Hans-Jürgen Krug

Als das Radiohören gefährlich wurde ...

Rundfunkverbrechen zwischen 1939 und 1945




  • Michael P. Hensle: Rundfunkverbrechen. Das Hören von 'Feindsendern' im Nationalsozialismus. (Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin 49) Berlin: Metropol 2003. 384 S. Kartoniert. EUR 21,00.
    ISBN: 3-936411-05-0.


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Grenzen des Rundfunkhörens –
weltweit

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Der Rundfunk, so lautete einst eine optimistische Hoffnung, bringe das Ferne und Neue überall und unbegrenzt ins Haus und ermögliche grenzüberschreitende, ja grenzenlose Kommunikation. Doch seit den Anfängen des Hörfunks verhinderten technische, ökonomische, politische Beschränkungen immer wieder den uneingeschränkten, freien Empfang – und längst nicht alles, was hätte empfangbar sein können, war auch hörbar. Nicht nur in Deutschland wurde die Hörfunkvielfalt beschränkt, sondern beispielsweise auch in den USA – und nicht selten ging es dabei um den Auslandsrundfunk. »Unseren Rundfunkapparat, sagte der Sheriff, müssten wir nach Woodstock schaffen, um den Kurzwellenteil herausmontieren zu lassen, dann könnten wir ihn wieder haben. Kurzwellenempfänger, Kameras und Feuerwaffen dürften ›enemy aliens‹ nicht besitzen«, schrieb Carl Zuckmayer in seiner Autobiografie »Als wär’s ein Stück von mir« über seine Amerika-Erfahrungen 1941.

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Rundfunkverbrechen
während des Nationalsozialismus
als juristisches Feld

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Bisher ist über die vielfältigen – und in Kriegszeiten nochmals verschärften – Beschränkungen des Hörfunkhörens und die (manchmal riskanten) Ausweichbewegungen der Hörer wenig bekannt. Die »eigentliche Rezeptionshistoriografie zum Hören von ›Feindsendern‹ steht noch immer aus« (S. 10), schreibt der Berliner Historiker und Wissenschaftliche Dokumentar Michael P. Hensle in seinem Buch Rundfunkverbrechen. Das Hören von ›Feindsendern‹ im Nationalsozialismus – und auch er strebt sie nicht an. Hensle will stattdessen »erstmals umfassend und detailliert« (S. 9) darstellen, wie die Justiz in Berlin und Freiburg nach 1939 auf das (verbotene) Hören ausländischer Radiosender reagierte; sein Hauptschwerpunkt ist »die Erforschung des juristischen Umgangs mit dem Abhörverbot« (S. 12). Der Stil der Arbeit ist fachwissenschaftlich, sein Gegenstandsbereich vor allem lokal. Rundfunkverbrechen ist die überarbeitete Fassung von Hensles Dissertation, die 2001 vom Fachbereich Kommunikations- und Geschichtswissenschaft der Technischen Universität Berlin angenommen wurde.

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Hensle skizziert in seiner Arbeit eingangs kurz, wie in der Weimarer Republik durch Störsender der Empfang des kommunistischen Radio Moskau unterbunden wurde. Der Schwerpunkt sind die Etablierung und dann die Folgen der »Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen«. Mit dieser Verordnung vom 1. September 1939 wurde »das absichtliche Abhören ausländischer Sender verboten. Zuwiderhandlungen werden« – so heißt es im Originaltext – »mit Zuchthaus bestraft«. Das »neue politische Delikt« (S. 345) »Rundfunkverbrechen« richtete sich gegen das Abhören und Weitergeben von ausländischen Radionachrichten. Für die Umsetzung war die Geheime Staatspolizei zuständig.

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Auslandssender, Feindsender –
Definitionsprobleme

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Das Abhören von Feindsendern war nach 1939 ein Massenphänomen, dem durch technische Maßnahmen nicht kurzfristig beizukommen war. Hensle berichtet von heute skurril anmutenden Vorschlägen, alle Hörfunkempfänger nachträglich umzubauen. Doch da man für den Umbau von 13 Millionen Geräten Wochen gebraucht hätte, wurde schließlich ganz darauf verzichtet. Und auch die verschiedensten Abschreckungsaktionen mit Warnzetteln, Hörfunkvorträgen oder Filmsketchen vor den Kinohauptfilmen wirkten kaum, machten aber das Hören ausländischer Sender zu einer sehr privaten Angelegenheit.

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Wie viele Hörer tatsächlich Auslandsfunk hörten, ist deshalb noch immer ungewiss, zumal nicht jede Form von Auslandsrundfunk verboten war. Anfang der 1940er Jahre etwa erstellte das Propagandaministerium Listen von erlaubten Sendern – und nannte Luxemburg, Oslo, Paris, Bordeaux, Hilversum oder Wilna, Sender aus den besetzten Gebieten also. »Alle in der Zusammenstellung nicht enthaltenen Sender unterliegen wie bisher dem Abhörverbot«.

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Feindsender variieren –
Regionales Hören

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Unter den ausländischen Sendern dürfte die BBC eine Zentralrolle eingenommen haben. Zeitgenössische Schätzungen reichen von »einer Million bis zu zehn Millionen Hörern« (S. 337) allein für die BBC; Nachkriegsbefragungen ermittelten sogar, dass 51 Prozent (ebd.) der Befragten Auslandssender gehört haben. Doch die Hörer hörten sehr unterschiedlich. Auf der Basis der erhaltenen »Rundfunkverbrechen«-Akten kann Hensle nun die regionalen Hörerprioritäten näher bestimmen: Während in Berlin London (BBC) deutlich in der Gunst (der angeklagten) Hörer vorne lag (64 Prozent), bevorzugten 61 Prozent die süddeutschen Hörer Beromünster (Schweiz). Nur 25 Prozent hörten hier London. Überall dominierten offenbar die westalliierten und neutralen Sender, Radio Moskau spielte nach Hensles Analysen (zumindest in den analysierten Akten) kaum eine Rolle. Hensle beschränkt sich auf einzelne Fälle, von einer Arbeit über »Das Hören von ›Feindsendern‹ im Nationalsozialismus« – wie der Untertitel vollmundig annonciert – ist die überarbeitete Dissertation doch weit entfernt.

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Die Denunziationsflut
blieb aus

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Das Abhören ausländischer Sender war zwar ein »Massendelikt« (S. 347), schlug sich aber nicht so in den Akten der Staatsanwaltschaften nieder. Verglichen mit den enormen Hörerzahlen waren Verfahren wegen »Rundfunkverbrechen« eher rar, diese Form des Schwarzhörens wurde in der Bevölkerung wohl eher als »Kavaliersdelikt« (S. 347) empfunden – und auch die Bereitschaft zur Denunziation war offenbar eher gering. »Die erwartete Denunziationsflut blieb aus« (S. 347). Hensle schätzt, dass es reichsweit 1940 und 1941 unter Tausend Verurteilte gab und die Zahl in den Jahren 1942 und 1943 auf das Doppelte stieg. Der typische Beschuldigte war männlich, etwa 40 Jahre alt, verheiratet, gehörte einer unteren Schicht an und war politisch indifferent, meistens wurde allein oder im engsten Familien- oder Freundeskreis Radio gehört. »Die Annahme von einer grundsätzlich gegnerischen Einstellung der Abhörer zum Regime bestätigte sich nicht. Das Hauptmotiv zum Abhören dürfte in dem weit verbreiteten ›Nachrichtenhunger‹ zu sehen sein« (S. 346).

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Auf verbotenen Radiokonsum
stand nicht die Todesstrafe

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In Detailanalysen zeigt Hensle, wie unterschiedlich die Sondergerichte in Berlin und Freiburg geurteilt haben. Auf das Abhören ausländischer Sender stand freilich nicht die Todesstrafe, wie bis in unsere Tage behauptet wird. Hensle verweist diese Auffassung ins Reich der »Legende« (S. 13) und führt sie auf die Abschreckungspropaganda zurück. »Bei der Mehrheit aller aktenkundig gewordenen Abhörer begnügte sich die Gestapo mit so genannten staatspolizeilichen Maßnahmen oder unternahm nichts« (S. 346). Polizeiliche Maßnahme hieß dabei in der Regel »Verwarnung« oder »befristete Polizeihaft« (ebd.).

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Hensle verweist ansatzweise auch auf den Umgang mit Hörverboten in den besetzten Gebieten. Während im Westen auf juristische Mittel gesetzt wurde, dominierten im Osten polizeiliche Verfolgungsmethoden. So wurden etwa in Polen nicht nur die Hörer verfolgt, sondern auch massenhaft Radiogeräte eingezogen: Allein in Warschau rund 87 000 der etwa 140 000 Rundfunkempfänger.

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Notwendigkeit der
medienwissenschaftlichen
Fortschreibung

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Hensle beschreibt in seiner Studie »Rundfunkverbrechen« bis zur Aufhebung der Verordnung durch das »Gesetz Nr. 1« des Alliierten Kontrollrats – und füllt damit eine Lücke. Schwerpunkt sind historisch-juristische Fragen. Hörerverhalten, Programmprioritäten, Rezeptionssituationen oder gar die Programme der Auslandssender kommen in der Arbeit nur vor, wenn sie auch in den Akten angesprochen werden. Michael P. Hensle verweist auf ein großes weißes Feld, das dringend aus medienwissenschaftlicher Sicht vermessen werden sollte.


Dr. Hans-Jürgen Krug
Ahornallee 13
DE - 22529 Hamburg

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Ins Netz gestellt am 10.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder (1948-2012). Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Hans-Jürgen Krug: Als das Radiohören gefährlich wurde ... Rundfunkverbrechen zwischen 1939 und 1945. (Rezension über: Michael P. Hensle: Rundfunkverbrechen. Das Hören von 'Feindsendern' im Nationalsozialismus. Berlin: Metropol 2003.)
In: IASLonline [10.06.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=938>
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