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Abgründe der Imagination

Halluzinatorik zwischen Poetologie und Pathologie

  • Rainer Topitsch: Schriften des Körpers. Zur Ästhetik von halluzinatorischen Texten und Bildern der Art Brut, der Avantgarde und der Mystik. (Schrift und Bild in Bewegung 5) Bielefeld: Aisthesis 2002. 538 S. Kartoniert. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 3-89528-371-1.
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Der Gegenstand:
Die Darstellung des Undarstellbaren

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In E.T.A. Hoffmans Nachtstück Der Sandmann findet sich in einem Schreiben Claras an Nathanael der Versuch einer Pädagogik der Imagination: »Gerade heraus«, heißt es, »will ich es Dir nur gestehen, daß, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Inneren vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte.« 1 Halluzinierende Helden, die E.T.A. Hoffmanns literarische Welt bevölkern, sind außerstande, die grundlegende Differenz zwischen Wirklichkeit und Imagination dieser Wirklichkeit zu operationalisieren.

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In Rainer Topitschs Münchener Dissertation, mit 538 Seiten von nicht unbeträchtlichem Umfang, wird der umfassende Versuch gestartet, die Geschichte der für E.T.A. Hoffmann häufig pathologisch codierten Halluzinatorik in der Literatur darzustellen. Der Verfasser nimmt für die Darstellung eine breite Materialbasis in den Blick. Sie umfaßt nicht weniger als Texte der religiösen Mystik, Schriften aus dem Umfeld der historischen Avantgarden und intermediale Gesamtkunstwerke aus dem Umkreis der art brut.

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Die Texte erzählen nach Topitsch von radikal anderen Wirklichkeiten, deren Darstellung der Bruch mit herkömmlichen Mustern realistischen, kohärenten und linearen Erzählens und Schreibens vorausgeht. Dieser Bruch ist durch den Anspruch halluzinatorischer Texte induziert: »Halluzinatorische Texte berichten von radikal anderen Wirklichkeiten, die auf Unsagbares verweisen und somit in einer ›anderen‹ Sprache geschrieben sind [...]« (S. 14). Der Topos der Unsagbarkeit führt zu einer Topik des Nicht-Darstellbaren: »Es ist ein wichtiges und paradoxes Merkmal halluzinatorischer Texte, daß die Autoren immer wieder darauf hinweisen, daß sie eigentlich gar nicht ausdrücken können, was sie versuchen auszudrücken« (ebd.). Diese nicht aufzulösende Grundparadoxie, das Undarstellbare dennoch darstellen zu müssen, führt in der Argumentation Topitschs dazu, sich in der Darstellung eines nicht-sprachlichen Registers zu bedienen: dem des Körpers. »Halluzinatorische Texte sind Texte, in denen die Freiheit des Körpers auf die Unfreiheit der Schrift trifft.« (S. 16) Körperlichkeit fungiert in Topitschs Arbeit als Chiffre für das Ungeregelte, das Triebhafte, das Emotionale, das Sinnliche, eben für das, was nach Auffassung des Verfassers einen Bereich umfaßt, der aus der herkömmlichen Darstellung ausgeschlossen bleibt, aber dennoch zur Darstellung drängt.

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Topitsch versucht des weiteren darzulegen, daß in dieser hypostasierten Körperlichkeit sich Formen jenes Begehrens artikulieren, das aus dem Bereich der kulturell akzeptierten und sozial tolerierten Form des Begehrens verbannt worden ist. In dieser anderen Seite entdeckt der Verfasser Formen des Ungeregelten, der unkontrollierten Sexualität, der Nacktheit, die in der Darstellung zur Sprache kommen. Die gebrochenen Formen der Halluzinatorik wären in diesem Sinne die adäquate Darstellung des Undarstellbaren.

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Methodik und
Aufbau der Arbeit

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Topitschs Arbeit stellt diese Grundparadoxie halluzinatorischen Schreibens sowohl systematisch als auch historisch dar. Die Studie rechnet mit »einem ›postmodernen‹ Leser, der sich nicht daran stört, wenn man mit einer offenen Kategorie arbeitet wie der des zu erläuternden Begriffes der halluzinatorischen Literatur« (S. 9). Abgesehen davon, daß ›Begriff‹ und ›Kategorie‹ zwei völlig unterschiedliche heuristische Instrumente sind; Topitsch scheint nicht der Gattungspoetik wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten folgen zu wollen:

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Wer Essayismus für ein Schimpfwort hält, wird an diesem Buch wenig Gefallen finden, denn ein gewisser Essayismus im Sinne eines weitschweifenden Denkens, das Grenzen überschreitet, ist dort notwendig, wo es um den Wahnsinn geht, über den wir schwerlich Gewißheit erlangen können. (S. 9)
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Wozu dann aber eine solche Arbeit verfassen, wenn sie nicht dem Ziel dient, zumindest Gewißheit erlangen zu wollen? Ist es notwendig, durch den Stil der Arbeit Mimikry gegenüber dem Thema zu betreiben? Topitsch entgeht diesen vielleicht beckmesserischen Fragen, indem er, wie im Laufe der gesamten Arbeit, eine Großtheorie nach der anderen ins Feld führt, wo eigentlich Argumente die Waffen kreuzen sollten. Ein Beispiel:

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Es mag der Hinweis darauf genügen, daß wir uns eher für Grenzüberschreitungen als für streng umrissene Epochen- und Gattungsbegriffe interessieren und somit in der Tradition von Theodor W. Adorno stehen, der Kunst geradezu durch den Begriff der ›Verfransung‹ definierte. [...] Um im Vorfeld schon jeder Kritik an einer gewissen Offenheit unseres Konzeptes einer halluzinatorischen Literatur den Stachel zu nehmen, möchten wir schließlich Ludwig Wittgensteins Sprachtheorie in Erinnerung rufen, die mit der Illusion aufräumt, es wäre für Wissenschaft und Philosophie möglich, ein sprachliches System zu errichten, das im Hinblick auf Relationen von Kategorien logische Kohärenz garantiert. (S. 9 f.)
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Solche Passagen finden sich sehr häufig in Topitschs Arbeit. Sie dienen dazu, sich gegen Kritik zu immunisieren und sich dem Zwang zur wissenschaftlichen Argumentation zu entziehen. Die Arbeit besteht aus zehn Großkapiteln von unterschiedlichem Umfang. Kapitel 1 sucht die Kategorie der literarischen Halluzinatorik zu definieren, um dann in Kapitel 2 die Geschichte halluzinatorischer Texte darzustellen. Grundlegend ist die (nicht weiter hinterfragte) These, daß die Geschichte der halluzinatorischen Literatur sich nicht in sozialgeschichtlichen Großerzählungen auflösen läßt.

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Für Topitsch ist Halluzinatorik eine Art von Gegendiskurs: »Ein wichtiges Merkmal halluzinatorischer Literatur ist ja gerade ihr Anders-Sein, das sich im individuellen, abseitigen und ›asozialen‹ Schreiben äußert« (S. 30). Halluzinatorische Literatur und Kunst im weitesten Sinne ist immer befreiende und befreite Kunst. Literatur wird zum Ort, an dem der unterdrückte Körper sich von den Zumutungen der Zivilisation befreit.

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In Kapitel 3 geht es um Theorien des Wahnsinns. In diesem Kapitel setzt sich die Arbeit mit den herrschenden Versuchen auseinander, in die Abgründe der menschlichen Seele das Licht der Theorie zu werfen, scheitert aber letzten Endes, wie Topitsch nicht müde wird zu betonen, an der prinzipiellen Unverfügbarkeit der Substanz des Wahnsinns. Alle Versuche, firmieren sie nun unter »Theorien des wahnsinnigen Geistes«, als »Psychoanalytische Theorien«, als »Theorien der gestörten Kommunikation« oder als »Kreativitätstheorien« – sind Domestizierungsversuche. Wahnsinn fungiert bei Topitsch als Metonymie psychischer Krankheiten. Der Wahnsinn wird von ihm – mit Foucault – als eine Kommunikationspathologie verstanden. Zwischen dem Text des Wahnsinns und den Theorien der Psychopathologie herrsche ein Repräsentationsverhältnis:

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Auch die Literaturpsychologie stellt gewöhnlich Relationen zwischen halluzinatorischen Texten und psychischen Zuständen her, indem sie auf die Psychose, die Schizophrenie bzw. den Wahnsinn des schreibenden Ichs rekurriert, wobei in der Regel ein Repräsentationsverhältnis unterstellt wird: Der Text repräsentiere einen psychischen Zustand – den Wahnsinn oder das Unbewußte (das sich beim Wahnsinnigen authentisch offenbare). (S. 93)
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Kapitel 4 hat den Status eines methodisch-theoretischen Kapitels. Halluzinatorik geht von der »grundsätzlichen Unbeobachtbarkeit der Wirklichkeit« (S. 144) aus. Topitsch versucht, konstruktivistische Theorien literarischer Imagination (Bernd Scheffer) für die Theorie der Halluzinatorik fruchtbar zu machen. Halluzinatorische Wirklichkeit ist die des eingebildeten Körpers, sie ist Erfahrung einer letztlich ontologisch nicht faßbaren Realität.

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Nach der umgreifenden Annäherung an den Gegenstand stellt Topitsch im fünften Kapitel nichts weniger als die abendländische Kontrolle von Körperlichkeit dar. Er ist nicht der erste, der dies tut. So stellt er diese Geschichte von Kontrolle, Disziplinierung und Unterdrückung zum ersten als Geschichte der Vernunft, zum zweiten als Geschichte der Kontrollmechanismen der Körper von Wahnsinnigen und zum dritten als Geschichte der Schrift dar. Werden deviante Sexualität, das Wahnsinnige diskursiviert oder Teil des sexualpädagogischen beziehungsweise -pathologischen Diskurses, dann, so Topitsch, können sie dies nur als das Andere des Diskurses, als dessen Negativum beziehungsweise Ausgeschlossenes tun: als Verbot, als Gebot, als Vorschrift.

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In diesem großen Kontrollszenario kommt der Schrift eine besondere Rolle zu. War sie in Form der Tätowierung vormals, wie Topitsch referiert, ohne den grundlegenden Aufsatz von Alois Hahn zur Kenntnis genommen zu haben, 2 Medium der symbolischen Repräsentation von sozialer Ordnung, so wird diese unter der Ägide staatlicher Macht zum Medium der Unterdrückung, indem die Verbindung von Körper und Schrift aufgelöst wird. Der Körper wird Objekt der Disziplinierung, die Schrift Grundlage von Gesellschaft. Bei Topitsch fungiert Schrift hier jedoch als Abstraktum, das nicht weiter differenziert wird. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen haben aber schon seit langem auf den differenten Schriftgebrauch und das divergierende Schriftverständnis aufmerksam gemacht. 3 Welche Schrift Topitsch im Blick hat (die ideogrammatische, die piktographische, die Silbenschrift), wird nicht deutlich.

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Im weiteren Verlauf seiner Studie zeigt Topitsch dann, wie und in welcher Form das Unkontrollierte des Körpers in halluzinatorischen Texten auftaucht und aufgrund dieser Präsenz stets subversiv bleibt. Durch inhaltliche Repräsentation, indem der thematisierte Körper genau von jenem Körperlichen Zeugnis ablegt, das sich nicht kontrollieren läßt (Kapitel 6), durch eine Apologie des begehrenden Körpers, der in Ritualen und Riten des Schmerzes eine andere Realität des Körpers erfahren möchte (Kapitel 7). Schmerz beziehungsweise die Erfahrung von Schmerz wird somit, mit Foucault gesprochen, zur Selbsttechnik par excellence.

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Im achten Kapitel seiner Studie kommt Topitsch unter dem Titel »Modifikationen des Körpers« auf künstlerische Repräsentationen von Körperphantasien und Körperbildern zu sprechen. Die Modifikationen haben ihren Endpunkt im von Deleuze und Guattarri ausführlich beschriebenen organlosen Körper.

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In den beiden letzten Kapiteln (»Modifikationen der Schrift« und »Ästhetisierung der Realität«) geht es um grundlegende Fragen der Form. Wie modifizieren die halluzinatorischen Texte die Ordnung der Schrift und der Bedeutung, wie verschiebt sich ein ontologisches Realitätsverständnis hin auf ein performativ-ästhetisches? Halluzinatorische Texte stellen den umfassenden Versuch einer »Desemantisierung« (S. 333) dar. Die Texte bestechen durch die von Topisch in aller Ausführlichkeit geschilderten Formexperimente (Aufbrechen der Linerarität, Visualisierung der Schrift) und operieren mit der literarischen Leitdifferenz zwischen Form der Darstellung und Inhalt des Dargestellten. Sie verkörpern deswegen moderne literarische Sprech- und Schreibweisen. Halluzinatorische Texte sind somit ein, wenn nicht sogar das Paradigma der Moderne.

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Resümee

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Topitschs umfangreicher Versuch der Kontextualisierung halluzinatorischer Literatur erscheint in der Summe gelungen. Kritikwürdig aber ist stellenweise die Form seines Vorgehens. Zum einen liegt es daran, daß Topitsch letzten Endes nicht argumentiert oder sich die Zeit nimmt, eine These zu entwickeln. Alles scheint immer schon entschieden. Diese Tendenz nivelliert auch Unterschiede zwischen Textsorten, die von Topitsch etwas sorglos zu einem kulturellen Text über den Wahnsinn vermischt werden. Zum anderen versucht die Arbeit fast schon penetrant, eine Art Mimikry gegenüber dem Gegenstand zu betreiben, um somit die Authentizität des eigenen Zugangs zu verbürgen. Der Versuch, die begriffliche Sprache und ihr Instrumentarium der Definition so sehr – in guter (beziehungsweise schlechter) dekonstruktivistischer Tradition – an die Grenze zu treiben, führt letztlich zum persistenten Eindruck des Ungefähren, des Sich-Nicht-Festlegen-Wollens. Wissenschaftliche Arbeit muß aber an gewissen Stellen schlicht und einfach Entscheidungen fällen. Ohne diesen dezionistischen Stil verliert man sich im diskursiven Mäandern, im tentativen Stil der Annäherung. Der Wahnsinn gerät zum Fetisch, den man begrifflich nicht berühren darf.

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Äußerst verdienstvoll scheint mir das der Studie angehängte Autorenlexikon zu sein, das Biobibliographien zu vielen vergessenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern enthält, deren Texte Topitsch zitiert. Bedenklich stimmt bisweilen eine philologische Sorglosigkeit. Die Bibel mit »Bibel [1980]« (S. 34 u.ö.) zu zitieren, ist jenseits aller Standards. Die Bibel hat sich nicht selbst geschrieben, sondern Gott selbst. Gott als Autor hat aber keine Jahreszahl. Dies wußte allerdings schon der Heilige Augustinus, da Gottes temporaler Modus die Ewigkeit ist, die keine Zahlen und keine Zeit kennt.



Anmerkungen

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. In: E.T.A. H.: Nachtstücke. Hg. von Gerhard R. Kaiser. Stuttgart: Reclam 1990, S. 17.   zurück
Alois Hahn: Handschrift und Tätowierung. In: Hans-Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift. München: Fink 1993, S. 201–217.   zurück
Vgl. die Beiträge in Gumbrecht / Pfeiffer (Anm. 2).   zurück