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Ursus orator?

Eine problematische Studie zu Johann Beer

  • Andreas Solbach: Johann Beer. Rhetorisches Erzählen zwischen Satire und Utopie. (Frühe Neuzeit 82) Tübingen: Max Niemeyer 2003. VII, 456 S. Gebunden. EUR (D) 92,00.
    ISBN: 3-484-36582-X.
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Andreas Solbach hat seit Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Beiträge über den Erzähler Johann Beer publiziert. Der vorliegende Band, Solbachs überarbeitete Habilitationsschrift (ursprünglich vorgelegt 1994 an der FU Berlin), zieht eine Summe aus seiner langjährigen Beschäftigung mit Beer und weckt einige Erwartungen, zumal sie den Anspruch erhebt, als erste umfassende Monographie seit Beers Wiederentdeckung durch Richard Alewyns Habilitationsschrift von 1932 1 »das gesamte Werk des Autors [...] analytisch und interpretatorisch zu bewerten« (S. VII).

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Ansatz und Aufbau

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Solbach geht von einem »narratologische[n] Frageansatz« (S. VII) aus mit dem Ziel, »die Einheit des literarischen Werks von Johann Beer aufzuzeigen« (S. 2). In einer weitgehend chronologisch angelegten Folge von Einzelinterpretationen zu Beers Texten soll die »organische Entfaltung eines gegebenen Erzählansatzes« (S. 129) aufgezeigt werden. Dafür konzentriert sich Solbach primär auf die Anlage der Erzählerfigur(en). Als Ergebnis gelangt Solbach zur Einschätzung Beers als weltanschaulich Konservativem, der als Erzähler jedoch ein experimentierfreudiger Erneuerer gewesen sei: Beer entwickle insgesamt in seinem literarischen Schaffen »den Rahmen eines Lebenslauf-Romans als Ich-Erzählung, ohne jedoch den traditionellen Mustern der satirischen Narrenrevue oder des pikarischen Bekehrungsromans zu folgen« (S. 442). Beers erzählerisches Werk zielt laut Solbach auf die Entwicklung dieses Modells, die sich über verschiedene Stufen vollziehe und von poetologischen Reflexionen (insbesondere in den Vorreden) begleitet werde.

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Die frühen Rittererzählungen der Jahre 1677–1679 (Ritter Hopffen-Sack, Prinz Adimantus, Ritter Spiridon und der Artliche Pokazi) bestimmt Solbach als satirische Umkehr des frühmodernen Ritterromans vom Schlage des Amadis. Beer demontiere dieses Erzählmodell sowohl satirisch als auch durch die Übertreibung ins Groteske, worin Solbach ein erzähltechnisches Problem sieht: Weil die Groteske die satirische Intention unterläuft und bricht, zerfallen die Texte in disparate Episoden und lassen sich nicht durch eine sinnstiftende Erzählerfigur bündeln.

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Solbach sieht die Gruppe der Ritterromane somit als eine erzählerische »Sackgasse« (S. 79) an, auf die Beer durch einen Neuansatz im Simplicianischen Welt-Kucker (1677–1679) reagiert habe. Hier verzichte Beer auf eine parodistische Handlungstektonik, indem er auf das Pikaro-Modell zurückgreife. Dies werde dann aber in der zweiten Hälfte des Werks »durch einen Diskurswechsel [...] in die uneindeutige und unernste Ritterwirklichkeit« (S. 87) wieder aufgelöst, was Solbach als »Regression« deutet. Nur durch eine zweite Volte, den Wechsel in das »Adieu Welt« des IV. Teils, das Solbach als direkte und unverstellte Moral, ja sogar als nicht-fiktionalen, »unverfälschte[n] Ausdruck der Autorrede« (S. 94) ansieht, gelinge Beer dann die »Rettung« seiner laut Solbach »ernsthaft-belehrende[n] Intention« (S. 91). Das IV. Buch entwerfe zudem ein neues Erzählmodell, das für die weiteren Werke Beers wichtig werde: »Ein zunächst zentraler Ich-Erzähler wird peripher und entwickelt sich als passiver Held und Zuhörer« (S. 108).

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Einen nächsten Schritt in Beers Entwicklung sieht Solbach im Corylo (1679/80) und im Jucundus Jucundissimus (1680). Beim Corylo setzt Solbach den Fortschritt einer »neuen und gewandelten Erzählperspektive« (S. 116) einerseits im Schwund der Moralisatio an, die weniger explizit verkündet als zunehmend in die fiktionale Handlung integriert werde, andererseits in der Verabschiedung der Ritterwelt. Der Erzähler trete an den Rand der Ereignisse, könne aber von dort aus durchaus wieder in die Handlung eingreifen (S. 119); somit werde hier erstmals »wirklich eine neue Erzählperspektive etabliert: Der Ich-Erzähler wird zum peripheren Erzähler, der multiperspektivisch erzählen kann, ohne seine eigene Vita als Grundlage der Gesamtstruktur aufzugeben« (S. 126). Jucundus Jucundissimus differenziere dieses Modell dann durch den verstärkten Einbezug von Binnenerzählern aus.

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In den satirischen, meist misogynen Schriften, die weitgehend aus den frühen 1680er Jahren stammen (Weiber-Hächel, 1680, Jungfer-Hobel, 1681, Bestia Civitatis, 1681, Kleider-Affe, 1685, Der Politische Feuermäuer-Kehrer, 1682, Der Politische Bratenwender, 1682, Der Verkehrte Staatsmann, 1700, Der Verliebte Europäer, 1682) 2 , werde nun das im Corylo etablierte Erzählmodell modifiziert: »Die abbrevierten Viten der sekundären Erzähler und die Begebenheiten der Protagonisten emanzipieren sich von der Funktionalisierung durch die Erzählerbiographie, die nun rein formales Elemente wird, und erweitern sich zu eigenständigen Handlungseinheiten satirischer Art.« (S. 155) Solbach bestimmt diese Texte erneut als ernst gemeinte Versuche der Lasterkritik, insbesondere der Affektverfallenheit. Die auffällig misogynen Züge sieht er ebenso wie die zum Teil extrem grausamen Strafphantasien und -rituale als Teil dieser Wirkungsabsicht an. Die direkte Erzählform freilich erweise sich als problematisch, weshalb Beer sie in den späteren Romanen wieder vermeide. Für Solbach stellen all diese Werke damit letztlich gescheiterte »Erzählexperimente« dar (S. 240).

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Die nächste Stufe in Beers literarischem »Arbeitsprogramm« (S. 109) sieht Solbach im Bruder Blaumantel (1700) und dem Narren-Spital (1681) erreicht. Hier greife Beer das Modell des Lebenslaufromans ohne Liebeshandlungen auf. Ähnlich wie im klassischen Pikaroroman vom Schlage des Lazarillo de Tormes führe die Komplizenschaft des Helden mit der betrügerischen Politik der Welt hier zu einem zwiespältigen Ergebnis: Der Pikaro müßte eigentlich als Machiavellist enden, wenn nicht am Ende die religiöse Wende erfolgte. Diese aber erweise sich meist als mangelhaft motiviert und erzählerisch wenig integriert (S. 261). Dennoch erreiche Beer in den beiden Texten neue Positionen. Im Blaumantel, der zwar insgesamt scheitere (S. 260 f.), werde die »Perspektive des urteilenden Satirikers« (S. 240) zum Thema des Romans, während »im Narrenspital endlich die Lösung gefunden wird: Der Ich-Erzähler rückt als Miterlebender an den Rand, ohne daß er seine wesentliche Rolle als Bewußtseinszentrum verliert, und berichtet über den Helden als Satiriker« (S. 240). Das Narrenspital wird dann im Anschluß an Michail Bachtins Rabelais-Buch 3 interpretiert; der faule Lorentz stehe für die »Hypostasierung der (karnevalistischen) Freiheiten als Lebensprinzip« (S. 291). Zugleich versucht Solbach aber, die Figur aus der Sicht des Erzählers als negative Figur eines Sünders und Narren zu deuten (S. 299) und sieht im Text erneut eine ernstgemeinte, religiös-moralisierende Aussageabsicht: »Die Frage des religiösen Glaubens [...] erweist sich am Ende des Textes als zentrale Entscheidungskategorie – letztlich für die ganze Romanwelt Beers« (S. 305).

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In einer letzten Gruppe von Texten versammelt Solbach nun den posthumen Verliebten Österreicher (1704) und die sogenannte Willenhag-Dilogie (die Teutschen Winternächte und Die kurtzweiligen Sommer-Täge, 1682/83). Der Österreicher entwickle das Pikaro-Schema zum Muster der geglückten Standeserhöhung im landadeligen Milieu weiter; die Eremitage habe dabei eine »mehrfache Entlastungsfunktion« (S. 329) und werde am Ende durch die Hochzeit und gesellschaftliche Integration des Erzählers abgelöst, wodurch es zu Ähnlichkeiten zum Erzählmodell des höfisch-historischen Barockromans komme – laut Solbach »ein einstimmiges, aber auch innovatives Ende« (S. 330) .

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Der große Doppelroman, der schon immer im Zentrum der Beer-Forschung stand, bildet nun auch für Solbach den Höhepunkt. In ihm erfülle sich endlich Beers »Erzählprogramm« (S. 331): eine periphere, multi-perspektivische Ich-Erzählsituation und die Einordnung der Erzählervita in ein Ensemble gleichberechtigter Lebensläufe, die sich schließlich meist als miteinander verbunden enthüllen. Die zahlreichen Wiederholungen der umfangreichen Dilogie sieht Solbach als strukturbildendes Formprinzip, ja als »Erfüllung« (S. 333) an. Wiederum erscheint die religiöse Moral als Ziel der Literatur: »Die Bücher sollen demnach die Arbitrarität des Zeichens beseitigen und durch eindeutige Sinnzuweisung ›das Gute von dem Bösen‹ unterscheiden. [...] Der Erzähler sucht Gewißheit und Aufrichtigkeit [...] in der Autorität der Lehrdoktrin.« (S. 399) »Neben dem delectare, von Beer hauptsächlich als komische Entlastung ohne Anstößigkeit verstanden, steht das prodesse, der Unterhaltung übergeordnet und sich ihrer bedienend, als Anleitung zur gottseligen Lebensführung.« (S. 400) Als Kronzeugen dafür benutzt Solbach den intertextuellen Bezug der Sommer-Täge auf Thomas à Kempis De imitatione Christi; diesem Text widmet Solbach einen eigenen Exkurs (S. 401–419), der freilich sein Argument nicht wesentlich untermauert – denn, wie Solbach selbst feststellt, bleibt die Wirkung der Thomas-Lektüre beim Protagonisten oberflächlich. Die »Seelenruhe«, die die Protagonisten dann am Ende eben nicht in der Eremitage, sondern im beschaulichen Leben eines geselligen Landadels finden, weit abseits der Verlockungen der großen, sündhaften Welt, sieht Solbach in einer letzten Volte dann als Grund für das von ihm postulierte Ende von Beers Romanwerk in der Dilogie: »Mit dem Ende der Sommer-Täge verschwindet der Autor Johann Beer in seinem selbst gewählten Schweigen. [...] Die Winternächte und Sommer-Täge sind so der letzte Versuch des Schreibens der Wahrheit und der Beschreibung der Erlösung von der Schrift als Voraussetzung der Seelenruhe.« (S. 438 f.)

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Qualitäten

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Zu den positiven Seiten der Studie zählt, daß Solbach in der Tat als erster seit Alewyn zwar nicht das gesamte Werk, aber immerhin doch das gesamte Erzählwerk Beers in den Blick nimmt, hinzu kommen noch die kursorisch in die Argumentation einbezogenen musikalischen Streitschriften (Ursus murmurat und Ursus vulpinatur, 1697) sowie die Musicalischen Discurse (1719). 4 Die Verbindung von detaillierten Textanalysen und dem Versuch einer Gesamtschau war in der Beer-Forschung überfällig, ebenso eine Untersuchung von Beers Werk unter primär narratologischen Prinzipien – wenngleich dazu freilich durchaus mehr Vorarbeiten in der Forschung vorliegen, als Solbach glauben machen möchte; die Behauptung von einer »allgemein akzeptierte[n] Auffassung von Beer als einem ziel- und zwecklos fabulierenden Erzähltalent« (S. 441) läßt sich jedenfalls für die neuere Beer-Forschung so nicht halten 5 und ist wohl primär apologetisch zu verstehen.

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Solbach gelingt es in zahlreichen Details, die bisherige Forschung (dazu siehe jedoch unten) zu modifizieren oder zu vertiefen und Einsichten in einige Texte zu öffnen, die bislang wenig oder gar keine Beachtung in der Forschung fanden. Freilich wirkt dabei manches spekulativ, anderes abstrus (etwa die These vom »weiblichen Textkörper«).

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Der geheime Bezugspunkt: Richard Alewyn

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Alewyns Pionierarbeit erscheint explizit kaum noch in Solbachs Argumentation; freilich stellt sich bei genauerer Prüfung heraus, daß seine Arbeit erstaunlicherweise Alewyns Buch ex negativo eng verhaftet bleibt. Der gesamte Grundimpuls von Solbachs Studie wirkt wie eine reine Umkehr der Alewynschen Sicht auf Beer. Hatte Alewyn Beer in erster Linie als überschäumendes Erzähltalent bestimmt, dem die Lust am Erzählen und Fabulieren als »rein vitaler Trieb« 6 oft auf Kosten der literarischen Stringenz durchgehe, so bemüht sich Solbach in seiner Studie nahezu ausschließlich um den gegenteiligen Nachweis, daß Beers Erzählen »an keiner Stelle ziel- und zwecklos ins Blaue fabuliert, sondern konzentriert ein Erzählmodell entwickelt« (S. 444).

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Dieses Ziel bestimmt Solbachs Arbeit bis in die Details – und führt leider auch zu den großen Problemen, die diese Studie aufweist.

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Teleologisches Denken

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Um Alewyns Sicht auf den planlos dahinfabulierenden Erzähler Beer zu widerlegen, konstruiert Solbach ein Modell, aus dessen Zwängen er dann nicht mehr herauskommt. Schon die zentrale Prämisse, Beers literarisches Werk bilde eine »Einheit«, weise »eine durchgehende Intention« (S. 2) auf und ziele von Anfang an als literarisches »Arbeitsprogramm« (S. 97 u.ö.) auf die konzentrierte Entwicklung eines »Erzählmodells«, scheint doch sehr fraglich und wird nirgendwo begründet. Beers Erzählen bewegt sich in verschiedenen Traditionssträngen und literarischen Kontexten, der Autor selbst biographisch und sozial in verschiedenen Milieus und Rollen – sollte dies alles wirklich keinen Einfluß auf sein Erzählen gehabt haben, das bei Solbach als reine Ausformung eines abstrakten, geschlossenen Erzählkonzepts erscheint, das »auf die Lösung zentraler poetologischer Darstellungsprobleme hinarbeitet« (S. 444)? Die Prämisse, von der Solbach ausgeht, wirkt gegenüber der literarischen Praxis des 17. Jahrhunderts vollkommen anachronistisch und hätte daher weniger postuliert als begründet werden müssen. Mit dieser fragwürdigen Prämisse aber steht und fällt Solbachs gesamte Argumentation.

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Noch problematischer freilich ist die eigenartige Teleologie, die sich in Solbachs Entfaltung dieses postulierten Erzählmodells zeigt. Seine gesamte Argumentation läuft auf die Willenhag-Dilogie hinaus, die jenes Erzählmodell endlich nach einer Vielfalt von mehr oder weniger gescheiterten »Erzählexperimenten« verwirkliche: »Die Dilogie ist zweifellos die Summa Beerschen Erzählens und biographisch wie auch historisch die höchste Form seiner Erzählmöglichkeiten.« (S. 311 Anm. 3) Lediglich das Narrenspital wird – als eine Art Vorläufer des Doppelromans – ähnlich positiv bewertet. Es mutet wie eine Ironie der Forschungsgeschichte an, daß Solbach mit diesen Bewertungen letztlich wieder zu den Einschätzungen Alewyns zurückkehrt, von denen sich die jüngere Forschung gerade zu lösen begonnen hatte. 7

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Wegen der teleologischen Konstruktion auf die »Summa« der Dilogie hin wimmelt es in Solbachs Studie dann von (meist negativen) Bewertungen der früheren Texte: Der Ritter Spiridon belegt »den Mangel seines [Beers, JK] bisherigen Erzählens markant« (S. 108), der Bratenwender weist eine »fehlerhafte Erzählsituation« auf (S. 204), die literarischen »Aufgaben [sic!] sind im Blaumantel nur unzureichend gelöst« (S. 249) usw. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Die Texte werden kaum in ihrem Eigenwert wahrgenommen, sondern stets funktional auf das angeblich in der Dilogie gipfelnde Erzählmodell bezogen; bestenfalls erscheinen sie als Vorstufe dazu.

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Besonders deutlich macht sich dies etwa beim Verliebten Österreicher bemerkbar. Dieser Text wurde erst 1704 posthum veröffentlicht; es läßt sich philologisch stichhaltig nicht klären, wann der Text entstanden ist. Für Solbach aber ist der Fall durch die Einbindung in sein teleologisches Modell klar: Der Text weise erzähltechnisch ähnliche Züge wie die Dilogie auf, so daß »als Datierung der Niederschrift des Österreichers die unmittelbare Nähe zu den Texten der Jahre 1681/82 entscheidend wird. Die Dilogie entsteht kurz nach dem Österreicher [...].«(S. 317) Denn der »spezifische Wert« dieses Textes besteht für Solbach in seiner Funktion als Vorstufe der Dilogie, und deshalb erhält der Text bei aller Detailkritik insgesamt eher positive Bewertungen (z.B. in seinem angeblich »innovative[n] Ende«, S. 330). Die philologisch ebenso plausible Möglichkeit, daß der Text nach der Dilogie entstanden ist, schließt Solbach mit dem Argument aus, dann müsse er »als mehr oder minder enttäuschender Rückfall gewertet werden« (S. 311 Anm. 3). Hier zeigen sich schlaglichtartig die Probleme von Solbachs Studie: Das postulierte Erzählmodell wird über die Besprechung der einzelnen Texte gestülpt und steuert ihre Wahrnehmung bis in die Details ebenso wie ihre Bewertung.

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Daß das Erzählmodell, das Solbach Beer unterstellt, letztlich in die Abschaffung des Schreibens münden soll (»Die letzte Rettung liegt im Verschwinden der Erzählung selbst«, S. 439), zeigt den unfruchtbaren Systemzwang, den sich Solbach mit seinem Modell einhandelt, dann noch einmal in aller Deutlichkeit. Wenn die Dilogie eben die »Summa« und geheime Ziellinie des Beerschen Schreibens bildet, dann darf danach natürlich nichts mehr entstehen. (Doch weder beim Österreicher noch beim 1700 publizierten Staatsmann können wir eine spätere Entstehung ausschließen, und auch auf anderen Gebieten ist Beer nach der Dilogie schöpferisch fruchtbar geblieben.)

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Ausblenden der Kontexte

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Die enge Fokussierung auf sein Erzählmodell und seinen narratologischen Ansatz führt Solbach dazu, daß er die einzelnen Werke nicht nur sehr selektiv, funktional verengt wahrnimmt, sondern auch häufig ihre Kontexte ausblendet. Einige wenige, meist pauschale Verweise auf Grimmelshausen, Weise oder Moscherosch, ein (von Bachtin angeregter) Hinweis auf Bilder Breughels bei Blaumantel und Narrenspital oder der Exkurs zu Thomas à Kempis bleiben Ausnahmen in einer weitgehend textimmanent verfahrenden Argumentation. Aspekte wie die Bedingungen ›niederer‹ Texte vor 1700, Buchmarkt, Zensur etc., aber auch Beers höfische Karriere mit ihren spezifischen Zwängen bleiben bewußt ausgeklammert. 8 Beers Erzählen erscheint wie ein abgeschlossener Bereich, in dem sich ein Erzähler an sich selbst abarbeitet und »systematisch erzähltheoretische Ansätze variiert« (S. 442). Kann man wirklich ernsthaft davon sprechen, Beer gehe »weit über seine Vorgänger hinaus, denn bei ihm findet sich zum ersten Mal ein reichhaltiges Repertoire an differierenden Erzählformen, die vordem unbekannt waren« (S. 442), wenn man diese »Vorgänger« (wer auch immer damit gemeint sein mag) kaum zur Kenntnis nimmt? Und gerade die jüngere Forschung hat vorgeführt, wie fruchtbar die Einbindung des Beerschen Schreibens in sein literarisches und kulturelles Umfeld sein kann. 9

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Unscharfe Begrifflichkeit

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Zu den weiteren Problemen der Arbeit gehört ihr oft unscharfer Umgang mit der Begrifflichkeit. Dies betrifft in erster Linie den »Rhetorik«-Begriff, der für Solbachs Argumentation zentral ist und auch den Titel prägt. Solbach sieht Beers Texte zunächst von einer »Grundopposition von rationaler Rhetorik und phantastischer Invention« (S. 183) bestimmt. »Rhetorik« scheint hier also für das regelgeleitete Verfassen persuasiv orientierter Texte zu stehen; was einleuchtet, auch wenn es etwas eigentümlich anmutet, wenn dem mit der »Invention« ein Begriff entgegengesetzt wird, der doch seinerseits Teil des »rationalen« rhetorischen Regelwerks ist. Schwierig wird es dann freilich, wenn wenige Zeilen später behauptet wird, Beer entwickle »die Idee einer Rhetorik der Affekte als Gegenprinzip zu seiner eigenen, individuellen Rhetorik phantastischer Assoziationen.« (S. 183) Hier wird der Rhetorik-Begriff bereits so weit entgrenzt, daß er für die angeblich grundlegende Opposition von Regel-Rhetorik und Phantasie nicht mehr taugt. Wenn dann aber auch noch von einer »Gegen-Rhetorik des Affekts« (S. 184) oder durchgehend von einer »Anti-Rhetorik« des Grotesken gesprochen wird, die angeblich gegen die »Rhetorik« der Texte gerichtet sei (z.B. S. 65 f. oder S. 79), dann verliert der Begriff endgültig seine begriffliche Schärfe und Distinktionskraft. 10 »Rhetorisches Erzählen« meint dann im Verlauf der Arbeit eigentlich nichts anderes mehr als planvolles, strategisch bewußtes Erzählen.

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Ähnliches kann man auch beim Gebrauch anderer wichtiger Termini wie »Satire«, »Ironie« oder »Utopie« beobachten.

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Forschungsgeschichtliche Position

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Ein letzter Punkt betrifft die forschungsgeschichtliche Position dieser Arbeit. Sie bewegt sich im wesentlichen auf dem Forschungsstand von etwa 1994. Die (im Falle Beers durchaus noch überschaubare) Forschungsliteratur ist nur bis 1999 noch sporadisch einbezogen worden, nach 1999 praktisch gar nicht mehr. Vor allem die Erträge des ›Beer-Jahres‹ 2000 vermißt man schmerzlich 11 , ebenso wie Ansgar M. Cordies Bonner Dissertation von 1998, die ein großes, über 100seitiges Kapitel zu Beers Corylo enthält. 12 Stattdessen findet sich bei Solbach die Behauptung, zum Corylo »existiert [...] noch keine Sekundärliteratur [...]«(S. 109 Anm. 78). Dabei hätte gerade Cordies Einbettung Beers in den Kontext zeitgenössischer ›niederer‹ Romane (Albertinus, Dürer, Grimmelshausen) Solbach dazu verhelfen können, Defizite der eigenen Studie zu kompensieren. Bei allem Verständnis für die hohe Arbeitsbelastung bei der Übernahme von Professuren – wer die Forschungstätigkeit der letzten Jahre nicht in die Argumentation einbezieht (und damit letztlich für irrelevant erklärt), der riskiert, daß sein Buch schon bei der Veröffentlichung Züge des Veralteten trägt.

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Fazit

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Solbachs Studie kann die Erwartungen, die sie weckt, somit insgesamt nur sehr bedingt einlösen. Zweifellos wird sie in ihrer Breite und in ihrem Detailreichtum einen Bezugspunkt für die weitere Forschung zu Beer bilden. Dennoch blieben die Erkenntnisse letztlich bescheiden; daß Beers angebliche Naturwüchsigkeit faktisch eine gezielte erzählerische Strategie ist, war ja in der jüngeren Forschung bislang durchaus nicht unbekannt. Alewyns Beer-Bild ist in der neueren Forschung zu Recht verabschiedet worden; ob aber die Inversion dieses Bildes, daß nämlich »Beer systematisch erzähltheoretische Ansätze variiert, um die Leistungsfähigkeit satirischer Belehrung zu maximieren« (S. 442) und daß Beers Erzählen »an keiner Stelle ziel- und zwecklos ins Blaue fabuliert, sondern konzentriert ein Erzählmodell entwickelt, das rhetorisch gesteuert, auf die Lösung zentraler poetologischer Darstellungsprobleme hinarbeitet« (S. 444), dem Autor Beer gerechter wird, scheint mir doch sehr fraglich.



Anmerkungen

Richard Alewyn: Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts (Palaestra 181; Habil.schrift Berlin 1930) Leipzig: Mayer & Müller 1932.   zurück
Die Andere Ausfertigung Politischer Maul-Affen (1683) wird Beer in einem Exkurs abgesprochen.   zurück
Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt / M. 1987 [orig. Moskau 1965].   zurück
Die Autobiographie freilich und die anderen, in der neueren Forschung stärker betonten Schriften Beers gelangen nicht in den Blickpunkt Solbachs.    zurück
Vgl. den Forschungsbericht von Ferdinand van Ingen: Johann Beer. Werkausgabe, Leserinteresse, Forschungsstand 2000. In: Andreas Brandtner / Wolfgang Neuber (Hg.): Beer. 1655–1700. Hofmusiker. Satiriker. Anonymus. Eine Karriere zwischen Bürgertum und Hof. Wien: Turia und Kant 2000, S. 1–28.   zurück
Richard Alewyn (Anm. 1), S. 161.   zurück
Vgl. Ferdinand van Ingen (Anm. 5), S. 9 f.   zurück
Vgl. dazu z.B. die informativen Beiträge von Andrea Wicke: Beer und die Bestseller: Historische und literaturtheoretische Überlegungen zu den Politischen Romanen. In: Ferdinand van Ingen / Hans-Gert Roloff (Hg.): Johann Beer. Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter 1655–1700. Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000 (Jb. für Internationale Germanistik Reihe A, Bd. 70) Bern u.a.: P. Lang 2003, S. 421–442, und von Franz M. Eybl: Beers erzählerische Funktionalisierung des Konfessionskonflikts. In: Andreas Brandtner / Wolfgang Neuber (Hg.) (Anm. 5), S. 55–82, bes. S. 73 ff.   zurück
Vgl. z.B. Jörg Jochen Berns: Johann Beer, der Satiriker. In: Andreas Brandtner / Wolfgang Neuber (Hg.) (Anm. 5), S. 177–202; Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen 19; Diss. Bonn 1998) Berlin / New York: de Gruyter 2001; Franz Eybl: Unbeachtete Modelle für Beers Schreiben. In: Ferdinand van Ingen / Hans-Gert Roloff (Hg.) (Anm. 8), S. 505–516; Andreas Keller: »Confuse« oder »artige« Ordnung? Zum Spannungsverhältnis von forensischer Disposition und adressatenorientierter Dissimulation der oratorischen Kunst bei Johann Beer am Beispiel der Weiber=Hächel (1680). In: Ferdinand van Ingen / Hans-Gert Roloff (Hg.) (Anm. 8), S. 517–574.   zurück
10 
Daß hinter Beers scheinbar regellosem Erzählen in Wahrheit rhetorische Prinzipien stehen, ist damit unbestritten und auch keine ganz neue Erkenntnis; nur wäre es sicher wesentlich fruchtbarer gewesen, Beers Schreiben konkret auf seine rhetorische Verankerung, aber auch auf die Rhetorikkritik seiner Zeit zu beziehen. Vgl. dazu z.B. den Beitrag von Andreas Keller (Anm. 9).   zurück
11 
Vgl. Andreas Brandtner / Wolfgang Neuber (Hg.) (Anm. 5); Ferdinand van Ingen / Hans-Gert Roloff (Hg.) (Anm. 8). Das Aussparen dieser Bände aus Solbachs Argumentation ist umso erstaunlicher, als Solbach selbst an der Weißenfelser Tagung mitwirkte und in einem Forschungsbericht detailliert auf die Beiträge beider Bände einging. Vgl. Andreas Solbach: Erträge des Beer-Jahres 2000. Impressionen zum [?] Forschungsstand. In: Euphorion 96 (2002), H. 1, S. 101–116.   zurück
12 
Ansgar M. Cordie (Anm. 9), S. 453–555. Daneben hätte die Berücksichtigung von Andreas Merzhäuser: Satyrische Selbstbehauptung. Innovation und Tradition in Grimmelshausens »Abentheurlichem Simplicissimus Teutsch«. Göttingen: Wallstein 2002 (Diss. Bonn 2002) eine Fülle genauerer Einsichten in den Komplex Satire und Vorredenpoetik bei Beer eröffnen können.   zurück