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Zeichen und System

Von Luhmanns Differenzlogik zu Peirces kategorialer Differenzierung

  • Werner Scheibmayr: Niklas Luhmanns Systemtheorie und Charles S. Peirces Zeichentheorie. Zur Konstruktion eines Zeichensystems. (Linguistische Arbeiten 486) Tübingen: Max Niemeyer 2004. 388 S. Kartoniert. EUR (D) 108,00.
    ISBN: 3-484-30486-3.
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Charles S. Peirce meets Niklas Luhmann: der Begründer der modernen Zeichentheorie trifft auf einen der wirkungsmächtigsten Vertreter eines systemtheoretisch-operativen Konstruktivismus. Der Vermittler dieser beiden Theorien, Werner Scheibmayr, kann zu Beginn seiner 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten Dissertation und inzwischen bei Niemeyer vorliegenden Studie die breite Aufarbeitung eines Forschungsdesiderates ankündigen, lag doch bis dato kein detaillierter wissenschaftstheoretischer Vergleich beider Supertheorien vor. Dabei scheint es doch generell durchaus nahe liegend, vor dem Hintergrund der Systemtheorie die Systemhaftigkeit semiotischer Denkgebäude im Rahmen von Zeichensystemen zu analysieren. 1

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Überdies wird die Verbindung der Ansätze von Luhmann und Peirce, obgleich – und vielleicht gerade weil – auf den ersten Blick »wie das Ei des Kolumbus« erscheinend, 2 ebenso wie die Diskussion ihrer Anschlussmöglichkeiten innerhalb der aktuellen Theorieentwicklungen als vielversprechend gehandelt (vgl. dazu auch die Diskussionen und Beiträge im IASLonline-Diskussionsforum »Bewusstsein, Kommunikation, Zeichen«), worauf auch Oliver Jahraus und Nina Ort bereits ein Jahr zuvor hingewiesen haben: Ihnen zufolge könnten die »Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher Systemtheorie und Peircescher Zeichentheorie« als »neues Fundament für zukünftige Theoriebildungen« dienen, ja mehr noch: sie bilden Jahraus und Ort zufolge »vielleicht den Konvergenzpunkt in der Entwicklung und Diskussion der derzeitigen Theorieavantgarde«. 3

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Und so klingt Scheibmayrs tragende Idee zunächst plausibel und relativ einfach: Er geht an Peirces Zeichentheorie mit Luhmanns systemtheoretischem Problemhorizont heran und unterzieht sie in diesem Rahmen einer funktionalen Analyse. Ausgehend von einer Kritik an Luhmanns Systemtheorie sollen beide Universaltheorien dadurch nicht nur konstruktiv aufeinander bezogen und gegenseitig profiliert werden, sondern Scheibmayr möchte vielmehr versuchen, bei Luhmann auftretende Probleme aus semiotisch-pragmatischer Perspektive zu lösen. Sein Anspruch dabei ist kein geringerer, als »die kritisch überprüften und ggf. modifizierten Theorieelemente von Peirces Zeichen- und Luhmanns Systemtheorie so miteinander [zu] kombinieren, dass die jeweiligen Nachteile neutralisiert bzw. eliminiert und die Vorteile zusammengeführt werden« (S. 1).

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Scheibmayrs Ziel:
Die Konstruktion eines neuen Zeichensystems

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Doch diese Kombination zeigt sich bei näherem Hinsehen als äußerst komplex, müssen doch mit Luhmanns Systembeobachtung auf differenzlogischer Basis und Peirces Semiotik mit triadisch-relationslogischer Fundierung zunächst einmal zwei auch formal abweichende Ansätze überhaupt erst vergleichbar gemacht werden, bevor Scheibmayrs Ziel, »die Konstruktion eines neuen Systemtyps, nämlich eines Zeichensystems« (S. 355), erreicht werden kann, das »in gleichem Maße den berechtigten Postulaten von Peirces Zeichen- und Luhmanns Systemtheorie gerecht wird« (S. 2).

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Vor der vergleichenden Analyse steht daher die funktionale Rekonstruktion beider Theorien. Scheibmayrs Untersuchung beginnt zielführend mit zwei knapp gehaltenen (und daher selektiven) Überblickskapiteln zu den Theoriegebäuden Luhmanns und Peirces. Ihnen folgen im ersten großen Teil der Studie drei Kapitel, welche drei grundlegende »Basiselemente von Luhmanns Theoriearchitektur« (System-Umwelt-Unterscheidung, Elementbegriff, Systemstruktur), dessen »Sinnkonzept« und dessen »Zeichenbegriff« in den Blick nehmen, um daraus Fragen und Problemfelder für die kritische Analyse von Peirces Zeichentheorie und für die Konstruktion eines neuen Zeichensystems im zweiten großen Teil zu gewinnen. Dem wichtigen achten Kapitel (»Basiselemente zur Konstruktion eines Zeichensystems«) dient der an Luhmann geschärfte Blick dann zur neu gruppierenden Darstellung von Peirces Zeichentheorie nach drei großen Themenfeldern: »Peirces Zeichen als Systemelement«, »Konditionierung und Struktur im Zeichensystem«, »Das Zeichensystem und seine Umwelt«. Dem »Sinn und seine[n] Merkmale[n] im Zeichensystem« schließlich ist ein eigenes, die eigentliche Untersuchung abschließendes Kapitel gewidmet.

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Scheibmayrs Studie setzt bei Luhmanns Systemtheorie an, um ausgehend von der immanenten Schwachstelle ihrer mangelnden semiotischen Perspektivierung weiter zu denken: Denn Luhmann bezieht die Zeichentheorie (überdies primär die mit einem zweiwertigen Zeichen arbeitende Theorie Saussures) nur am Rande in seine Überlegungen ein, integriert sie aber nicht systematisch in seinen Theorieentwurf, so dass Scheibmayr Luhmann eine »vergleichsweise oberflächlich[e]« und in ihrer Darstellung inkonsistente Rezeption der Semiotik vorwerfen kann (S. 2).

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Scheibmayr hingegen entwickelt seine Untersuchung im Sinne eines formallogischen Experimentes, das die Ergebnisse einer ›Amalgamierung‹ beider theoretischer ›Substanzen‹ untersucht und das sehr stringent auf nachvollziehbaren Einzelschritten aufbaut. Seine Ausgangsanordnung setzt als zentrale Neuerung Peirces Zeichen als Element eines autopoietischen Systems nach Luhmann ein und verfolgt, »welche Konsequenzen sich daraus für den systemtheoretischen und semiotischen Theoriebau ergeben« (S. 4).

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Inkonsistenzen von Luhmanns Theoriegebäude

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Die Notwendigkeit einer Differenzierung und Spezifizierung des Elementbegriffes leitet Scheibmayr zuvor aus den Inkonsistenzen von Luhmanns Theoriegebäude her, die sich insbesondere bei der Behandlung der Komplexität von System und Umwelt zeigen. Denn da die Umwelt anders als Systeme keine Grenzen, sondern nur Horizonte hat, »kann sie weder eine Einheit sein noch eine Menge darstellen, deren Elemente (welche? […]) zusammenhängen« (S. 34). Zudem ist Luhmanns Begriff der Differenzform von System und Umwelt zweiwertig; Umwelt und System werden so stets als zwei kontradiktorische (wenngleich korrelierende) Seiten einer Form getrennt. Die Probleme der System-Umwelt-Relation (wie Widerstand, Irritation, strukturelle Kopplung) vermag Luhmann daher, wie Scheibmayr nachweist, nicht befriedigend zu lösen bzw. herzuleiten, da es dazu einer dritten Stelle in der Funktion einer Schnittstelle bedürfte (die jedoch in Luhmanns Theorie keinen Ort hat, vgl. Scheibmayr, S. 49).

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An dieser Stelle setzt Scheibmayr mit Peirces Zeichentheorie an, um mit ihr eine funktional äquivalente Lösung der systemtheoretischen Probleme zu erreichen. Daher folgt Scheibmayrs Darstellung der Peirceschen Semiotik auch nicht deren innerer Systematik, sondern dem Aufbau von Luhmanns Systementwurf. Denn dieser – so das der Studie zugrunde gelegte Postulat Scheibmayrs – eigne sich (trotz aller Schwachpunkte) in hervorragender Weise »als leistungsfähiges und flexibles Modell für den Aufbau und Erhalt von dynamischer Systemstabilität in einer turbulenten Umwelt«, und zwar durch die Kombination von a) rekursiver Autoreproduktion, b) ereignishafter Operationsweise und c) konditionierter Strukturierung von Systemprozessen (S. 156).

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Davon ausgehend vermag Scheibmayr jedoch zahlreiche Brüche und Ungereimtheiten Luhmanns aufzudecken, die sich nicht zuletzt in der Erkenntnis bündeln lassen, dass das sozialen und psychischen Systemen gemeinsame Medium »Sinn […] bei Luhmann eine überaus problemhaltige Kategorie« ist (S. 108).

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Luhmanns verengter Zeichenbegriff

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Denn Luhmann arbeitet bei seiner Sinnkonzeption mit ursprünglich semiotischen Begriffen wie »Verweis« und »Repräsentation«, die eine nähere Untersuchung seines Zeichenbegriffs nahe legen. 4 Dabei erweisen sich Luhmanns Äußerungen zum Zeichen jedoch als hochgradig widersprüchlich (S. 109 f.), was Scheibmayr auf einen unzureichenden, perspektivisch verzerrten und verengten Zeichenbegriff Luhmanns zurückführt, der sich überwiegend aus Saussures zweiwertigem (und daher, wie Oliver Jahraus gezeigt hat, ohnehin »paradoxiegefährdet[en]«) 5 Zeichenmodell speist. 6

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Luhmann behandelt die Zeichen dabei nicht als die operativen Elemente eines Systems, sondern als Formen, die von den Operationen eines Systems benutzt werden können (S. 142). Gerade diese Position aber ist nicht vereinbar mit dem von ihm zugrunde gelegten, auf Saussure basierenden Zeichenverständnis; denn Saussures Systembegriff baut nicht wie Luhmanns auf Operationen auf, vielmehr sind diese gerade aus ihm ausgeschlossen (als einem synchron angelegten, statisch geschlossenen System sprachlicher Zeichen, S. 142).

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So weist Scheibmayr in Luhmanns Formanalyse des Zeichens erhebliche konzeptionelle Inkonsistenzen und Fehler nach, insbesondere dort, wo Luhmann die begriffliche und theoretische Ausrichtung der Semiotik manchmal als drei- und manchmal als zweistellig bezeichnet (vgl. Scheibmayr, S. 124). Dies führt insbesondere zu Luhmanns falscher Analogie von System und Zeichen: 7 Da das System eine Formseite, das Zeichen jedoch die Einheit der Differenz seiner Form darstellt, müsste die Theoriestelle des Zeichens, so Scheibmayr, bei korrekter Analogie von der Welt (als Einheit der Unterscheidung von System und Umwelt) eingenommen werden (S. 124). 8

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So attestiert Scheibmayr Luhmann, das Verhältnis zwischen Zeichen und Sinn insgesamt unplausibel und hochgradig widersprüchlich entwickelt zu haben (S. 154). 9 Das für Scheibmayr »überzeugendste Konzept, nämlich dass Sinn des Zeichens als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf«, stelle bei Luhmann nur eine argumentative Nebenlinie dar (S. 154 f.). Um diese jedoch weiter zu verfolgen, werde ein weitgehender Umbau von Luhmanns Theoriearchitektur notwendig, dem Scheibmayr nun Peirces Zeichen als operatives, ereignishaftes und rekursiv relationiertes Element zugrunde legt. Damit setzt er an den von ihm heraus gearbeiteten zentralen Problemfeldern der Luhmannschen Systemtheorie an und korrigiert dessen unzureichenden Zeichenbegriff auf überzeugende Weise, indem er Luhmanns prozessual orientierten Systembegriff mit dem ebenfalls prozessual zu verstehenden Zeichen Peirces als Systemelement kombiniert, um so ein dynamisches Zeichensystem zu erhalten (wodurch auch Luhmanns Missverständnisse und Fehler im Zusammenhang mit seinem von Saussure abgeleiteten Zeichenbegriff vermieden werden können, vgl. Scheibmayr, S. 143).

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Peirces Zeichenmodell der triadischen Relation
als Systemelement im Sinne Luhmanns

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Die Neukonstruktion des von ihm avisierten Zeichensystems beginnt Scheibmayr mit der Erörterung des Peirceschen Zeichenbegriffs als genuiner und irreduzibler triadischer Relation (aus Repräsentamen, Objekt und Interpretant), welche er an der Luhmannschen Theoriestelle des Systemelements einsetzt. Damit fällt das Zeichen unter Peirces Kategorie der Drittheit als Kategorie der triadischen Relationen, die auf der Ebene des Allgemeinen und Regelhaften situiert und durch Vermittlung gekennzeichnet ist: Drittheit liegt nach Peirce dann vor, wenn etwas »so ist, wie es ist, indem es ein zweites und ein drittes zueinander in Beziehung setzt« 10 . Kennzeichnend für das Zeichen ist folglich einerseits sein binnenkomplexer Aufbau, andererseits aber seine kategoriale Irreduzibilität.

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Im Rahmen des konkreten und potenziell unbegrenzten Zeichenprozesses muss diese abstrakte Zeichendefinition jedoch modifiziert bzw. ergänzt werden, denn der Interpretant ist dasjenige Zeichenkorrelat, an dem ein nachfolgendes Zeichen anschließt, um die zeichenhafte Darstellung zu vervollständigen. Der Interpretant als »interpretierendes Zeichen« wird dabei im zeitlichen Prozess einer konkreten Semiose selbst zu einem weiteren Repräsentamen, woraus sich ein potenziell unendlicher Zeichenprozess sich anschließender Zeichentriaden ergibt (S. 167 f.).

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In einem derart prozesshaften Zeichensystem sieht Scheibmayr verwirklicht, was Luhmann im Allgemeinen postuliert: »›Elementsein und Element-einer-Relation-Sein‹ sind identisch« (S. 168). Doch Zeichen sind als Systemelemente nicht nur immer Elemente einer Relation, sondern stets auch eines zeitlichen Prozesses: Der Zeichenprozess entsteht durch die kontinuierliche Relationierung von Zeichen an der Schaltstelle von Interpretant und Repräsentamen, so dass ein durch die Differenz von vorgängigen und nachfolgenden Zeichen begründeter zeitlicher Prozess konstatierbar ist. Hieraus ist ersichtlich, dass die Zeichen keine zu dem Prozess präexistenten Einheiten sein können, sondern dass sie erst im Systemprozess als dessen Funktionseinheiten geschaffen werden. Peirces Zeichenprozess lässt sich somit als »rekursiver bzw. basal selbstreferentieller Prozess im Sinne Luhmanns« auffassen und somit als autoreproduktiver Zeichenprozess (S. 171): Zeichen werden aus Zeichen (re-)produziert. 11

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Kategorial zu differenzieren gilt es nun, sobald im konkreten rekursiven Prozess der Semiose das Zeichen aktual existiert und damit unter Peirces Kategorie der Zweitheit als der Kategorie der dyadischen Relationen fällt. Basiskriterium ist hier eine allgemeine, identitätstiftende negative Differenzrelation: »Identität ist […] nur ein Relat der Zweitheit, dessen Korrelat im Anderssein der gesamten restlichen Wirklichkeit besteht, mit der die als identisch bezeichnete Einheit reagiert« (S. 174). Dies entspricht Luhmanns differenztheoretischer Position, gemäß der Identität nur durch Differenz gebildet werden kann, so dass Scheibmayrs neukombinatorisches Zeichensystem hier ansetzen muss:

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Luhmanns Differenz- und Formentheorie könnte in Peirces Zeichentheorie also über die Kategorie der Zweitheit integriert werden. Da diese Semiotik kategorial differenziert werden kann, indem man an jedem Phänomen die Aufmerksamkeit jeweils auf seine Erstheit, Zweitheit oder Drittheit richtet, stellt sie ein flexibleres und variationsreicheres Arbeitsinstrument dar als Luhmanns oft zu rigides zweiwertiges Differenzdenken. (S. 174 f.)

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Die Ereignishaftigkeit des Zeichens

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Von entscheidender Bedeutung für die Konstruktion seines Zeichensystems ist nun des weiteren die Ereignishaftigkeit des Zeichens als Systemelement, die Scheibmayr aus der Kategorie der Zweitheit herleitet: Ihre Verankerung im Hier und Jetzt verleiht den Phänomenen der Zweitheit ihren singulären oder zumindest individuellen Charakter und lässt sie als Ereignisse verstehbar werden. Einschlägig aus Peirces Zeichensubklassifikationen ist hierfür das Sinzeichen, in dem Scheibmayr dasjenige Element identifiziert, mit dem »ein Zeichensystem in der Semiose konkret operiert« (S. 176), nach Peirce also »ein aktual existierendes Ding oder Ereignis, das ein Zeichen ist« 12 . Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Irreversibilität als Eigenschaften des Sinzeichens stellen zugleich wesentliche Charakteristika dar, die auch Luhmann den Elementen rekursiv operierender Systeme zuspricht und die zum Aufbau temporalisierter Binnenkomplexität führen.

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Das wichtigste Ergebnis von Scheibmayrs Studie steht damit fest: Peirces kategoriale Differenzierung lässt sein triadisches Zeichenmodell geeignet erscheinen, um in Luhmanns Sinne als Systemelement eines rekursiv operierenden Systems zu dienen (S. 179). Dies bedeutet, dass Zeichensystem und Zeichenprozess als Phänomene der Drittheit konkret nur in ihren Sinzeichen existieren, die hinsichtlich ihres Realitätsstatus der Zweitheit zuzurechnen sind.

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Zwei zentrale Fragen zur Operationsweise seines Zeichensystems behandelt Scheibmayr nun im Anschluss: die Schließung des Systems der Umwelt gegenüber und die Konditionierung der basal selbstreferentiellen Anschlüsse in der Systemstruktur, die erst aus beliebigen Relationierungen einen gerichteten Prozess entstehen lassen.

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Konditionierung und Struktur im Zeichensystem

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Die Ebene des Systems, auf der die Relationierungen und die Anschlussbedingungen der ereignishaften Elemente konditioniert und strukturiert werden, fällt kategorial in Peirces Drittheit als den Bereich alles Gesetzmäßig-Allgemeinen. Die strukturellen Regeln der Drittheit selbst sind jedoch als evolutionäre Produkte durchaus historischer Variabilität unterworfen, was ebenso Luhmanns Charakterisierung von Systemstrukturen entspricht wie der ausgeprägt selektive Charakter von Peirces Drittheit im Rahmen einer »hochselektiven« »Erwartungsstruktur« (S. 181). Es ist, so zeigt Scheibmayr, diese relativ dauerhafte Fixierung der Anschlussmöglichkeit der Systemelemente in der Drittheit, die in der komplementären Kombination mit der ereignishaften Operationsweise in der Zweitheit dem System eine »dynamische Stabilität« verleiht (S. 184).

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Scheibmayr untersucht im Anschluss hieran die drei Zeichentrichotomien, mit denen Peirce sein Zeichen subklassifiziert, und deren Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Strukturierungsmöglichkeiten der Semiosen im Zeichensystem. Dabei möchte sich Scheibmayr darauf beschränken, die differenzierenden Kategorien »eher auf konstruktivistischer Linie« »als relationenlogisch ausgerichtetes Beobachtungs- und Beschreibungspotenzial zu verwenden«, anstatt sie wie Peirce selbst »als ontologische Grundstrukturen der Realität« anzusehen (S. 248). Insbesondere die kategoriale Differenzierung des Objektbezuges (in Ikon, Index, Symbol) erweist sich dabei als hilfreich, um etwa die bei Luhmann als »Kondensierung« und »Konfirmierung« bezeichneten Vorgänge der Generalisierung im Sinne einer dauerhaften Strukturierbarkeit von Zeichenprozessen auf der Ebene des Symbols zu ermöglichen (Kap. 8.2.5):

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Die Funktion der Kondensierung besteht demnach darin, den Identitätskern des Symbols trotz des Wandels der Gebrauchssituation zu bewahren, die Konfirmierung sorgt für dynamische Bedeutungsanpassung, verhindert damit aber auch eine exakte semantische Fixierung. (S. 229)
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Damit, so zeigt Scheibmayr, sind bei Peirce symbolische Legizeichen und ihre Replikas hinsichtlich ihrer dynamischen Stabilität und ihrer historischen Wandelbarkeit ebenso interdependent und komplementär wie Luhmanns ›Systemstruktur‹ und ›ereignishaftes Element‹.

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Insgesamt erweist sich Peirces kategoriale Differenzierung als besonders leistungsfähig, da sie v.a. mittels der Zeichensubklassen der Drittheit (d.h. auf der Ebene von Legizeichen, Symbolen und Argumenten) das Zeichensystem in die Lage versetzt, die rekursiven Anschlüsse seiner ereignishaften Elemente zu strukturieren. Damit regeln die Zeichenklassen der Drittheit, welche Möglichkeiten, die kategorial in der Erstheit (als der Kategorie der Möglichkeit) gegeben sind, in den konkreten Zeichen der Semiose selektiv aktualisiert werden. Die einzelnen Systemelemente können so auf kohärente Weise zu einem gerichteten Prozess organisiert werden. Das in dieser Hinsicht strukturdeterminierte Zeichensystem existiert folglich konkret nur in seinen ereignishaften Elementen, deren rekursive Relationierung aber wiederum von den strukturierenden Zeichentypen konditioniert wird.

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Zeichensystem und Umwelt

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Auch hinsichtlich der System-Umwelt-Grenze führt Scheibmayr überzeugend vor Augen, dass das in Anlehnung an Peirce konstruierte Zeichensystem Luhmanns Anforderungen für rekursiv operierende Systeme nicht nur erfüllt, sondern überdies sogar einzelne Theorieelemente (wie z.B. Identität, Existenz und Realität des Zeichensystems) besser herzuleiten und zu integrieren vermag als Luhmanns eigener Entwurf. Dessen Unterscheidung zwischen System und Umwelt als einer Zwei-Seiten-Form entspricht in Peirces Kategorienschema der genuinen Zweitheit, was Scheibmayr an Peirces Unterscheidung von unmittelbarem und dynamischem Objekt zeigt (S. 279 f.). Die Umwelt existiert nur dann als Umwelt, »wenn sie sich dem Zeichensystem gegenüber durch ihre Wirkungen in der Zweitheit manifestiert, und auch die Identität des Zeichensystems [kann] nur durch seine Differenz von dieser Umwelt in der Zweitheit bezeichnet werden« (S. 283).

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Auch vermag Peirces Zeichentheorie Probleme und Aporien zu lösen, die sich für Luhmann bezüglich der Schnittstelle, der strukturellen Kopplung (vgl. S. 308 ff. sowie S. 315–19) und dem Komplexitätsvergleich zwischen System und Umwelt ergeben. So kann Scheibmayr die bei Luhmann fehlende, für manche seiner Positionen gleichwohl unverzichtbare Schnittstelle zwischen den beiden Formseiten der System-Umwelt-Differenzierung im Peirceschen Zeichenkorrelat des Repräsentamens verorten: hier wird die Zweitheit von dynamischem Objekt und Zeichensystem in die Drittheit des Zeichens und der Semiose transformiert. Denn die zeichenhaften Wirkungen des dynamischen Objekts »als etwas, das auf das Zeichen wirkt und es bestimmt,« 13 müssen »am Zeichenkorrelat des Repräsentamens in die Semiosen des Zeichensystems eintreten, damit das Objekt überhaupt dargestellt werden kann« (S. 285). Dieser Kategorienwechsel von der Zweitheit zur Drittheit bedeutet nichts anderes als den Wechsel von der unmittelbaren Gegenwärtigkeit zur vermittelten Repräsentation, in der das dynamische Objekt nur noch mittelbar vorhanden ist (aufgrund der Vermittlung durch das Repräsentamen, vgl. S. 305). Das Repräsentamen bildet folglich genau jene »Schnittstelle, an der die Einwirkung des dynamischen Objekts als Umweltereignis aus der Zweitheit in die Drittheit des Zeichens bzw. des systeminternen Zeichenprozesses eintritt und in das Zeichenrelatum des Repräsentamens transformiert wird« (S. 305). Anders als bei Luhmann ist hier also in der Kategorie der Zweitheit ein unmittelbarer Kontakt mit der Umwelt und die Erfahrung eines Umweltwiderstandes möglich (vgl. S. 322). 14

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Im Unterschied zu Luhmanns Theoriebau kann bei Peirce die Grenze eines Zeichensystems daher nicht allein durch die Verwendung von Zeichen als Systemelementen definiert werden, da das Auftreten von Zeichen eben nicht exklusiv systemspezifisch ist, sondern die (als triadische Formen grundsätzlich universellen) Zeichen auch außerhalb von Zeichensystemen in deren Umwelt gebildet werden können (z.B. da das systemexterne dynamische Objekt selbst von der Art eines Zeichens sein muss, vgl. S. 285). 15 Vielmehr muss bei Peirce die Grenze zwischen Zeichensystem und Umwelt durch die historisch gewachsene und selektive Systemstruktur (und nicht durch die Verwendung systemspezifischer Elemente) hergeleitet werden. Am prozessualen Mechanismus der selbstreferentiellen Schließung ändert dies, wie Scheibmayr ausführt, allerdings nichts: sie erfolgt durch die rekursive Relationierung der Systemelemente innerhalb der selektiv strukturierten (und die Elemente zugleich erst konstituierenden) Semiose (S. 291).

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Sinn im Zeichensystem?

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Scheibmayr kritisiert an Luhmanns Sinnbegriff, dass dieser innerhalb der Menge der autopoietischen Systeme kein tragfähiges Kriterium zur Ausdifferenzierung psychischer und sozialer Systeme darstelle (S. 337). 16 Den entscheidenden Unterschied sieht Scheibmayr stattdessen in der re-entry-Fähigkeit bestimmter Systeme (also darin, die System-Umwelt-Unterscheidung zur Grundlage ihrer eigenen Beobachtungen zu machen): »Sinn ist dann in Abweichung von Luhmann bestenfalls als sekundäres Folgephänomen dieser erhöhten Reflexionskapazität von Systemen anzusprechen« (S. 337). Abweichend von Luhmanns Systemtheorie bezeichnet Scheibmayr als »Sinnsystem« daher ein autopoietisches Zeichensystem, »das mit Zeichen als ereignishaften Elementen operiert und im Unterschied zu anderen Zeichensystemen die System-Umwelt-Dyade zum Gegenstand, d. h. zum Objekt, seiner Zeichenprozesse machen kann« (S. 337).

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Dies kann in Peirces relationslogisch fundierter Semiotik nicht differenztheoretisch als Wiedereintritt der Unterscheidung in das Unterschiedene begründet werden. Das funktionale Pendant zur Denkfigur des re-entry findet Scheibmayr vielmehr bei Peirce »darin, dass bestimmte Zeichensysteme in ihrem Objektbezug zur Repräsentation und Relationierung höherstufiger Relationen in der Lage sind« (S. 339), d. h. sie sind im Objektbezug der Semiose der Relationierung dyadischer bzw. triadischer Relationen fähig. Die Zeichensystem-Umwelt-Differenz kann so im Zeichensystem selbst als Objekt thematisiert und repräsentiert werden (vgl. S. 340). Dieses Kriterium, so Scheibmayr, kann zur Binnendifferenzierung innerhalb der rekursiv operierenden Zeichensysteme dienen (vgl. S. 344), denn die komplexere Art der Repräsentation ermögliche dem Zeichensystem nun u.a. eine reflektierte und reflexive Selbst- und Fremdreferenz. 17

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Ergebnisse

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Seine eingangs aufgeworfene Frage kann Scheibmayr am Ende ganz eindeutig mit Ja beantworten: »Ausgewählte Theorieelemente von Luhmanns Systemtheorie und Peirces Semiotik sind durchaus kombinierbar«, »und zwar so, dass sich aus ihnen ein theoretisch kohärentes Zeichensystem konstruieren lässt« (S. 355), das sich in allen wesentlichen Aspekten als autopoietisches System im Sinne Luhmanns beschreiben lässt. Das zentrale Stichwort der von Peirce inspirierten Lösung für zahlreiche bei Luhmann offen gelegte Probleme lautet ›kategoriale Differenzierung‹. Der Vorteil von Scheibmayrs Ansatz einer letztlich dreiwertig aufgerüsteten Systemtheorie liegt auf der Hand: Mit der Erweiterung der dichotomischen zu einer trichotomischen Grundlage des Theoriebaus werden vielschichtigere Beobachtungen zugelassen, wird ein »noch höheres Auflöse- und Rekombinationsvermögen« ermöglicht als dies Luhmanns hauptsächlich zweiwertige »und manchmal zu rigide« Differenz-, Formen- und Beobachtungstheorie zulässt (S. 358).

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Einander bei Luhmann ausschließende und zugleich bedingende Differenzen wie Repräsentation und Konstruktion, Medium und Form, System und Umwelt sind so in Scheibmayrs neuem Zeichensystem kohärent kombinierbar – ein Ergebnis, das erst durch die Verbindung beider Theorien möglich wird und sowohl über Luhmann als auch über Peirce entschieden hinaus geht (vgl. S. 356).

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So vermag v. a. in Peirces triadischem Zeichen das Korrelat des Repräsentamens als Schnittstelle zwischen Zeichensystem und Umwelt zu fungieren – und dadurch eine theoretische Lücke in Luhmanns Systemtheorie zu schließen:

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Im Zeichensystem können hinsichtlich des System-Umwelt-Verhältnisses Kontakt, Irritation, Widerstand, Kausalität, strukturelle Kopplung und die evolutionäre Änderung und Anpassung der Systemstrukturen völlig konsistent hergeleitet werden, während Luhmann sich in all diesen Punkten in Widersprüchen verfängt und in Aporien gerät. (S. 356 f.)
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Das Zeichen als Sinnsystem

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Daneben ist es insbesondere Luhmanns Sinnbegriff, dem Scheibmayr erhebliche Inkonsistenzen nachweist, die sich im neu konstruierten Zeichensystem jedoch vermeiden lassen, »da Zeichen als Sinnelemente über die postulierte Verweisungsstruktur von der Aktualität zur Potenzialität verfügen und mit ihnen auch im Sinnzusammenhang das Thema der Komplexität erfolgreich zu behandeln ist« (S. 356). Daher kann das Zeichensystem auch als rekursiv operierendes ›Sinnsystem‹ angesprochen werden, wobei jedoch die hier als Elemente dienenden Zeichen in der Lage sein müssen, in ihrem Objektbezug dyadische oder triadische Relationen zu repräsentieren und zu relationieren. Zeichen- und Sinnsystem verfügen somit über den prinzipiell gleichen Typus von Elementen, so dass Sinn, Zeichen und Systemhaftigkeit besser als bei Luhmann zusammengeführt werden können.

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Besonders überzeugend gerät Scheibmayrs Argumentation dort, wo er auf die Operationsweise seines Systems zu sprechen kommt. War bei Luhmann die Komplementarität und Interdependenz von ereignishafter Operationsweise und relativ dauerhafter Strukturierung des Systems selbst von zentraler Bedeutung, die in der Kombination von ›Ereignis‹ und ›Struktur‹ dem System eine ›dynamische Stabilität‹ zu geben vermochte, so ist dies in funktional äquivalenter Weise auch dem neuen Zeichensystem nachweisbar: mittels des kategorial differenzierten Zeichens als operativem Systemelement (S. 357):

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Sinzeichen und dynamische Interpretanten, in denen die genuine Drittheit des Zeichens zur Zweitheit hin degeneriert ist, ermöglichen die ereignishafte Operationsweise, während v. a. die Subklassen der Drittheit, also Legizeichen, Symbol, Argument und finaler Interpretant, für die nötige Konditionierung sorgen. (S. 357)
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Doch umgeht Scheibmayr auf diese Weise nicht nur Luhmanns Aporien, sondern auch Peirces Zeichentheorie selbst profitiere von der Kombination mit Luhmanns allgemeiner Systemtheorie, weil sie nun »aus einem ungleich strukturierteren und systematischeren (!) Zusammenhang« heraus entwickelt werden könne (S. 358). Nicht zuletzt kann Scheibmayr daher auch einige Positionen Peirces relativieren. 18

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Sinn als Epiphänomen des Zeichens

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Scheibmayrs weitgehend widerspruchsfreie Konstruktion eines neuen ›Zeichen-Systems‹ ist insbesondere aufschlussreich als kritische Lektüre der Luhmannschen Systemtheorie, deren (z.T. bekannte) 19 Schwachstellen, Brüche, Inkonsistenzen und Fehllektüren vielfach vorgeführt werden; sie hier alle einzeln aufzugreifen erscheint indes verzichtbar. Neben der gründlichen funktionalen Aufarbeitung systemtheoretischer Grundbausteine ist jedoch insbesondere auch die kritische Würdigung der je einschlägigen Forschungsdiskussion zu einzelnen Theorieelementen hervorzuheben, die in Scheibmayrs umfangreichen Anmerkungen festgehalten ist (etwa zur Frage des Luhmannschen ›Paradigmawechsels‹ vom Paradigma der System-Umwelt-Differenz zum Paradigma der Selbstreferenz, vgl. S. 30 f., demgegenüber Scheibmayr die Kontinuität in Luhmanns Denken betont).

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Festzuhalten gilt jedoch zuallererst, dass der Begriff ›Zeichensystem‹, wie ihn Scheibmayr ausformuliert, eine neue Ausrichtung bekommt: ›Zeichensysteme‹ bzw. ›Zeichen-prozessierende Systeme‹ bezeichnen nach seinem Entwurf einen eigenständigen Systemtypus, der Zeichen als Systemelemente benutzt und sich über deren rekursive Relationierung selbst (re-)generiert (vgl. S. 154).

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Zu den in jeder Hinsicht bemerkenswerten und fundamentalen Ergebnissen gehört sicherlich auch Scheibmayrs Erkenntnis, dass Luhmanns Sinnbegriff 20 nicht die erforderliche Verweisungsstruktur bieten kann, die Luhmann ihm zuspricht, und dass es aber zweitens die Verweisungsstruktur des Zeichens ist, die der Sinn braucht, »um von einem bestimmten, kontingent selegierten aktuellen Sinn aus auf bestimmte andere Möglichkeiten zur Sinnaktualisierung hinweisen zu können« (S. 152). Daraus folgt zugleich eine starke Relativierung des Luhmannschen Sinnbegriffes im Rahmen von dessen Theoriegebäude; an die Stelle des Sinns als Zentralkategorie setzt Scheibmayr stattdessen das Zeichen (S. 153): Es bestätige sich, »dass nicht Sinn, sondern das Zeichen primär ist und Sinn ein davon ableitbares Epiphänomen darstellt« (S. 153).

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Entgegenhalten könnte man Scheibmayrs Studie freilich, was er selbstkritisch bereits vorwegnimmt (vgl. S. 157): Die Konstruktion seines neuen Zeichensystems, die doch als zentrales Element Peirces Zeichen einsetzt, erfolgt nicht nach der inneren Systematik der Peirceschen Semiotik, sondern nach dem aus Luhmanns Systemtheorie abgeleiteten Problempotenzial. Daher weicht Scheibmayrs Peirce-Lektüre durchaus von Peirces eigener intentionaler Ausrichtung seines Denkgebäudes immer wieder ab (was Scheibmayr allerdings in der Regel deutlich markiert, z.B. S. 163 hinsichtlich des von Peirce abweichenden Begriffsgebrauchs von »Zeichen« und »Repräsentamen«). So benutzt Scheibmayr auch für die Konstruktion seines Zeichensystems nicht Peirces eigenen Systembegriff, sondern (aus den oben dargestellten Gründen) den Luhmanns. 21

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Daher wäre auch die etwas vollmundige Ankündigung im rückwärtigen Klappentext des Bandes leicht zu relativieren, der verspricht, dass das Buch zudem »als Einführung in das Denken Luhmanns und Peirces gelesen werden« kann – eine Ankündigung, die der Verfasser in seiner Einleitung zwar sogleich wieder zurücknimmt, wenn er etwa seine einleitenden Überblicksdarstellungen »nicht als Einstieg in die […] hier behandelten Theorien« verstanden wissen will (S. 5: »dafür sind sie zumal für Leser, die der Thematik nicht so nahe stehen, viel zu komprimiert«). Trifft dies für Scheibmayrs kompakte Darstellung von Peirces Zeichentheorie mit Sicherheit zu, so lässt sich doch der erste Teil des Bandes durchaus als kritische Einführung in zentrale Theorieelemente Luhmanns empfehlen.

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Nicht unerwähnt bleiben sollte zuletzt, dass die Untersuchung selbst hervorragend aufgebaut und strukturiert ist, was sich auch in den zahlreichen internen Querverweisen sowie den Kapiteleinführungen, -anschlüssen und bilanzierenden -Fazits niederschlägt. Die damit einher gehende, nur gelegentlich allzu gründliche Wiederholung bereits erbrachter Ergebnisse gewährleistet in diesem Fall eine durchaus hilfreiche argumentative Sicherung der einzelnen Ergebnisse in jeweils neu akzentuiertem Kontext.

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Anschlussflächen und Anwendungsmöglichkeiten

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So lässt sich am Schluss nur bedauern, dass die praktischen Anwendungsmöglichkeiten, die Scheibmayr neben den »theoretischen Anschlussflächen« ausblickend skizziert (er nennt u. a. die Verbindungen zu den Kognitionswissenschaften, eine Analyse der Sprachkonzeptionen von Luhmann und Peirce sowie Vergleiche mit Jacques Derridas Dekonstruktivismus, vgl. S. 359 f.), nur vage angedeutet werden. 22 Zwar postuliert Scheibmayr eingangs, dass auf der Basis seiner Ergebnisse »künftig bei konkreten literatur- oder auch sprachwissenschaftlichen Fragestellungen zeichen- und systemtheoretische Positionen […] stärker gemeinsam herangezogen werden könnten« (S. 5), doch aufgrund der »rein grundlagentheoretisch[en]« Ausrichtung seiner Arbeit müsse eine Anwendung des von ihm konstruierten Zeichensystems »künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben« (S. 5).

[60] 

So nachvollziehbar dies ist, so hätten doch einige konkretere Anwendungsbeispiele die Dimensionen aufzeigen können, die durch seine wechselseitige Reformulierung beider Theoriekonzeptionen aufscheinen; zu denken wäre hier etwa an die Folgen, die seine Neukonzeption der System-Umwelt-Differenz im Lichte der an das Repräsentamen gekoppelten Schnittstelle zwischen System und Umwelt für literatur- und sprachwissenschaftliche Fragestellungen nach sich zieht. Zu denken wäre etwa auch an die anwendungsbezogenen Folgen von Scheibmayrs Reformulierung der re-entry-Fähigkeit von Sinnsystemen als ›Relationierung von Relationen‹.

[61] 

Der von Scheibmayr einzig benannte Ansatz, »etwa in dramatischer und erzählender Literatur Ansätze zu alternativen Geschehensverläufen zu untersuchen« und also die »Reflexion von Alternativen« vor dem Hintergrund von »tatsächlichen Entscheidungsfaktoren des Geschehens und deren Wahrscheinlichkeit« transparent zu machen (S. 361) klingt gerade vor dem Hintergrund der selbstreferentiellen Schließung des Systems der Umwelt gegenüber (sowie bezüglich des Aufbaus von strukturierter Binnenkomplexität) durchaus vielversprechend, doch bleibt die literatursemiotische Untersuchung der Bedeutung jener »als Reflexionswert dargestellten Alternativen im jeweiligen Werk« (S. 361) trotz der von Scheibmayr aufgeführten sprachlichen Indikatoren ausbaufähig.

[62] 

Dies alles schmälert Scheibmayrs luzide Analysen in keiner Weise, und so wünscht man dieser anregenden, kritisch reflektierten und analytisch scharfsinnigen Studie, dass die ausleitend skizzierten möglichen ›Anschlussflächen‹ und Anwendungsmöglichkeiten in Theorie und Praxis vielfach aufgegriffen werden, um die hier erbrachten Ergebnisse weiterhin zu profilieren und fruchtbar zu machen.

 
 

Anmerkungen

Dies umso mehr, als die Frage nach der Systemhaftigkeit gerade von Peirces Zeichentheorie eine eigene Untersuchung rechtfertigt, wirft man ihr doch im Allgemeinen die Vernachlässigung systematischer Bezüge zugunsten der Prozesshaftigkeit des Zeichens vor; vgl. etwa Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 62.   zurück
So Oliver Jahraus in: Wie verhalten sich Luhmannsche Systemtheorie und Peircesche Zeichentheorie zueinander? Fragen und Antworten an Barbara Kastner und Werner Scheibmayr. In: IASLonline. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/oj-semio.htm (Datum des Zugriffs: 02.08.2006).   zurück
Oliver Jahraus / Nina Ort (Hg.): Bewußtsein – Kommunikation – Zeichen. Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher Systemtheorie und Peircescher Zeichentheorie (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 82), Tübingen: Niemeyer 2001, S. 1.   zurück
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Luhmann selbst einerseits Zeichen- und Systemtheorie scharf trennt und die Existenz einer Metatheorie ausschließt, die Semiotik und Systemtheorie integrieren könnte, während er andererseits dann aber auch auf Parallelen zwischen den Theorien hinweist, etwa wenn er die Formen von Sinn, Zeichen, System / Umwelt und Medium / Form als besondere Formen zusammenfasst, »die auf Grund einer basalen Eigenschaft der Selbstimplikation zueinander passen und sich wechselseitig interpretieren können«, vgl. Niklas Luhmann: »Zeichen als Form«. In: Dirk Baecker: Probleme der Form. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993, S. 45–69, hier S. 65.   zurück
Vgl. Oliver Jahraus (Anm. 2).   zurück
Saussures zweiwertiges Zeichenmodell aber hatte dieser für das statisch geschlossene, synchrone und nicht operative System der langue entwickelt, deren strukturiertes Wertrelationsgefüge die bedeutungskonstitutive, nicht aber die referentielle Verbindung von Signifikant und Signifikat im Zeichen ermöglicht (vgl. Scheibmayr, S. 122).   zurück
In: Niklas Luhmann (Anm. 4), S. 49.   zurück
Zwar versucht Luhmann über Saussure hinaus auch Anschluss an Peirces dreistelliges Zeichenmodell zu gewinnen, doch geht sein Versuch an Peirces Theorie vorbei: Indem Luhmann das Zeichen als Einheit der Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem mit Peirces Interpretanten gleichsetzt, missachtet er Peirces fundamentale Relationenlogik: Der Interpretant bildet keinesfalls die Einheit einer Differenz, sondern ist bei Peirce ein gleichwertiges Relat in einer triadischen Relation (und somit selbst Komponente des Zeichens und nicht das Zeichen als Einheit der drei Relate, vgl. Scheibmayr, S. 125). – Insgesamt lässt sich zuspitzen: »Wo Luhmann auf strikte Trennung durch Differenz setzt, steht bei Peirce die Verbindungen schaffende Relation im Vordergrund, so dass aufgrund der Inkompatibilität der Theoriebausteine auf dieser Ebene weder Gleichsetzung noch Ersetzung möglich ist« (Scheibmayr, S. 125).   zurück
Als Beispiel sei insbesondere Luhmanns Umgang mit dem Bezeichneten genannt, bei dem dieser keine stimmige Position einnimmt, sondern drei verschiedene Varianten des Bezeichneten nebeneinander stellt, die nicht untereinander kompatibel sind (vgl. Scheibmayr, S. 132 ff.): Zum einen betrachtet Luhmann das Bezeichnete als rein zeicheninternes Formkorrelat, zum anderen identifiziert er es mit einem realen Sachverhalt in der Außenwelt; darüber hinaus soll es drittens dem Sinn entsprechen.   zurück
10 
Charles S. Peirce: Die Festigung der Überzeugung und andere Schriften. Hg. u. übers. v. Elisabeth Walther. Baden-Baden: Agis-Verlag 1967, S. 144.   zurück
11 
Dabei gilt zugleich, dass in der Semiose Selbstreferenz (im Bezug zum Repräsentamen) nur in Kombination mit Fremdreferenz (im Bezug zum Objekt) zu haben ist und so die von Luhmann geforderte Enttautologisierung basal selbstreferentieller Prozesse für das Zeichensystem gewährleistet ist (vgl. Scheibmayr, S. 172).   zurück
12 
Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. u. übers. v. Helmut Pape. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 123.   zurück
13 
Charles S. Peirce: Semiotische Schriften. Band 2: 1903–1906. Hg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2000, S. 376 f.   zurück
14 
Was, wie Scheibmayr ergänzend hinzufügt, jedoch keinesfalls bedeutet, »dass das Zeichensystem auch operativ einen unmittelbaren Zugang zur Umwelt hätte, da der Kontakt in der Zweitheit für eine Darstellung der Umwelt noch nicht ausreicht: Denn Darstellung gehört kategorial in die Drittheit«, weshalb die Darstellung der Umwelt im Zeichensystem »immer nur mittelbar oder auch konstruiert« sein kann (Scheibmayr, S. 322; meine Hervorhebungen). In diesem Punkt also decken sich Luhmanns und Peirces Theorien. Zur Frage der Repräsentationen der Umwelt bzw. externer Objekte im Zeichensystem vgl. auch Scheibmayrs Unterkapitel 8.3.9 (»Die Darstellung der Umwelt im Zeichensystem II: Konstruktion oder Repräsentation?«), in dem Scheibmayr zeigt, dass die Repräsentationen der Umwelt in seinem Zeichensystem immer auch Konstruktionen, dass diese Konstruktionen jedoch (entgegen Luhmanns Bedenken) »durchaus als Repräsentationen anzusehen sind« (Scheibmayr, S. 328). Entscheidend ist daher an Scheibmayrs Neuansatz, dass sich mit ihm konstruktivistische und repräsentationalistische Positionen vereinbaren lassen, so dass er damit nicht hinter das Reflexionsniveau einer der beiden Einzeltheorien zurückfällt.   zurück
15 
Darüber hinaus betrachtet Peirce das »gesamte Universum« als »von Zeichen durchdrungen […], wenn es nicht gar ausschließlich aus Zeichen gebildet wird«, vgl. Charles S. Peirce (Anm. 13), S. 348.   zurück
16 
Die Merkmale, mit denen Luhmann seinen Sinnbegriff im Einzelnen charakterisiert (Sinn als Einheit der Differenz von Aktualität und Potenzialität, die Differenzlosigkeit und Unnegierbarkeit von Sinn sowie Sinn als Medium und Form), erweist Scheibmayr als insgesamt unzulänglich: Zwar sind sie alle funktional äquivalent in den Entwurf seines neuen Zeichensystems integrierbar, doch können sie dort ebenso wenig als Differenzkriterien gelten wie in Luhmanns Systemtheorie (vgl. Scheibmayr, S. 354 sowie die begründenden Ausführungen in Kapitel 9.2–4).   zurück
17 
Scheibmayrs funktionale Analyse der Peirceschen Semiotik im Rahmen des Sinnbegriffs kommt darüber hinaus zu weitreichenden Ergebnissen hinsichtlich des Zeichens als Medium und Form, auf die ich hier nur verweisen kann: So fungiert das triadische Zeichen nicht nur, wie oben gezeigt, als operatives Element des Zeichensystems, das durch die rekursive Relationierung seiner ereignishaften Zeichenelemente eine Grenze zu seiner Umwelt aufbaut (und darüber hinaus in der Lage ist, die Operationen und Prozesse seiner Autoreproduktion selbst zu strukturieren und zu konditionieren). Peirces triadisches Zeichen vermag vielmehr je nach seiner kategorialen Differenzierung auch als Medium, Form oder kondensierte und konfirmierte Sinneinheit im Zeichensystem beschrieben zu werden: »Deshalb können in diesem Zeichensystem die Systemoperationen immer aus dem eigenen Medium Formen bilden, eine theoretische Konstellation, die Luhmann nie kohärent und widerspruchsfrei herstellen konnte« (Scheibmayr, S. 354).   zurück
18 
So etwa den Erkenntnisoptimismus, mit dem Peirce die Darstellung der Realität in der final opinion bzw. im ultimativen finalen Interpretanten für tatsächlich erreichbar hält, vgl. Scheibmayr, S. 358.   zurück
19 
Worauf Scheibmayr selbst in seinen umfangreichen und detaillierten Anmerkungen allerdings immer wieder verweist.   zurück
20 
Scheibmayrs drastische Bilanz: »Die Einbindung des Theorieelements Sinn in die übrige Theoriearchitektur rekursiv operierender, basal selbstreferentieller Systeme ist insgesamt inkonsistent« (S. 108), ja mehr noch: »das Verhältnis von Systemhaftigkeit und Sinn bei Luhmann [ist] inkonsequent, widersprüchlich und insgesamt nur unbefriedigend behandelt« (S. 76). Hauptproblem des Sinnbegriffs von Luhmann ist, dass der Sonderstatus »und überhaupt die Rolle von Sinn in Luhmanns Theoriebau« (S. 81) fraglich wird, da Scheibmayr zeigen kann, dass Merkmale, die bei Luhmann eigentlich exklusiv dem Sinn zugesprochen werden, auch allgemein auf rekursiv autopoietische Systeme übertragbar sind (S. 81). Zudem ist insbesondere die Konzeption von Sinn als Medium »zum Scheitern verurteilt« (S. 104), da die formen- und medientheoretische Analyse von Sinn wegen der fehlenden Spezifikation eines eigenen Elementes des Mediums Sinn inhaltlich nicht genügend gefüllt ist.   zurück
21 
Oliver Jahraus hat allerdings bereits nahe gelegt, dass dieser Einwand kein Einwand ist: Die Frage der Adäquatheit (und letztlich der Legitimität) der Beobachtung, etwa eines Vergleichs von Zeichen- und Systemtheorie, sei als Frage nach dem Status des Beobachteten »hinfällig« und vielmehr als Frage nach dem Beobachter zu reformulieren. Der Beobachter aber benutze die Differenz von Zeichen- und Systemtheorie operativ; und so ist letztlich bei der zeichentheoretischen Beobachtung der Systemtheorie »weder große Vorsichtig [sic] noch ein forsches Vorpreschen notwendig, weil mit der Beobachtung die Entscheidungen ohnehin schon getroffen sind«: »der Status des Beobachteten […] bestimmt sich nach dem Beobachter in der Beobachtung«. Vgl. Oliver Jahraus (Anm. 2).   zurück
22 
Verwiesen sei an dieser Stelle jedoch auf die Beiträge zum IASL online-Diskussionsforum »Bewußtsein, Kommunikation, Zeichen«, darunter auch Werner Scheibmayrs Ausführungen zu diesem Problemfeld im Rahmen der Begegnung von Zeichen- und Systemtheorie: Werner Scheibmayr: Semiotische Bemerkungen zum Problemfeld »Kommunikation und Bewußtsein« in der Luhmannschen Systemtheorie. In: IASLonline. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/scheibmr.htm (Datum des Zugriffs: 02.08.2006); genannt seien außerdem: Barbara Kastner: Die Gesellschaft – ein Zeichenprozeß. Konstruktivistisch orientierte, medienwissenschaftlich ausgerichtete Anmerkungen zur Luhmannschen Gesellschaftstheorie. In: IASLonline. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/kastner.htm (Datum des Zugriffs: 02.08.2006) sowie die dort vorliegende Respondenz von Oliver Jahraus (vgl. Anm. 2).   zurück