Christoph Wahl

Über die Technikästhetik eines bedingten Medienwechsels




  • Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. München: Wilhelm Fink 2003. 418 S. 43 s/w Abb. Kartoniert. EUR 49,90.
    ISBN: 3-7705-3925-7.


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Corinna Müller, die bereits mit Ihrer Dissertation über den Übergang von einer Kurz- und Mittelfilmphase zum Langfilm in Deutschland eine viel beachtete Studie zu einer entscheidenden Wechselepoche der Filmgeschichte verfasst hat 1 , legt mit Ihrer neuen Arbeit ein weitgehend brillant geschriebenes, durchweg informatives und stets originelles Buch über die bis heute in ihrer Bedeutung umstrittene Zeit der Etablierung des Tonfilms vor, das durch seine hohe Qualität in der Darstellung und abschließenden Betrachtung vergangener Debatten, Verbindung zeitgenössischer mit heutigen Perspektiven und Eröffnung neuer Sichtweisen schon jetzt als ein Standardwerk bezeichnet werden muß.

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Hintergrund

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In seiner Herangehensweise an die Problematik des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm wirkt Müllers Buch wie eine Ausführung der Projektskizze, die Karl Prümm 1988 auf einer Tagung der GFF vorgestellt hat 2 , und zwar nicht nur in der zeitlichen (1928–1932) und räumlichen (Deutschland) 3 Beschränkung, sondern in seinem technische, ökonomische, ästhetische und mediale Faktoren einbeziehenden Ansatz, der auf eine Sichtung und Analyse aller relevanten Filme sowie eine ausgiebige Auswertung der zeitgenössischen Publikationen baut. Die beiden zentralen Punkte in Müllers Studie, die Verbindung von technischer Entwicklung und ihrem Niederschlag in der Ästhetik der Filme sowie die differenzierte Sicht auf den medialen Übergang als Zusammenspiel von Konstanten und Brüchen, sind ebenfalls bereits von Prümm angedacht worden, der damals feststellte, dass die großen Veröffentlichungen zum Thema zu sehr auf der Schilderung der technischen und wirtschaftlichen Abläufe beharrten, und dabei die ästhetische und mediale Tragweite nicht überblickten. 4

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Struktur

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Bei Vom Stummfilm zum Tonfilm handelt es sich um ein übersichtliches Buch mit einer klaren Unterteilung in zehn Kapitel, die von der Untersuchung der Gründe für den schnellen Übergang zum Tonfilm in Deutschland über eine Einschätzung der Tonfilmexperimente in der Stummfilmzeit zu einer Charakterisierung derselben in Bezug auf ihr Verhältnis zum Ton führen. Mit einem kurzen Abschnitt, in der Müller die Ergebnisse ihrer Studie über den Wechsel zum Langfilm aufbereitet, leitet sie über zu einer ihrer zentralen Thesen über die Epoche der Stummfilmzeit, nämlich dass diese die erforderliche Einbettung des Films in eine Kultur des Fiktionalen bewerkstelligte. In Kapitel sechs werden auf sehr verständliche Art und Weise die technischen Probleme und Lösungen des frühen Tonfilms diskutiert, um im nächsten Kapitel deren theoretischer Behandlung in den Fachmagazinen der Epoche nachzugehen. Bevor im neunten Kapitel anhand von vier beispielhaften Filmanalysen Müller ihre Sicht einer Technikästhetik im frühen deutschen Tonfilm exemplifiziert, bespricht sie die Dimension des Sprachtransfers für den dialogorientierten »Sprechfilm« sowie die Geschichte der sich in Deutschland durchsetzenden Methode der Synchronisation. Das letzte Kapitel beginnt mit einer weiteren Filmanalyse zur Unterstützung der These von einer gewissen »Autothematik« im frühen deutschen Tonfilm und endet mit einer abschließenden Einschätzung der Frage, ob der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm als Medienwechsel zu betrachten ist oder nicht.

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Rasante Umstellung
auf Tonfilm

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An den Anfang ihrer Untersuchung stellt Müller eine Feststellung, die schon Prümm formuliert hatte: Die Umstellung vom Stumm- zum Tonfilm erfolgte in Deutschland (besonders im Vergleich zu den USA) mit geradezu rasanter Geschwindigkeit. Die rasche Umstellung der Kinos führt sie auf verschiedene Faktoren wie den Wettbewerb in den eigenen Reihen, die branchenpolitischen Verhältnisse, den Erfolg der Tonfilme aus den USA, die kluge Platzierung der ersten deutschen Tonfilme und den Einsatz der Fachpresse für den Tonfilm zurück. Durch Auswertung und Analyse der vorhandenen Quellen wird überzeugend mit der weit verbreiteten Ansicht aufgeräumt, das Publikum habe den Tonfilm gewollt. Die Besucherzahlen gingen, im Gegenteil, nach einer kurzen Anfangsbegeisterung zurück. Gezeigt wurden dennoch bald nur noch Tonfilme, und zwar deswegen, weil die Stummfilmproduktion in Deutschland abrupt untergegangen war. Allerdings nicht, weil der Stummfilm als Kunstform überholt und nicht mehr gewollt war, sondern, weil die gesamte finanzielle, künstlerische und sonstige Leistungskraft der Filmindustrie nur noch dem Tonfilm zugeführt wurde.

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Man kann Müller so verstehen, dass die entscheidende Ursache für die schnelle Umstellung auf Ton- und völlige Verdrängung des Stummfilms die Rivalität zwischen der Ufa und Hollywood um die Vormachtstellung vor allem in Europa war. Aufgrund der patentrechtlichen und anderer Hintergründe blieb der Ufa nur die Möglichkeit, diesen Kampf durch eine radikale Konzentration auf den Tonfilm anzunehmen, was wiederum den ganzen Sektor in diese Richtung mitriss. Dieses erste Kapitel, aber leider nur dieses erste, enthält vorbildliche Zusammenfassungen der zentralen Erkenntnisse nach jedem Unterkapitel.

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Das Tonbild

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Der Tonfilm wurde ja nicht erst Ende der 20er Jahre erfunden, sondern hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den sogenannten Tonbildern reüssiert. Ein wichtiger Punkt von Müller ist, dass die Technik bei der tatsächlichen Umstellung auf den Tonfilm im Verhältnis zu den früheren Methoden gar nicht so weit fortgeschritten war wie im Nachhinein gern behauptet wurde. Es stellt sich also die Frage, warum der Tonfilm sich nicht schon früher etabliert hat, wenn es nicht an der Technik lag. Aus Müllers Sicht teilten die Tonbilder das spätere Schicksal des Stummfilms: ihnen wurde jede produktive Grundlage entzogen. Wenn also, wie Müller sagt, »der stumme Film keine technisch verhinderte ›Tonfilmzäsur‹, sondern ein kulturhistorisch sowohl gewolltes als auch notwendiges Stadium in der medienhistorischen Entwicklung« (S. 82) war, eine Unterbrechung »einer zum ›Realismus‹ strebenden Medienentwicklung« (S. 83), also eine Aussetzung der frühen Experimente mit Ton, Farbe oder Breitwand, dann fragt sich, wozu dieses Stadium, diese Unterbrechung genau diente.

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Der Ton
in der Stummfilmzeit

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Bevor Corinna Müller eine Antwort auf diese selbst gestellte Frage gibt, wendet sie sich ihr aus einer anderen Perspektive zu, aus der der Rezeption. Knapp aber sauber arbeitet sie die Forschungen und Berichte zum Themenkomplex Stimmen, Geräusche und Gesang in der Aufführungskultur des Stummfilms auf, um schließlich eine den Diskurs der letzten Jahre konterkarierende These aufzustellen: »Der stumme Film war immer stumm« (S. 85). Sie gesteht zwar der im Kontext der Aufwertung und Wiederbelebung des Stummfilm-Dispositivs stehenden, und daher zunächst zurecht postulierten, gegenteiligen Behauptung ihre pragmatische Berechtigung zu, sieht jetzt aber die Zeit gekommen für ein Gegensteuern, um den Stummfilm klarer zu kennzeichnen als eigenständige Phase der Filmgeschichte mit einer der Tonfilmzeit nicht vergleichbaren Auffassung des Mediums, die auf einer größeren kreativen Eigenständigkeit der Rezipienten beruhte. Damit wird jeder Vorstellung eines Stufenmodells in der Entwicklung des Films widersprochen: Der Stummfilm war alles, nur kein bloßer Vorläufer des Tonfilms.

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Der Übergang zum
Langfilm

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In einem kurzen Einschub erläutert Müller das in ihrer Dissertation eingeführte Phasenmodell zur Programmstruktur des frühen Films. Sie sieht einen entscheidenden Einschnitt mit der um 1910 / 11 beginnenden Etablierung des Langfilms, die einen Wechsel markiert von einer zwar stark realistisch (Ton, Farbe, Breitwand) angelegten Darstellung, die aber durch ihren großen Abwechslungsreichtum in der Gesamtdarbietung immer ihre Medialität mitpräsentierte, hin zu einer größeren Konzentration der Aufmerksamkeit durch den Langfilm, die auf eine Illusionierung der Zuschauer zielt.

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Die Kultur
des Fiktionalen

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Mit dem Übergang zum Langfilm begann sich das Medium Film – für Müller – in die Kultur des Fiktionalen zu integrieren. Das geschieht natürlich vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, sich endlich als anerkannte ›siebte Kunst‹ zu etablieren. Ihre Unterscheidung zwischen der angeblich auf »größtmögliche Naturtreue« (S. 127) angelegten Kurzfilmphase und der auf dem Realismusschein huldigenden Experimente (Ton, Farbe usw.) verzichtenden Lang-Stummfilmphase ist allerdings nicht restlos überzeugend. Nicht die Unterscheidung an sich, sondern die Wahl der Terminologie: ›realistisch‹ und ›fiktional‹ sind zwei solchermaßen kontrovers diskutierte und damit überhaupt nicht mehr eindeutigen Begriffe, dass sich ihre Verwendung in diesem Kontext nicht unbedingt anbietet.

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Da ja mit dem Übergang zum Langfilm auch und insbesondere der Wandel von einer auf Schaueffekte ausgelegten Darstellung zu einer integrativ erzählenden Kunst gemeint ist, würde ich eher vorschlagen, von einerseits einer ›Kultur des Zeigens‹ und andererseits einer ›Kultur des Erzählens‹ zu sprechen. Der Tonfilm (und später der Farbfilm) konnte sich also erst durchsetzen, nachdem sich in einer Phase der – sagen wir etwas umständlich – Reduktion der Zeigemittel (der Stummfilmzeit) ein Erzählsystem herausgebildet hatte, in das dann Ton, Farbe usw. nach und nach wieder integriert werden konnten.

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Sehr gelungen dagegen ist die Wahl der Begriffe »Ästhetik des ›Mitfühlens‹« und »Ästhetik der Überwältigung« (S. 152) zur Definition des entscheidenden Unterschiedes bei der Rezeption: Im Stummfilm blieb stets eine gewisse Distanz, die es aber ermöglichte, das im Film dargebotene auf die Realität des eigenen Lebens zu beziehen. Der Tonfilm dagegen involviert den ›Zuschauer‹ viel stärker in die Filmhandlung und überwältigt mit einer »neuartige[n] Wortdominanz, durch die das Filmbild dazu tendierte, seine ursprünglich eigenständige narrative Funktion zu verlieren« (S. 156).

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Nadel- oder Lichtton
und andere technische Fragen

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Eine detaillierte Skizzierung der Vor- und Nachteile von Nadel- und Lichtton, bei der sich Corinna Müller von einem Ingenieur beraten ließ, erlaubt es ihr, die in der Literatur weit verbreitete These zu widerlegen, der Lichtton sei dem Nadelton überlegen gewesen. Sie kommt eher zu dem gegenteiligen Schluss, dass das Tonbild (Vorbild aller nachfolgenden Nadelton-Systeme) zu seiner Hochzeit um 1907 ff. einen tendenziell ansprechenderen Klang zu bieten hatte als der frühe Lichttonfilm, vor allem, wenn man die mangelhafte raumakustische Anpassung der meisten Kinos berücksichtigt. Wäre, so Müller, der Tonfilm nicht »das konkurrenzlos günstigste Unterhaltungsangebot« (S. 265) gewesen, so wäre der Besucherrückgang im frühen Tonfilmkino noch weit drastischer ausgefallen als er ohnehin war.

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Tonfilmästhetik

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Die Übergangsphase vom Stumm- zum Tonfilm war, wie wahrscheinlich jede andere Übergangsphase auch, eine sehr kreative Zeit, in der seitens der Hersteller viel ausprobiert wurde und seitens der Rezipienten viele Probleme und Hintergründe wahrgenommen werden konnten, die normalerweise übersehen werden. Es ist ein bisschen wie der Blick in die Maschine, die Entdeckung des Submedialen, 5 das sich allerdings in rasender Geschwindigkeit eine neue Hülle sucht, hinter der es wieder verschwinden kann. Corinna Müller gelingt es sehr gut, die Stimmung dieser Zeit einzufangen, die Versuche einer am Stummfilm geschulten Kritikerriege, ihre ästhetischen Überzeugungen auf den Tonfilm zu übertragen, und die daraus resultierenden Vorbehalte und eisigen Ablehnungen vor allem des Sprech- also Dialogfilms. Schade ist vielleicht, dass auch sie die intensiv geführte Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Integration verbaler Sprache in den Film, die ein ansonsten unisono als heller Kopf gerühmter Mann wie Rudolf Arnheim über lange Jahre unternommen hat, aufgrund seiner dem sich letztendlich durchsetzenden Dialogfilm abgeneigten Haltung, eher belächelt. Allerdings beurteilt sie ihn in diesem Punkt wesentlich fairer als allgemein üblich. 6

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Auf Seiten der Produktion macht Müller zu Beginn der Tonfilmära im deutschen Film »einen autothematischen und selbstreflexiven Diskurs aus, der teilweise selbstzentrierte Züge annahm« (S. 313). Anhand von fünf ausführlichen Filmanalysen exemplifiziert und belegt sie diese These, wobei sie den Weg öffnet zu einer neuen Sicht auf Filme, die bisher nicht gerade zum allgemeinen Filmkanon gehörten. Besonders hervorgehoben wird von ihr der Film Zwei Herzen im ¾ Takt (1930, Géza von Bolváry), der, laut Müller, »unter dem Aspekt seiner Technikästhetik der wichtigste Film in der frühen europäischen Tonfilmgeschichte überhaupt war« (S. 315).

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Das Problem
des Sprachtransfers

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Kurz und bündig, aber angemessen, werden in einem Kapitel die Methoden abgehandelt, die in der frühen Tonfilmzeit zur Verfügung standen (und auch angewendet wurden), um in einer fremden Sprache hergestellte Filme vorführen zu können, als da wären:

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die Aufführung im Original mit Zwischentiteln in landessprachlicher Übersetzung; die stumme Aufführung mit landessprachlichen Zwischentiteln; die Aufführung im unbearbeiteten Original; die Produktion polyglotter Filme; die Produktion von Mehrsprachenversionen; die Aufführung mit Untertiteln; die Aufführung landessprachlich synchronisierter Filme. (S. 292)
[27] 

Auch wenn die Einreihung des polyglotten Films in die Liste der Sprachübertragungsmethoden etwas fraglich ist (da er auch eine sehr starke inhaltliche und ästhetische Komponente hat), und Müller vielleicht die Tragweite der Synchronisation für die Filmkultur in Deutschland etwas unterschätzt, enthält selbst dieses Kapitel, das in ihrer Argumentationskette ja nur ein kleines Kieselsteinchen und keine Perle ist, einige interessante Aussagen wie die, dass der Tonfilm es als erstes Medium ermöglichte, »einen real wirkenden synthetischen Menschen zu erschaffen« (S. 303), was sich in der Nachsynchronisation in aller Deutlichkeit manifestiere, womit die zunächst großen Vorbehalte seitens des Publikums gegenüber der Synchronisation eine neue Erklärung erhalten.

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Das Medium
ist der Wechsel

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Abschließend wird noch einmal die oft gestellte Frage verhandelt, ob der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm nun ein Medienwechsel war oder nicht. Corinna Müller gelangt zu einer Art Zwitterentscheid: einerseits ja, da der Tonfilm eindeutig das »historisch erste technisch reproduzierende audiovisuelle Massenmedium in der Mediengeschichte« darstellt, andererseits nein, da sich z.B. am Dispositiv Kino als Aufführungsort zunächst nichts veränderte (was allerdings nicht ganz stimmt, hat Müller doch in den vorhergehenden Kapiteln selbst beschrieben, wie sich der Aufführungsort und damit auch die Aufführungsart entscheidend veränderte). Ihre diplomatische Einschätzung lautet daher:

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Verstanden auch als Kinogeschichte, ist die Filmgeschichte (als diejenige zur Etablierung aller Bewegtbildmedien) als eine medienhistorische Einheit zu begreifen, selbst wenn sie kommunikationshistorisch aus zwei jeweils ›neuen‹ und kommunikativ deutlich voneinander unterschiedenen Medien bestand.
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Letztendlich erscheint es doch wichtiger, nach der Tragweite eines Übergang zu fragen, als darüber zu streiten, ob man ihn als Medienwechsel bezeichnen sollte oder nicht. Dies soll uns vielleicht auch Müllers Schlußbemerkung sagen, in der sie dem Leser ganz beiläufig einen in diesem Zusammenhang sehr zentralen Aspekt quasi zur Weiterbeschäftigung hinterher wirft:

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Insgesamt betrachtet, ist der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm eines der sehr seltenen Beispiele in der Mediengeschichte, dass ein neues Medium ein anderes vollständig verdrängte und zu einem ›alten‹ Medium werden ließ.
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Fazit

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Corinna Müller ist ein insgesamt sehr klares und übersichtliches Buch gelungen. Sie bietet eine vorzüglich komprimierte Darstellungen der bisher gesammelten Erkenntnisse über den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, deren zentrale Punkte sie so gekonnt herausarbeitet, dass diese in ungekannter Deutlichkeit erstrahlen. Souverän wird die damalige Stimmung bei Produzenten, Kritikern und Rezipienten eingefangen, die technische Entwicklung dieser Jahre äußerst verständlich nachgezeichnet und, das ist entscheidend, in ausführlichen Analysen von relevanten Filmen zu den durch sie bedingten ästhetischen Auswirkungen in Beziehung gesetzt. In der Filmforschung über lange Jahre eingeschliffene Legenden kann Müller mit ihrer Herangehensweise überzeugend als solche entlarven und sie gleichzeitig ersetzen durch sehr originelle, neue Perspektiven eröffnende Fragestellungen. Bei ihren letzten Urteilen verhält sie sich äußerst diplomatisch und übt sich meist in objektiver Zurückhaltung. An diesen Stellen wünscht man sich zuweilen eine eindeutigere Positionierung. Dies hat allerdings keine nachhaltige Auswirkung auf die herausragende Qualität des Buches.


Dr. Christoph Wahl
Ruhr Universität Bochum
Institut für Medienwissenschaft
DE - 44780 Bochum

Ins Netz gestellt am 16.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Christoph Wahl: Über die Technikästhetik eines bedingten Medienwechsels. (Rezension über: Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. München: Wilhelm Fink 2003.)
In: IASLonline [16.06.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=935>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Corinna Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907–1912. Stuttgart: Metzler 1994.   zurück
Karl Prümm: Historiographie einer Epochenschwelle: Der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm in Deutschland (1928–1932). In: Knut Hickethier (Hg.): Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Dokumentation der Tagung der GFF 1988. Berlin: Ed. Sigma Bohn 1989, S. 93–102.   zurück
Diese Beschränkung ist absolut sinnvoll, da sie immer vor dem Hintergrund der und in Bezug auf die Entwicklung in den USA geschieht, womit die beiden entscheidenden Filmindustrien der damaligen Zeit im Blick sind.   zurück
Konkret sprach Karl Prümm die Studie von Harald Jossé: Die Entstehung des Tonfilms. Beitrag zu einer faktenorientierten Mediengeschichtsschreibung. Freiburg / München: Karl Alber 1984, an; mittlerweile wurde zwar von Wolfgang Mühl-Benninghaus mit Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren. Düsseldorf: Droste 1999, ein Buch vorgelegt, das neue Aussagen zur medialen Verknüpfung von Radio, Grammophon und Film präsentierte. Die Suche nach der Technik in der Ästhetik sowie die differenzierte Bewertung der medialen Bedeutung des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm blieb dennoch der Forschungsleistung von Corinna Müller überlassen.   zurück
Zu diesem Begriff vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München / Wien: Carl Hanser 2000.   zurück
Z.B. im Vergleich zum bereits angesprochenen Karl Prümm: Epiphanie als Form. Rudolf Arnheims Film als Kunst im Kontext der Zwanziger Jahre. In: Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002 [1932], S. 275–312. In diesem Aufsatz werden Arnheims Thesen zum Tonfilm, die, auch wenn sie sicher nicht in allen Punkten überzeugen können, im Kern sehr klug sind, als Dokumente der Hilflosigkeit und der Verzweiflung charakterisiert.   zurück