Till Dembeck

Rahmen-Analysen der Wahrscheinlichkeit




  • Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. (Wissenschaftsgeschichte) Göttingen: Wallstein 2002. 472 S. Broschiert. EUR 54,00.
    ISBN: 3-89244-593-1.


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Wissenschaftshistorische Studien zur Probabilität, so die vorliegende Arbeit von Rüdiger Campe, sehen meist in der »Axiomatisierung der Wahrscheinlichkeit« im 20. Jahrhundert »das Telos der Geschichte mathematischer Wahrscheinlichkeit«: Jedes »semantische Verständnis des Kalküls« (S. 22), d.h. jede Definition von Wahrscheinlichkeit über ›real‹ vorkommende Häufigkeitsverteilungen oder statistische Regelmäßigkeiten, erscheint in Arbeiten wie denen von Lorraine Daston, Ian Hacking und Ivo Schneider 1 als ein Hindernis auf dem Weg zu vollen Entfaltung der Effizienz des Kalküls.

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Gerade um die Konsequenzen, die sich aus einem ›semantischen Verständnis‹ der Wahrscheinlichkeitsrechnung im genannten Sinne ergeben, geht es Campe. Dabei gilt sein Augenmerk zunächst einer Bewegung, die, so die These, die Berechnung von Wahrscheinlichkeit überhaupt erst ermöglicht: Die Anwendung eines glücksspieltheoretischen Kalküls, der sich bislang nur sehr speziellen Problemen gewidmet hatte (beispielsweise der Gewinnaufteilung bei vorzeitigem Spielabbruch), auf den Gegenstandsbereich der Topik, der es zuvor zwar um die Systematisierung von wahrscheinlichen Argumenten gegangen war, keinesfalls aber um deren Berechnung.

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Vor dem Hintergrund dieser Annahme widmet sich die Arbeit Lektüren, die Interrelationen zwischen all dem, was im zugrunde gelegten Zeitraum als Wahrscheinlichkeit verhandelt wird, in teils akribischer Analyse verfolgen. Dabei vermag die Studie eine erstaunliche Komplexität der historischen Gegebenheiten aufzudecken. Gerade das vermeintlich Randständige erweist sich dabei oftmals als ein Weg ins Zentrum des Geschehens. So kann Campe im zweiten Teil der Arbeit zeigen, wie in Romanen des 18. Jahrhunderts scheinbar nebensächliche Anspielungen auf Wahrscheinlichkeit und ihre Berechnung einen zentralen Stellenwert für die inhärente Theorie der Texte haben. Auch die für die Zeit zentrale poetologische Diskussion um Wahrscheinlichkeit zehrt mithin von Überlegungen, die zunächst den Wahrscheinlichkeitskalkül betroffen haben.

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Im folgenden werden zentrale Schritte der Campeschen Argumentation recht detailliert nachvollzogen. Dies erscheint angeraten, will man den Lektüren gerecht werden, deren entscheidende Pointen sich oft erst aus den Details ergeben. Campes Analysen der literarischen Texte soll dabei ein besonderer Stellenwert zukommen. 2

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Glücksspieltheorie und
topische Wahrscheinlichkeit

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Die rhetorische Tradition, so Campes Rekonstruktion, situiert das Wahrscheinliche in sehr enger Beziehung zum Wirklichen. Nachdem Aristoteles zwischen den Dingen, die im strengen Sinne wahrheitsfähig sind (und sich durch Syllogismen zeigen lassen), und demjenigen, was bloß wahrscheinlich ist, unterscheidet, wird das Wahrscheinliche spätestens bei Cicero unmittelbar operativ einzusetzendes Wissen. Cicero betont in enger Bezogenheit auf die Institution des Gerichtsprozesses die performative Dimension der Topik und konstruiert sie »nach dem Modell der wahrscheinlichen Erzählung« (S. 141). Die Argumente, mittels derer Wahrscheinlichkeit hergestellt werden kann, werden dabei als allgemein und unmittelbar zugänglich (eben als Gemeinplätze) vorgestellt.

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Bei Cicero betrifft die Lehre der topischen Wahrscheinlichkeit insbesondere die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Ereignissen: Die Topik müsse nicht nur »die Kunst, wahrscheinliche Argumente zu finden« umfassen, sondern auch »die Kunst des Urteils über Wahrscheinlichkeit« (S. 114). Letzterer Teil der Topik aber findet sich weder bei Cicero noch in der auf ihn zurückgreifenden Tradition ausgearbeitet.

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Dies steht im Zusammenhang mit einer anderen ›Lücke‹ innerhalb der Tradition topischer Wahrscheinlichkeit: Ebenfalls bei Cicero findet sich nämlich die Unterscheidung zwischen den inneren Umständen eines Ereignisses, »die im Geschehen selbst liegen«, und den äußeren, »die auf den Aussagen anderer über dieses Geschehen beruhen« (S. 115). Die inneren Umstände sind für die ›wahrscheinliche Erzählung‹ von Bedeutung. Dagegen ist die Beurteilung der äußeren Umstände, der »Beobachtungen anderer« (S. 116) für Cicero kein zentraler Gegenstand der Topik.

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Antoine Arnaulds Logik von Port-Royal (1662), die die Engführung von Glücksspieltheorie und topischer Wahrscheinlichkeit erstmals vollzieht, und Jakob Bernoullis Ars conjectandi (1713), deren viertes Buch den Versuch einer »Anwendung [des Wahrscheinlichkeitskalküls, T. D.] im bürgerlichen Leben und in der Moral« (S. 130) darstellt, füllen genau diese ›Leerstelle‹ der antiken Topik: Zu der den wahrheitsfähigen Syllogismen zugeordneten geometrischen Methode gesellt sich die Glücksspieltheorie 3 als jener Teil der Topik, der eine Methode zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagen beinhaltet hätte. Sowohl Arnauld als auch Bernoulli greifen dabei die Unterscheidung zwischen den inneren und den äußeren Umständen auf und machen beide zum Gegenstand der Berechnung.

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Bei Bernoulli werden dabei die einzelnen argumenta, die ein Ereignis erklären können, nach ihrem Existenzwert (betrifft das Argument einen notwendig oder nur kontingent gegebenen Umstand?) und ihrem Indikationswert (erklärt es notwendig oder nur kontingent das in Frage stehende Ereignis?) bewertet. Indem Bernoulli sowohl Existenz- wie Indikationswert eines Arguments für der Berechnung unmittelbar zugänglich hält, konstruiert er, wie Campe formuliert, eine »Welt telekommunikativer Lektüre« (S. 133): Auch die Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Argumente, die das Ausbleiben eines Briefs des verreisten Bruders erklären mögen, erschließt sich unmittelbar dem analytischen und berechnenden Zugriff. Es gibt mithin für Bernoulli keinen Unterschied zwischen der Welt, die der Fall ist, und ihrer Rekonstruktion im Kalkül: »Argumente, die man bewertet, und Ereignisse, die man zählt, haben in ein und derselben Welt der angewandten Wahrscheinlichkeit statt.« (S. 134)

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Diese Voraussetzung bezweifelt bereits Leibniz. Zwar wäre eine vollständige logica probabilium das »theo-ontologische Schlußstück seines ungeschriebenen Systems« (S. 180). Aber es bleibt aus systematischen Gründen immer bei ihrer bloßen Ankündigung. Letztlich nämlich käme die vollständige Einsicht in das Kontingente der Einnahme einer göttlichen Position gleich. Jedes kontingente Ereignis, so Leibniz, ist durch unendliche viele verschiedene Faktoren bestimmt:

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Daß man Unendlich als Zahl der Umstände oder der Beobachtungen aussagen und schreiben, nicht aber unendlich viele Umstände nennen und die Gleichung der Wahrscheinlichkeit mit einer unendlichen Zahl von Beobachtungen ausrechnen kann: in diesem Paradox liegt die theo-ontologische Eigenart der Kontingenz. (S. 182)
[13] 

Die Einheit der besten aller möglichen Welten, wie sie der ›Satz vom Grunde‹ impliziert, hat für Leibniz daher keinen vollständigen rechnerischen Zugriff auf die Kontingenz zur Folge.

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Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, so Campes Rekonstruktion, ziehen Lambert und Kant aus dieser Schwierigkeit weiter gehende Konsequenzen: Für Lambert lässt sich jeder »wahrscheinliche Satz« (S. 362) nicht mehr ohne Weiteres auf die Wirklichkeit zurück beziehen, weil der nur eingeschränkten Gültigkeit von Prädikaten (A ist – mit einer Wahrscheinlichkeit von ¾ – B) kein ontologischer Gehalt entsprechen kann. Trifft er doch keine Aussage über Realität, sondern über den Status einer Aussage über Realität. Ähnlich wie nach Lamberts Verständnis die imaginären Zahlen hat der wahrscheinliche Satz aber dennoch eine rein formale Validität und ermöglicht seinerseits Folgerungen, deren Schlüsse wiederum einen ontologischen Gehalt aufweisen – so wie Berechnungen mit imaginären Zahlen auf reelle Ergebnisse führen können.

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Radikaler als Lambert zeigt Kant in seinen Logik-Vorlesungen, »daß es zwischen dem Berechenbaren und der diskursiven Beobachtung gar nicht die Einheit einer Wahrscheinlichkeit gibt« (S. 383). Bei der diskursiven, auf die Realität bezogenen Beurteilung mehr oder weniger wahrscheinlicher Argumente lassen sich nämlich »die unzureichenden Gründe, die man im Auge hat, zum zureichenden Grund, d.h. zur Summe aller einzelnen Gründe« (S. 384), nicht in ein berechenbares Verhältnis setzen. Nur im Rahmen der Konstruktion einer von der Realität unterschiedenen Welt lässt sich ein dazu notwendiges begrenztes Set von Voraussetzungen bestimmen.

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Bei Kant wird mithin die Identität zwischen berechenbaren Welten und der als einheitlich gegeben vorausgesetzten Realität obsolet – und damit auch die Engführung von topischer Wahrscheinlichkeit und Glücksspielkalkül problematisch.

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Statistik, Ästhetik
und Risikomanagement

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Eine entscheidende zweite Linie der Evolution von Konzepten der Wahrscheinlichkeit ist eng verbunden mit der Entwicklung der Ästhetik, bestimmt aber bereits das Verhältnis von Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie im 17. und 18. Jahrhundert: Denn eine wesentliche Entscheidung, die die Engführung dieser beiden Bereiche ermöglicht, betrifft Fragen der Darstellung.

So wie in der ästhetischen »Politik des Scheins des Wahren [...] Wahrscheinlichkeit Wahrnehmung von Sinn« (S. 212) heißen wird (z.B. bei Baumgarten), wird die Engführung der zwei im 17. Jahrhundert entwickelten Arten von Statistik vermittels der Evidenz tabellarischer Darstellung vollzogen. Die politische Arithmetik einerseits und andererseits die topische Staatsbeschreibung, die den Staat in seinem je singulären, gegenwärtigen Zustand beschreibt, ohne numerische Informationen einzufügen, bleiben zuvor lange Zeit getrennt (teils noch bis 1760).

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Erst die Mathesis forensis, später die ›angewandte Mathematik‹, die das statistische Allgemeinwissen aller ›Verwaltungswissenschaften‹ umfasst, und schließlich paradigmatisch die aus der statistischen Nebentätigkeit des protestantischen Pfarrers Johann Peter Süßmilch hervorgegangene Schrift über die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts (1741) vollziehen die Semantisierung und Ästhetisierung des Zahlenwerks in der Tabelle: Tabellen nämlich zeigen »etwas, das sie nicht aussagen, und sagen damit etwas aus, das sie nur zeigen« (S. 224).

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Stellt die Tabelle den statistischen Schein des Wahren ›vor Augen‹, so differenziert eine Schrift Abraham Gotthelf Kästners von 1751 die ästhetische Distanznahme gegenüber der Kontingenz und ein berechnendes Risikomanagement gegeneinander aus. Auf die Frage nach den Pflichten des Menschen angesichts der providenziellen Fügung allen Geschehens entfaltet Kästner nicht nur ein Programm des Exerzitiums, das gegen glücklichen wie unglücklichen Zufall immunisieren soll. In Anlehnung an Daniel (des Neffen von Jakob) Bernoullis Werttheorie und dessen Lösung des Petersburger Problems, die erstmals die möglicherweise ungleiche ökonomische Ausgangslage der Spieler in den Kalkül mit einbezieht, beschäftigt er sich auch mit dem Gebrauch, den man von der Erkenntnis der providenziellen Einrichtung der Welt machen kann. Es ergibt sich eine »Theorie des Risikos« (S. 295) und damit eine neue Ästhetik, die dem »Zuschauer [...] die Gesetzestafeln einer Natur, in die auch der Schöpfer selbst nicht mehr durch Spezialprovidenz eingreifen kann« (S. 295), vorlegt.

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Schnabel, Gellert und die Statistik

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Die ästhetische Dimension der Wahrscheinlichkeitstheorie als einer Theorie vom ›Schein des Wahren‹, wie sie bereits in der Tabelle der Statistik zum Tragen kommt, erfährt ihre paradigmatische Behandlung in der Romantheorie – mithin in der Theorie einer ›Nicht-Gattung‹, der es an einer institutionell gefestigten Rahmentheorie fehlt und die deshalb eine in den Texten selbst entfaltete Theorie benötigt.

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Im Anschluss an ein ausführliches Kapitel zu Defoes Robinson Crusoe (1719) setzen wiederum mit Defoe, nämlich mit A Journal of the Plague Year (1722), Campes Untersuchungen zur Funktionalisierung des tabellarischen ›Vor-Augen-Stellens‹ im Roman ein. Die Tabelle, so Campe, kann nämlich im engen Bezug auf rhetorische Techniken der abschließenden enumeratio und des eine Zusammenschau ermöglichenden tableau gesehen werden: »Der Roman ist zwar kein Tableau im technischen Sinne, aber sein poetologisches Defizit an Geformtheit kann er nur kompensieren, indem er sich als Tableau einer Welt verfaßt zeigt.« (S. 242)

[24] 

Zeigt schon die Analyse des Berichts eine enge Bezogenheit des als »Protoroman« (S. 248) verstandenen Textes auf Formen staatlicher Statistik (hier der Londoner Sterbestatistiken), so ist dieser Bezug in den ersten drei Bänden von Schnabels Wunderliche Fata (Insel Felsenburg) (1731–1734) noch augenfälliger: Campe situiert die im Text wiedergegebenen Tabellen vor einer komplexen Struktur aus erzählenden und beschreibenden Passagen. In der Tabelle, so Campe, kulminiert die Stillstellung des Raumes, die für die Insel als Utopie konstitutiv ist: »Die Tabelle ist das Gegenbild zum Abenteuer der Lebenserzählungen.« (S. 260)

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Insgesamt zeichnet sich dabei eine Gruppierung der staatstragenden Erzählungen und Beschreibungen um die »Bevölkerungsstatistiken« als das »Herzstück des Romans« ab: 4 »In ihnen stellt sich dar, wie immer wieder das Erzählbare zum beschreibbaren Zustand wird.« (S. 269) Die Statistik als ein Darstellungsmedium, das »die Einzelheiten der Geschichte« einer Evidenz allgemeiner Gültigkeit zuführt, wird nach »Maßgabe der berühmten Formel aus der Aristotelischen Poetik, wonach die Dichtung im Medium der Wahrscheinlichkeit die Singularitäten der Historie dem Allgemeinen der Philosophie annähert, [...] poetisch« (S. 270).

[26] 

In Gellerts Leben der schwedische Gräfin von G*** (1747 / 48) werden, wie Campes Rekonstruktion zeigt, die den Roman als Implementierung der Kästnerschen Risikotheorie liest, »providentielle Steuerung« bzw. »probabilistische Abschätzung« von Ereignissen zugleich »auf der Ebene der Personen im Roman, der Weltmodellierung des Romans und der formalen Bestimmtheit des Romans« relevant (S. 306). Nachdem der Roman von Beginn an die ästhetische Distanznahme gegenüber der Providenz als psychologische Strategie relativiert, wird der idyllische Mittelteil des Romans (über der Gräfin Ehe mit dem Herrn R* in Amsterdam) zum Exempel für eine Verklammerung von »Ästhetik und Kalkül des Zufalls« (S. 304).

[27] 

Die geschäftlichen Unternehmungen der Gräfin und ihres bürgerlichen Gatten stehen auf der Grundlage eines Risikomanagements, während das grausame Schicksal der illegitimen Familie Marianes Anlass zu einer Betrachtung gibt, die »den Zufall, der andere trifft, als Werkzeug der Providenz zu durchschauen« versucht (S. 302). In diesem Sinne, so Campe, entsteht bei Gellert »eine Welt der Kontingenzbewältigung, deren Gesetz [...] schon probabilistisch ist. Die Wahrscheinlichkeit, die sie erzählt, wird kraft dieser Erzählung zum Schein der Wahrheit dieser Welt.« (S. 304) Die inhärente Theorie des Romans entfaltet sich hier, indem Dargestelltes und Darstellung eine unhintergehbare Einheit eingehen: »Ordnung des Erzählens und Finalität des Erzählten werden der Tendenz nach ununterscheidbar: Rhetorik des Erzählens, die den Roman möglich macht, oder Teleologie der Geschichte, die der Roman mitteilt« (S. 305).

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Unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit

[29] 

Die klassische Figur, die die Romantheorie annimmt, ist zwar in allen bisher genannten Beispielen angelegt, wird von Campe allerdings ausführlich anhand zweier anderer Texte erläutert: Fieldings The History of Tom Jones (1749) und Wielands Geschichte des Agathon (1766 / 67). Es handelt sich um die Figur der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit.

[30] 

Die antike Topik betrachtet die unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit, so Campe, »als Scheinargument, als Sophisma: ein Argument, das mit dem Schein, der in Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit steckt, falsches Spiel treibt« (S. 309): Wenn es der eigenen Argumentation – beispielsweise von Gericht – zweckdienlich erscheint, kann man das normalerweise Unwahrscheinliche dennoch für unter den gegebenen Umständen wahrscheinlich erklären.

[31] 

Als unwahrscheinlich kann aber auch die Möglichkeit betrachtet werden, überhaupt eine Sphäre berechenbarer Wahrscheinlichkeit isolieren oder rahmen zu können. In diesem Sinne ist im Paradox des unwahrscheinlichen Wahrscheinlichen bereits die Möglichkeit einer Ebenendifferenzierung angelegt. Der Status des Gerahmten (und als solches Wahrscheinlichen) ist dann ein anderer als derjenige des Rahmens. Diese in der Antike noch nicht systematisch ausgeleuchtete, aber für die Romantheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidende Überlegung entfaltet, so Campe, die Paradoxie der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit vermittels der Ausdifferenzierung von Beobachterpositionen (durchaus im Luhmannschen Sinne; vgl. S. 312).

[32] 

Wielands Agathon beispielsweise handelt nicht nur von Unwahrscheinlichkeiten, wie sie in der ersten Ausgabe (auf die Campe sich hier konzentriert) sogar in einigen Kapitelüberschriften angekündigt werden. Er setzt die Erzählung gleichzeitig ein in ein komplexes Setting von Äußerungsinstanzen, die ihrerseits teils über Wahrscheinlichkeit sprechen.

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So geht es gleich in der Vorrede um die Unwahrscheinlichkeit, das Publikum davon überzeugen zu können, die Erzählung entstamme einem griechischen Manuskript. Gleichwohl findet sich an späterer Stelle eine ›Apologie des griechischen Autors‹. Und schließlich wird der Status der Erzähl- bzw. der Herausgeberinstanz noch weiter ins Ungewisse gerückt, wenn der griechische Autor angeblich seinerseits auf ein Tagebuch Agathons zurückgreift.

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Nun denken der Herausgeber und Agathon das Verhältnis zwischen dem Singulären und dem in die Sphäre des Wahrscheinlichen Eingebundenen unterschiedlich: Laut dem Herausgeber müssen die unverbundenen Singularitäten der Wirklichkeit erst gerahmt werden, um in ihrer Verbundenheit beobachtbar zu werden. Dagegen sind sie für Agathon immer schon verbunden und erscheinen nur im Traum als singulär und unverbunden. In ihrer Gegensätzlichkeit eröffnen die Äußerungen des Herausgebers und Agathons damit die dem Roman inhärente romantheoretische Dimension.

[35] 

Für den Erzähler bleibt demgegenüber das genannte Verhältnis im Vollzug seines Amtes unentschieden: Hier ist die »Technik der narrativen Darstellung, der unwahrscheinlichen Rahmung von Wahrscheinlichkeit und Berechenbarkeit von Verhaltenskontingenzen« schlicht »am Werk« (S. 334). Im Vollzug der narrativen Rahmung muss davon ausgegangen werden, die im Erzählen hergestellte Wahrscheinlichkeit der Darstellung entspreche einer vorgängigen Wahrscheinlichkeit des Dargestellten. Gerade der ›Märchenschluss‹ der ersten Fassung des Romans verdeutlicht aber, dass sich diese Entsprechung einer letztlich kontingenten Setzung verdankt.

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Der Roman macht also einerseits deutlich, dass er das Erzählte nur vermittels seiner Rahmung als wahrscheinlich vorstellen kann. Andererseits rückt er die Umstände dieser Rahmensetzung ins Ungewisse, macht sie also gerade nicht wahrscheinlich. Damit ist hier der Rahmen der wahrscheinlichen Darstellung unwahrscheinlich geworden – ganz im Sinne der Figur der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit, zu der sich die explizite und implizite Theorie dieses Romans verdichten.

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Fazit

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Die Studie ist in ihren historischen Thesen und in ihren Lektüren sehr differenziert und umsichtig ausgearbeitet. Ihre grundlegenden Überlegungen sind keinesfalls selbstverständlich und in ihrer Prägnanz schlagend. Sicherlich bietet die Studie keine flächendeckende Rekonstruktion eines ›Diskurses der Wahrscheinlichkeit‹. Das ist aber auch gar nicht beabsichtigt und angesichts der Komplexität der Gegenstände, wie sie Campe offen legt, auch kaum möglich. Campe situiert statt dessen seine ausgiebigen Einzelanalysen – von denen hier längst nicht alle rekonstruiert worden sind – 5 vor einem Hintergrund gut informierter allgemeinerer Rekonstruktionen. Dieses Verfahren einer ebenso intensiven wie extensiven Lektüre, die immer auch sichtbar macht, wann welcher Modus verwendet wird, könnte sich als modellhaft erweisen.

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Es bleiben mithin nur wenige Kritikpunkte. Einer könnte darin bestehen, dass zumindest im zweiten Teil teilweise ein chronologisches Vorgehen für mehr Übersicht gesorgt hätte. Im Rahmen des jetzigen Aufbaus müssen weite Teile der Entwicklung beispielsweise der Statistik bei Bedarf in Rückblicken nachgetragen werden.

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Ein anderer, ebenso nebensächlicher Punkt betrifft die von Campe verwendeten mathematischen Notationen: In der Rekonstruktion der einzelnen mathematischen Bespiele schleichen sich, obwohl die Notation insgesamt selbsterklärend zu sein scheint, Ungenauigkeiten ein, die zumindest dem mathematisch einigermaßen geübten Leser Schwierigkeiten bereiten (z.B. S. 158, 412 f.). 6 Dies aber sind Kleinigkeiten. Die grundsätzliche Leistung der Arbeit bleibt von ihnen ungeschmälert.

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Sehr überzeugend ist schließlich Campes Analyse der Figur der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit. Der Rückgriff auf die systemtheoretisch angehauchte Begrifflichkeit des Beobachters – dies sei als Ausblick angefügt – mag daran erinnern, wie bei Luhmann im Zusammenhang seiner Kunsttheorie Beobachtung ins Spiel kommt. Wenn Campe den einzelnen Roman als Ausformung eines unwahrscheinlichen Rahmens beschreibt, der dann eine wahrscheinliche Welt sehen lässt, wird der Roman damit nicht zuletzt zu einer Vorführung der Bedingungen der Möglichkeit der Beobachtung von Welt. Laut Luhmann ist es ja die immer unwahrscheinliche Etablierung von Systemgrenzen, die Welt (unter Ausschluss der Möglichkeit eines unmittelbaren operativen Zugriffs!) überhaupt beobachtbar werden lässt: Erst mit der Emergenz der Systemgrenze entsteht die Möglichkeit kohärenter Weltbeschreibung. Indem beispielsweise Wielands Roman dies in seiner Rahmung deutlich macht, erfüllt er die Funktion der Kunst: vorzuführen, wie auf der Grundlage eines kontingenten Beginns gleichwohl Ordnung, ja Welt emergiert. 7 Damit wird der Wahrscheinlichkeitskalkül auch zu einem Katalysator der Ausdifferenzierung des Kunstsystems.


Till Dembeck, M.A.
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Deutsches Institut
DE - 55099 Mainz

Ins Netz gestellt am 03.10.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. phil. habil. Johannes Endres. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Till Dembeck: Rahmen-Analysen der Wahrscheinlichkeit. (Rezension über: Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen: Wallstein 2002.)
In: IASLonline [03.10.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=920>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Lorraine Daston: Classical Probability in the Enlightenment. Princeton: Princeton University Press 1988; Ian Hacking: The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference. Cambridge: Cambridge University Press 1984; I. H.: The Taming of Chance. Cambridge: Cambridge University Press 1990; Ivo Schneider: Die Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Mathematik von Pascal bis Laplace. Habilitationsschrift München 1972.   zurück
Dieses Verfahren mag insbesondere deshalb statthaft sein, weil eine eher überblicksartige Rekonstruktion der Arbeit in der Rezension von Stefan Metzger bereits vorliegt.   zurück
Zur Glücksspieltheorie vor ihrer Engführung mit der topischen Wahrscheinlichkeit siehe die Kapitel zu Pascal und Huygens.   zurück
Vgl. zu diesem Befund Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zweite, durchgesehene und korrigierte Auflage. Zürich / Berlin: diaphanes 2004, S. 192 ff. Drei der vier von Vogl im Zuge seiner Rekonstruktion politökonomsichen Wissens unter dem Stichwort der »[n]arrative[n] Ökonomik« (S. 170) behandelten Romane werden auch von Campe untersucht: neben Schnabels Roman Gellerts Schwedische Gräfin und Wielands Agathon.   zurück
Abgesehen von einer Vielzahl hier nicht erwähnter theoretischer Texte finden sich Analysen zu Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und zu Kleists Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten (1811) und Michael Kohlhaas (1810).   zurück
Ein Beispiel sei ausführlich zitiert: »Die Sterblichkeitsrate notierte Euler als abnehmende Reihe mit den Gliedern R = {N – (1)N, (1)N – (2)N, (3)N – 4(N) ... (n – 1)N – (n)N} (wobei N die Zahl der in einem Jahre Null geborenen Kinder, und {(1), (2), (3) ... (n)} die Reihe abnehmender Brüche darstellen für (n) < 1, die den Teilmengen der in den Jahren {1, 2, 3 ... n} jeweils noch Lebenden entsprechen). Unabhängig davon ist die – in jeweils bestimmten Orts- und Zeitausschnitten – konstante Funktion der Fruchtbarkeit oder Fortpflanzung: F = α M (wobei M die Zahl der in einem Abschnitt, z.B. einem Jahr, jeweils lebenden Personen und F die Zahl der jeweils geborenen Kinder darstellen, der Koeffizient α also der als konstant angenommene Fruchtbarkeitsfaktor ist). Wenn man nun sowohl die Funktion der Sterblichkeit wie die der Fruchtbarkeit für einen angenommenen Abschnitt als konstant ansieht und äußere Einwirkungen nicht berücksichtigt, folgt, dass die Zahl der Geburten in einem konstanten Verhältnis zur Gesamtzahl der Lebenden steht. So kommt Euler zur Reihe der Geburtenzahlen für die Jahre 1, 2, 3 ... n: G = {N, nN, n2N, n3N ... nnN}, für N als Zahl der Geburten in einem Jahr 0 und n als Faktor, um den sich im Jahre 1 die Zahl der Geburten verändert hat. ›[D]ie Zahl der jährlichen Geburten wird eine geometrische Reihe darstellen, die entweder steigende, fallende oder gleiche Werte hat‹ [Zitat Euler, T.D.], je nachdem ob n > 1, n < 1 oder n = 1 ist.« (S. 412 f.) Dieser Abschnitt ist nahezu unverständlich und vermag das Eulersche Argument kaum zu erfassen. In der letzten Gleichung für die Geburtenrate macht Campe den offensichtlichsten Fehler, denn hier steht n zugleich für den »Faktor, um den sich im Jahre 1 die Zahl der Geburten verändert hat«, und für eine beliebige, von diesem Faktor völlig unabhängige natürliche Zahl.   zurück
Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1995, S. 222–242.   zurück