Christine Hehle

Von Text- und Kirchenräumen




  • Christopher Schlembach: Wort Raum Heil. Architektur, Übersetzung und Unterricht im frühen Mittelalter: Notker Labeos 'Consolatio' (2. Buch). Wien: Edition Praesens 2003. 207 S. Kartoniert. EUR 23,30.
    ISBN: 3-7069-0161-7.


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Grundgedanke von Christopher Schlembachs Buch ist die Überlegung, dass sich in verschiedenen Kunstwerken derselben Epoche analoge Strukturprinzipien erkennen lassen, die durch den jeweiligen »Zeitstil« (S. 40) bedingt sind. Dieser wiederum ist zu verstehen als ein »System von Praktiken und mentalen Gewohnheiten« (S. 59), das den Angehörigen einer sozialen Gruppe gemeinsam ist, mögen sich ihre Arbeitsbereiche und die Medien, deren sie sich bedienen, auch unterscheiden. Anknüpfend an Erwin Panofskys Analyse der Gemeinsamkeiten zwischen gotischem Baustil und scholastischen Denkfiguren 1 zieht Christopher Schlembach eine Parallele zwischen den kommentierenden Übersetzungen Notkers des Deutschen, insbesondere seiner Bearbeitung der Consolatio Philosophiae des Boethius, und den – vorromanischen – Kirchenbauten des Frühmittelalters. Beide sieht er vor dem Hintergrund des augustinischen Stufenwegs zum Heil, der sich in der Gestaltung der Kirchenräume materialisiere und gleichzeitig dem pädagogischen Konzept des frühmittelalterlichen ›artes‹-Unterrichts zu Grunde liegt.

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Die Einleitung bildet ein Referat des neueren Forschungsstandes zu Notker, der in Auswahl präsentiert wird (Georg Braungart, Helge Eilers, Stefan Sonderegger, Rita Copeland, Dennis Green, Catherine Brown, Christine Hehle). Im Zentrum stehen dabei das Verhältnis zwischen Latein und Volkssprache bzw. Notkers zweisprachiges Medium, die Verortung seiner Texte in der Geschichte der ›artes‹ und die Frage nach dem konkreten Gebrauch seiner Consolatio-Bearbeitung – ausschließlich im Unterricht oder auch zur individuellen Studienlektüre. Davon ausgehend erfolgt der Schritt über die Grenzen der philologischen Analyse hinaus, den Christopher Schlembachs Arbeit sich zum Ziel setzt: die Untersuchung der Materialität von Notkers bilingualem Medium und der Räume, die die Sprache als gesprochene wie als schriftlich fixierte eröffnet (vgl. S. 36).

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Der Begriff des Textraums

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Die Verbindung zwischen den Raumkonzeptionen vorromanischer Kirchenbauten und der Tektonik von Notkers Consolatio stiftet der Begriff des Textraums, welcher sich bei der Lektüre eröffnet: Er ist ein Hörraum, in dessen Zentrum entweder – beim Vortrag vor Zuhörern und in der Unterrichtssituation – der vortragende Sprecher oder – bei individueller Lektüre, die im Mittelalter ja ebenfalls Lippen und Stimme miteinbezieht – das Buch selbst steht. Auch die schriftliche Verfestigung der Unterrichtssituation im Codex bewahrt Spuren des Hörraumes, der in der Aktualisierung des Textes wiederhergestellt wird: Bei der Lektüre erscheint gleichsam der Autor / Sprecher / Lehrer, der den Text organisiert und die Kohärenz seiner verschiedenen Elemente (Consolatio-Text, Übersetzung, Kommentar, Exkurse usw.) verbürgt. In dieser Weise deutet Christopher Schlembach Notkers Äußerung im Brief an Bischof Hugo von Sitten: »Quae [sc. exempla] dum fuerint ad vos perlata, me praesentem aestimate.« 2

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Auflösung geometrischer Raumstrukturen
in der Architektur

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Zur Beschreibung der kennzeichnenden Strukturmerkmale, durch die er sowohl vorromanische Kirchenbauten als auch Notkers Consolatio geprägt sieht, greift Christopher Schlembach auf die architekturgeschichtlichen Untersuchungen von André Corboz zurück. 3 Dieser erblickt in frühmittelalterlichen Kirchenbauprogrammen, die von der basilikalen Form abweichen, den Zusammenstoß zweier differenter Raumkonzeptionen: Die Gestaltung des Äußeren folgt geometrischen Prinzipien, wie sie dem antiken Raum entsprechen, und ist visuell orientiert, während das Innere, der Ort des Sakralen, eine Art »Höhle« ohne klare geometrische Strukturen bildet, die sich einer raschen visuellen Orientierung widersetzt. Das Aufeinanderstoßen dieser beiden Raumkonzeptionen im Frühmittelalter spiegelt nach Corboz das Zusammentreffen der visuell und skriptural ausgerichteten römisch-antiken Kultur mit der auditiv orientierten, durch mündliche Traditionen geprägten germanischen. Die im Äußeren bewahrte Ordnung des antiken Raumes wird im Inneren aufgelöst, seine geometrischen Strukturen werden durch neue, unübersichtlichere, ersetzt. Dies geschieht durch

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1. Auflösung des ausgewogenen Proportionensystems, wodurch die klare Perspektive für den Betrachter verloren geht und die Dreidimensionalität der Raumaufteilung an Bedeutung verliert

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2. Verwischung der Geschlossenheit und der Raumgrenzen durch Einsatz von Farbe und Dekor (z. B. Fresken), dessen Bildprogramm den Blick in anderer Folge lenkt, als es die architektonischen Strukturen tun, und das Spiel mit Licht und Schatten

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3. Infragestellung der Achse Eingang-Altar durch Verlegung des Eingangs auf die Südseite, Auseinanderfallen von Umgangs- und architektonischer Achse, Auffächerung des Blicks durch einen Säulenwald, Einsatz unterschiedlicher Raumhöhen

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4. Verschachtelung verschiedener Grundrisse ineinander

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5. Betonung der Zweidimensionalität, Verzicht auf strukturelle (tragende) Verknüpfungen.

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Transformation des ›auctor‹-Textes
im Unterricht

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Analoge Strukturmerkmale arbeitet Christopher Schlembach nun im Text von Notkers Consolatio (Buch 2) heraus, zunächst, in Teil I, überblickshaft, dann, in Teil II, in genauen grammatisch-rhetorischen Analysen der Gedichte I, II, IV, V und VII und zweier Prosaabschnitte (Notkers Kapitel 24 und 45). Der Auflösung des antiken Raumes und der Zusammensetzung seiner Elemente nach neuen Ordnungsprinzipien entspricht die Transformation, der Notker den Text der Consolatio in seiner Makrostruktur (Neusegmentierung in Kapitel unter Aufgabe des Ordnungsprinzips des Alternierens von Gedichten und Prosaabschnitten, Hinzufügung von Exkursen) wie in seiner Mikrostruktur (Umformung des lateinischen Textes, Einfügung von Glossen, Übersetzung, Hinzufügung von Kommentierungen) unterwirft:

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1. / 3. Die einheitliche Perspektive wird aufgelöst, indem die beiden Dialogebenen (Philosophia und ›Boethius‹ – der Lehrer Notker und seine Schüler / Hörer / Leser) ständig ineinander übergehen. Beispiele aus dem Consolatio-Text werden für die Vermittlung von Lehrinhalten des Trivium (z. B. die Demonstration rhetorischer Figuren oder dialektischer ›argumenta‹) herangezogen. Parallel zu dem ›Heilsweg‹, dem Erkenntnisprozess und Aufstieg der Seele zu Gott, den der Dialog zwischen Philosophia und ›Boethius‹ vollzieht, erfolgt die Belehrung und ›Heilung‹ der Schüler von ihren »vulnera cognitionis« (vgl. S. 102 ff.). So wird die privilegierte Perspektive des Originals gebrochen, in Frage gestellt wie die Zentralachse der Kirche.

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2. Neue dekorative Elemente kommen zum Einsatz: Während Notker die Tropen (›ornatus in verbis singulis‹) des Boethius-Textes vereinfacht, konkretisiert, steigert er in der Übersetzung den Einsatz von ›figurae‹ (›ornatus in verbis coniunctis‹) und ersetzt auf diese Weise eine Stilisierung durch eine andere.

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3. Durch die Verdoppelung der Dialogebenen und die Hinzufügung von lehrhaften Exkursen werden mehrere Bücher ineinander ›verschachtelt‹. So enthalten das 2. (und 3.) Buch von Notkers Consolatio u. a. ›Lehrbücher‹ der Rhetorik und Dialektik in Gestalt von Großexkursen.

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4. Das Ineinanderfließen von Latein und Althochdeutsch, von Text und Kommentar und verschiedener Kommentarformen zu pädagogischen Zwecken lässt die Grenzen verschwimmen. Die einzelnen Elemente sind syntagmatisch miteinander verkettet, was einer auditiv orientierten Ordnungsstruktur entspricht; eine visuell-geometrische Ordnungsstruktur läge dagegen der Interlinearversion oder der synoptisch-blockartigen Gegenüberstellung von Text und Übersetzung, Text und Kommentar zu Grunde.

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In den Texträumen von Notkers Consolatio begegnen sich – analog zum Zusammentreffen von Außen- und Innenraum in den Kirchenbauten – zwei verschiedene Raumkonzeptionen: Dem Schriftraum des Codex steht der Hörraum des gesprochenen Textes in der Unterrichtsstunde bzw. bei der Aktualisierung durch die Lektüre gegenüber. Beide treffen sich in der Dialogsituation Lehrer-Schüler. Da die Schrift indessen die Unterrichtsstunde, also ein auditives Geschehen fixiert, ist es nicht zu verwundern, dass der geschriebene Text von Notkers Consolatio unübersichtlich wirkt. 4

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Klarheit und Deutlichkeit erlangt er dagegen als gesprochener / gehörter, wie Christopher Schlembach in seinen Textanalysen eindrucksvoll belegt, indem er zeigt, dass für Notkers syntaktische und lexikalische Entscheidungen häufig phonetische Motive eine wichtige Rolle spielen und anstelle einer Blickführung eine Art »Gedächtnisführung« (S. 83) anhand von redundanten Formulierungen und Figuren wie Alliteration, Anapher, Polyptoton und ›derivatio‹ die Hörer durch den Text leitet. Freilich würden seine Analysen an Anschaulichkeit noch gewinnen, wenn er den untransformierten Boethius-Text zum Ausgangspunkt nähme und nicht erst auf der Stufe von Notkers umgeformtem Consolatio-Text mit seiner Untersuchung einsetzte. Etwas bedauerlich ist auch, dass ihm in seiner eigenen Darstellung, besonders in den Anfangskapiteln, nicht wenige grammatisch-syntaktische und stilistische Versehen unterlaufen, die die Argumentation verunklaren.

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Ertrag der Untersuchung

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Derlei Beanstandungen ändern jedoch nichts daran, dass Christopher Schlembachs origineller Ansatz einen bedenkenswerten, über die philologische Analyse hinausgehenden Horizont für das Verständnis von Notkers Texten eröffnet. Zwar ist die Textbasis mit dem 2. Buch der Consolatio denkbar schmal, doch scheinen mir die dort gemachten Beobachtungen durchaus auf die übrigen Bücher der Consolatio und die Martianus-Capella-Bearbeitung übertragbar. Zweifel habe ich allerdings daran, ob die Disparatheit der verschiedenen konstitutiven Elemente in Notkers Texten wirklich so groß ist, wie Christopher Schlembach annimmt (z. B. S. 80), und eine Synthese nicht nur nicht stattfindet, sondern auch gar nicht angestrebt ist, ebenso wie Corboz es für die frühmittelalterlichen Kirchenbauten postuliert. Mir scheint vielmehr, dass – auf der mikrostrukturellen Ebene – die einzelnen Elemente (umgeformter lateinischer Text, althochdeutsche Übersetzung, Glossen, kommentierende Hinzufügungen) ein organisch zusammenwirkendes Ganzes bilden, das einen Text ›aus einem Guss‹ ergibt. Auf der Ebene der Makrostruktur sorgen Vor- und Rückverweise, Erklärungen und Exkurse zum Verlauf des Dialogs und zum Aufbau der Argumentation dafür, dass Notkers Consolatio-Bearbeitung als in sich stimmige Werkinterpretation erscheint. Christopher Schlembachs Hinweis auf ihre syntagmatische, auditiv orientierte Struktur liefert meines Erachtens gerade ein weiteres Argument für diese Auffassung.

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Jedenfalls spricht für die Vergleichbarkeit vorromanischer Bauprogramme mit Notkers Verfahrensweise bei der Aneignung und Vermittlung antiker Texte auch der experimentelle Charakter der entwickelten Lösungen, wie Christopher Schlembach zu Recht geltend macht: Es sind Einzelfall-Lösungen, die nicht ›schulbildend‹ wirken, keine Nachfolge finden. Dieses auffallende Phänomen mit dem »Zeitstil« einer Umbruchsepoche zu erklären, ist eine einleuchtende Idee.


Dr. Christine Hehle
Theodor-Fontane-Archiv
Am Bassin 4
DE - 14467 Potsdam

Ins Netz gestellt am 16.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Ernst Hellgardt. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Christine Hehle: Von Text- und Kirchenräumen. (Rezension über: Christopher Schlembach: Wort Raum Heil. Architektur, Übersetzung und Unterricht im frühen Mittelalter: Notker Labeos 'Consolatio' (2. Buch). Wien: Edition Praesens 2003.)
In: IASLonline [16.09.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=902>
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Anmerkungen

Erwin Panofsky: Gothic Architecture and Scholasticism. New York: Meridian 1957.   zurück
Ernst Hellgardt: Notkers des Deutschen Brief an Bischof Hugo von Sitten. In: Klaus Grubmüller u. a. (Hg.): Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach-und Literaturwissenschaft. Fs. Hans Fromm. Tübingen. Niemeyer 1979, S. 169–192, hier S. 173.   zurück
André Corboz: Frühes Mittelalter. Aus dem Frz. von Alfred P. Zeller. München: Hirmer 1971.   zurück
Editorische Verfahrensweisen, um die Struktur von Notkers Texten transparent zu machen, erproben für den Psalter: Ernst Hellgardt: ›Singet dem Herrn ein neues Lied!‹ Die Bearbeitung des 95.[ 96.] Psalms bei Notker dem Deutschen. In: Horst Brunner / Claudia Händl / E. H. / Monika Schulz (Hg.): helle schöne döne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Fs. für Wolfgang Walliczek (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 668) Göppingen: Kümmerle 1999, S. 131–166; für die Martianus-Capella-Bearbeitung (in neuhochdeutscher Übersetzung): Sonja Glauch: Die Martianus-Capella-Bearbeitung Notkers des Deutschen. 2 Bde. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 116 / 117) Tübingen: Niemeyer 2000, hier Bd. 2; und neuerdings für De interpretatione: Harald Saller: Ein neues Editionskonzept für die Schriften Notkers des Deutschen anhand von ›De interpretatione‹ (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 4) Berlin / Frankfurt / M. u. a.: Peter Lang 2003.   zurück