs gradualistische Bestimmung des Narrativen, die es erlaubt, die Narrativität auch von Bildern und Musik zu analysieren. 3

3. Narratologie und andere Disziplinen

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Die Stärke von What Is Narratology? liegt eher darin, neue Perspektiven für das Verhältnis der Narratologie zu anderen Disziplinen zu entwerfen. Dabei überwiegt eine konservative Tendenz, welche die Narratologie in ihrer strukturalistischen Tradition sieht. Der Band hat keinen Beitrag, den man der kulturgeschichtlichen oder feministischen Narratologie zurechnen könnte; Ansgar Nünning präsentiert lediglich seinen bereits bekannten Überblick über neue Narratologien.

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Dafür gibt es zwei Beispiele für den Versuch, Anleihen bei anderen Wissenschaften zu machen, um die Narratologie auf ein neues Fundament zu stellen. Jens Eder und David Herman plädieren für einen kognitionswissenschaftlichen Ansatz. Jens Eder führt die neuen Horizonte aus, die eine kognitionswissenschaftliche Perspektive eröffnen könne; was genau er aber mit Kognitionswissenschaften meint, bleibt – und muß wohl auch im Rahmen eines Aufsatzes – unbestimmt. Sein Beitrag unterstreicht, wie wichtig es ist, die Rezeption von Narrationen stärker zu berücksichtigen, aber dazu bedarf es, wie die Forderung von Gerald Prince zeigt (S. 11 f.), nicht unbedingt eines kognitionswissenschaftlichen Ansatzes.

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David Herman möchte die Narratologie neu auf dem Fundament von »cross-disciplinary research on the social constitution and distribution of intelligence« aufstellen (S. 304). Er führt diesen Ansatz anhand einer Analyse von Edith Whartons Roman Fever vor, in der er die Gestaltung der Perspektive als ein ›Denksystem‹ analysiert und die Darstellung von Bewußtseinsvorgängen mit dem Konzept der ›folk-psychology‹ beleuchtet. Der Rezensent muß aber gestehen, daß ihm nicht ganz klar geworden ist, was Herman mit ›Denken‹ meint und welchen Erkenntnisgewinn dieser Ansatz bietet.

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Auf der anderen Seite stehen die Plädoyers dafür, der Narratologie ein scharfes an der strukturalistischen Tradition orientiertes Profil zu belassen. Am dezidiertesten vertritt Jan Chistoph Meister einen ›fundamentalistischen‹ Ansatz, wenn er die »formal and context-free nature of structuralist narratology’s fundamental concepts« betont und dafür eintritt, das narratologische Instrumentarium rein von den Einflüssen anderer Disziplinen zu halten (S. 69). Sogar Ansgar Nünning, der sich um die kulturgeschichtliche Anwendung der Narratologie verdient gemacht hat, äußert sich skeptischer als in früheren Veröffentlichungen gegenüber dem Plural ›Narratologien‹ (S. 262). 4

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Die beiden Herausgeber Tom Kindt und Hans-Harald Müller zeigen, wie Narratologie jenseits der Alternative von strukturalistischer und poststrukturalistischer Ausrichtung zu konzeptionalisieren ist, damit sie andere Diszplinen befruchten kann. Dafür betrachten sie das Verhältnis zwischen Interpretation und Narratologie, das auf vier verschiedene Weisen bestimmt werden könne: ›Autonomistische‹ Positionen bestreiten, daß es eine Verbindung zwischen Interpretation und Narratologie gebe; Ansätze, die Tom Kindt und Hans-Harald Müller als ›contextualist‹, ›foundationalist‹ und ›heuristic‹ bezeichnen, sehen dagegen eine Verbindung, konstruieren sie aber verschieden.

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Die ›kontextualistische‹ Narratologie geht davon aus, daß es auch Aufgabe der Narratologie sei, den Kontext von Texten miteinzubeziehen; dadurch wird die Narratologie selbst zu einer Interpretation (e. g. Susan Lanser, Ansgar Nünning). ›Foundationalists‹ wie Umberto Eco sehen in der narratologischen Analyse die Grundlage für Interpretationen. Tom Kindt und Hans-Harald Müller geben einer Narratologie den Vorzug, die als heuristisches Mittel für die Interpretation dient. Aus diesem Konzept leiten sie zwei Forderungen ab: Erstens sollen narratologische Kategorien neutral sein, um von unterschiedlichen interpretativen Theorien angewandt werden zu können. Zweitens sei die Relevanz von narratologischen Ansätzen aus der Wissenschaftsgeschichte der Narratologie abzuleiten.

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Trotz aller Unterschiede ergeben die Beiträge von Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning und besonders Tom Kindt und Hans-Harald Müller ein überzeugendes Plädoyer dafür, daß die Narratologie nur dann in einen fruchtbaren Austausch mit anderen Disziplinen treten kann, wenn sie ein klares Profil hat – von Tom Kindt und Hans-Harald Müller als heuristisches Vehikel für die Interpretation beschrieben. Es sei aber auch auf den Preis dieser Beschränkung hingewiesen: Die Narratologie wird damit zu einer Hilfswissenschaft; die ›wirklich interessanten‹ Fragen, etwa, warum kulturübergreifend erzählt wird, oder welche Rolle Erzählen für die Konstitution von Identitäten spielt, werden aus der Narratologie ausgelagert. Solche Ansätze sind mit Ansgar Nünning, Tom Kindt und Hans-Harald Müller als Kulturgeschichten zu klassifizieren, die sich eines narratologischen Instrumentariums bedienen.

4. Narrative Theorie – narrative Analyse

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Als ein viertes Spannungsfeld, das die Beiträge des Bandes eröffnen, möchte ich das Verhältnis narratologischer Theorie zur narratologischen Analyse von Texten erwähnen. Dieses Verhältnis hängt eng mit der Frage zusammen, ob die narratologische Analyse eine objektive Beschreibung oder eine Interpretation ist. Sieht man die narratologische Analyse als objektiv an, wird man Theorie und Analyse klar voneinander trennen können; erkennt man aber, daß jede narratologische Analyse ein hermeneutischer Vorgang ist, wird man das Verhältnis von Theorie und Analyse einer differenzierteren Betrachtung würdigen wollen.

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Bereits die Aufsätze in What is Narratology? verfolgen sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Während die meisten Beiträge Narratologie auf einem hohen Abstraktionsniveau definieren, nimmt John Pier mit der ›story-discourse‹-Dichotomie ein spezifisches theoretisches Problem in den Blick und Andreas Kablitz entwickelt seine Überlegungen zu Fokalisation und Beobachtung sogar anhand der Lektüre spezifischer Texte. Das Verhältnis von narratologischer Theorie und Analyse wird auch explizit erörtert: John Pier weist auf die engen Bande zwischen grundlegenden theoretischen Entwicklungen und der Analyse einzelner Texte hin (S. 73), dagegen fordert Ansgar Nünning eine klare Trennung (S. 259). In eine ähnliche Richtung weist die Gegenüberstellung von Interpretation und Narratologie, die Tom Kindt und Hans-Harald Müller vornehmen.

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Wie wichtig aber die gegenseitige Befruchtung von Theorie und Analyse ist, führt der Beitrag von Andreas Kablitz vor Augen, der von der Bedeutung des ›figural discourse‹ in realistischen Romanen ausgeht. Andreas Kablitz weist Versuche zurück, den ›figural discourse‹ als Ausdruck des Realismus zu erklären, und hinterfragt Gerard Genette’s Konzept der Fokalisation, das vor allem auf den Fokalisator abhebe, obgleich die grundlegende Differenz zwischen fokalisierten und nichtfokalisierten Erzählungen liege. Fokalisation – so Andreas Kablitz – ist mehr als eine Technik, da sie als Struktur der Beobachtung Teil der dargestellten Welt sei. In einer Interpretation ausgewählter Stellen aus klassischen französischen Romanen führt Andreas Kablitz vor, wie die Fokalisation einen »overlap between the constituents of the narrated world and the structures of their representation« erzeugt (S. 128). Die komplexe Struktur der Fokalisationen in den von ihm analysierten Werken sieht Andreas Kablitz in dem aufklärerischen Konzept des Sozialvertrages begründet. In seiner Zusammenfassung stellt er Narration und Beobachtung als unterschiedliche Modi einander gegenüber und plädiert dafür, Narration als »combination of narrative and other discursive processes« zu verstehen (S. 134).

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Mag auch die These, die Bedeutung von Fokalisation im klassischen französischen Roman lasse sich auf das aufklärerische Konzept des Sozialvertrages zurückführen, nicht überzeugen, und mag auch die Gegenüberstellung von Beobachtung und Narration zahlreiche Fragen aufwerfen, so eröffnet Andreas Kablitz’ Lektüre doch eine neue, höchst anregende Perspektive auf Fokalisation. Seine Überlegungen stellen nicht nur die Definition einer grundlegenden narratologischen Kategorie in Frage, sondern vertiefen auch ihr Verständnis, indem sie ihre lebensweltliche Verankerung herausarbeiten und die Frage nach ihrem historischen Hintergrund stellen. Andreas Kablitz’ Beitrag unterstreicht, daß die narratologische Theorie sich nicht der Impulse berauben sollte, die sie aus der Arbeit am Text empfängt.

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Die enge Verbindung von Theorie und Analyse in der Narratologie läßt sich auch mit Tom Kindts und Hans-Harald Müllers heuristischem Narratologiekonzept näher bestimmen. Zwar trennen Tom Kindt und Hans-Harald Müller die Narratologie scharf von der Interpretation und fordern eine Neutralität narratologischer Kategorien, aber sie gestehen auch ein, daß jede narrative Analyse in einem weiteren Sinne bereits eine Interpretation ist (S. 213). Die Interdependenz von Theorie und Analyse wird noch deutlicher, wenn sie die Relevanz narratologischer Forschung durch die Rückbindung an frühere narrative Konzepte und deren heuristischen Wert sichern wollen (S. 214 f.).

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Es wäre eine hermeneutische Naivität anzunehmen, es gäbe ein narratologisches System, mit dem sich eine objektive Analyse von Texten durchführen ließe. Jede narratologische Analyse hängt vom Horizont sowie Erkenntnisinteresse des Interpreten und dem Medium des zu untersuchenden Textes ab. Die Definition der Narratologie als heuristisches Mittel läßt es nicht nur als notwendig erscheinen, das Instrumentarium der Analyse offen für verschiedene Anwendungen zu gestalten, sie impliziert auch die Erkenntnis, daß narratologische Kategorien durch ihre jeweilige Anwendung bestimmt sind. Diese hermeneutische Betonung des applikativen Charakters der Narratologie stellt Versuche in Frage, Narratologie als rein deskriptiv der Interpretation gegenüberzustellen oder sogar als »science« zu verstehen. 5

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Fazit

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Wie läßt sich der Band, wenn man von den formalen Mängeln absieht, 6 zusammenfassend bewerten? What is Narratology? stellt eine angesichts der explosionsartigen Entwicklung neuer Narratologien außerordentlich wichtige Frage. Die Pluralität an Zugängen und Antworten, die nicht alle neu, aber in ihrer Zusammenstellung stimulierend sind, 7 spiegelt die Schwierigkeit des Unterfangens wider. Zugleich dringt aber durch die Polyphonie der Beiträge ein Tenor, der eine klare Definition von Narratologie im Bewußtsein ihrer strukturalistischen Geschichte fordert. Nur eine durch ihr Instrumentarium bestimmte Narratologie ist ein für andere Disziplinen und Theorien interessanter Partner – sie ist, wie die Herausgeber zeigen, am besten als heuristisches Vehikel für die Interpretation zu konzeptionalisieren. Mit der Frage What Is Narratology? wird ein Reflexionsniveau etabliert, hinter das keiner, der narratologisch arbeitet, zurückfallen darf. Was mehr will man von dem ersten Band einer narratologischen Reihe erwarten?


Dr. Jonas Grethlein
Harvard University
Classics Department
204 Boylston Hall
US - 02138 MA. Cambridge

Ins Netz gestellt am 24.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Jonas Grethlein: Narratologia, quo vadis? (Rezension über: Tom Kindt / Hans-Harald Müller (Hg.): What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin: Walter de Gruyter 2003.)
In: IASLonline [24.09.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=896>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Anders als der Titel seines Beitrages (The Systematic Place of Narratology in Literary Theory and Textual Theory) vermuten läßt, bestimmt Michael Titzmann nicht den Platz der Narratologie in der Literaturtheorie, sondern gibt eine Skizze der Narratologie als »textual theory«.   zurück
Auch in prämodernen Literaturen lohnt es sich, der Frage nachzugehen, wie narrative Strukturen analysiert wurden. Als Beispiel fallen dem Altphilologen die Analysen der Anachronien in den Homer-Scholien ein. S. dazu beispielsweise G. E. Duckworth: PROANAFVNHSIS in the Scholia to Homer. In: American Journal of Philology 52 (1931), S. 320–338. Eine systematische Untersuchung, wie Erzählstrukturen begriffen werden, mit dem begrifflichen Instrumentarium der Narratologie könnte das Verhältnis von Literatur und Literaturtheorie beleuchten sowie unser Verständnis der jeweiligen Rezeption vertiefen.    zurück
Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Vera und Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002, 23–104. Zur Kritik s. Peter Hühn / Jörg Schönert, Rez. Ansgar und Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002 und Vera und Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002. In: Poetica 35 (2003), S. 437–444, hier 441 f.   zurück
Vgl. zum Beispiel Ansgar and Vera Nünning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie. Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen, in: A. und V. N. (Anm. 3), S. 1–33, hier 17: »Angesichts dieser Vielzahl und v. a. Vielfalt neuer Ansätze erscheint es in der Tat nicht mehr angemessen, von ›der‹ Erzähltheorie oder ›der‹ Narratologie zu sprechen…«    zurück
Eine solche Tendenz verrät beispielsweise Michael Titzmann, der den Begriff der »human sciences«, was auch immer das sein mag, verwendet (S. 175) und den Begriff der »Geisteswissenschaften« mit einem Satz in einer Fußnote entsorgt, 175 Anm. 1: »It is high time that the Dilthean term ›Geisteswissenschaften‹ (›humanities‹) be abandoned because of its ideological implications.« Es ist nicht nur zu bezweifeln, daß komplexe wissenschaftstheoretische Fragen auf diese Weise gelöst werden können, es sei auch bemerkt, daß die Wendung gegen Ideologien, zumal wenn der Begriff nicht weiter spezifiziert wird, oft selbst von einem ideologischen Interesse getragen ist.   zurück
Die unübersehbaren formalen Mängel stehen in einer Spannung zur ansprechenden Form der neuen Reihe. Sofort ins Auge stechen die Probleme mit dem Seitenumbruch (S. V f., 74 f., 316 f., 323 f., s. a. die Überschriften S. 176). Einige Probleme erwachsen daraus, daß die deutschen Beiträge ins Englische übersetzt wurden. Während in einigen Aufsätzen alles, selbst Zitate von Martin Heidegger, übersetzt werden, sind in anderen – was wohl wünschenswert ist – Zitate in den Originalsprachen belassen. Der Text einiger Graphiken ist übersetzt, der anderer wiederum nicht. Sogar innerhalb einer Graphik findet man Englisch und Deutsch nebeneinander (S. 159). Die Übersetzung deutscher termini technici ins Englische scheint mir zu unnötigen Komplikationen zu führen – das deutlichste Indiz dafür, wie prägend Forschungstraditionen sind. Es ist zu vermuten, daß die Übersetzung auch zur nicht unbeträchtlichen Zahl der Druckfehler beigetragen hat, exempli gratia drei Beispiele aus einem Beitrag, S. 101: »Where this is link is present…«, S. 125: »Here we can seen a difference…«, S. 133: »The fact that the discourse of perception essentially consists far more of description than of narration makes it is easy…« Auch ›tote Sprachen‹ bereiten bisweilen Schwierigkeiten: Der Ausdruck »mutas mutandis« (S. 187) ist eine Neuprägung jenseits der Grammatik des klassischen Lateins.    zurück
Ansgar Nünnings Aufsatz ist beispielsweise in weiten Teilen eine Übersetzung bzw. ein Wiederabdruck von Ansgar Nünning: Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects. In: Bernhard Reitz / Sigrid Rieuwerts (Hg.): Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2000, S. 345–373 sowie von A. und V. N. (Anm. 4).    zurück