IASLonline

Beruf: Lektor

  • Ute Schneider: Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag. Göttingen: Wallstein 2004. 399 S. Kartoniert. EUR (D) 44,00.
    ISBN: 3-892-44758-6.
[1] 

Ute Schneiders Buch zieht aus mehreren Gründen die Aufmerksamkeit auf sich: Es beruht auf der ersten Habilitationsschrift, die aus dem Mainzer Institut für Buchwissenschaft hervorgegangen ist, es widmet sich einem Gegenstand, der mit dem Attribut der »Unsichtbarkeit« die wissenschaftliche Neugier weckt, und es erscheint im Rahmen eines interessanten Verlagsprogramms. Das Ergebnis ist eine facettenreiche Berufsgeschichte des literarischen Lektors von den Anfängen bis in die Gegenwart, also von der – zögernd beginnenden – Institutionalisierung des Berufs um 1900 über seine Profilierung in den zwanzig Jahren zwischen 1925 und 1945, seine Ausdifferenzierung nach 1945, seine inneren Konflikte und ›Rollendiffusionen‹ um 1968 bis hin zu einem neuen Anforderungsprofil für Lektoren im Übergang zum 21. Jahrhundert. Ein Exkurs behandelt die Rolle des Lektors in literarischen Verlagen der DDR, das Schlusskapitel, »Die Rolle des Lektors im 20. Jahrhundert«, zieht Bilanz. Die gegenüber der Habilitationsschrift gestraffte Darstellung enthält ein dreißigseitiges Verzeichnis der ungedruckten und gedruckten Quellen sowie der relevanten Forschungsliteratur, und natürlich ein Namensregister. In der Einleitung (S. 9–35) beschreibt die Verfasserin den bisherigen Forschungsstand sowie die (durchaus problematische) Quellenlage, und begründet ihren methodischen Ansatz: Mit Bezug auf die jeweiligen Außenbedingungen des Buchmarkts soll die Berufsgeschichte des Lektors unter sozialwissenschaftlichen und literaturtheoretischen Kategorien entwickelt werden.

[2] 

Vom Berater zum Produktmanager

[3] 

Von einem Berufsbild des literarischen Lektors ist um 1900 noch keine Rede. Erst vereinzelt bedienen sich die Privatverleger der Zeit entweder untergeordneter »wissenschaftlicher Mitarbeiter« oder freier Berater aus dem Gelehrten-, Autoren- und Kritiker-Milieu. Sie wollen damit ihre eigene Lektüre-Kapazität erweitern und Expertisen für einen zunehmend differenzierten Literaturmarkt beschaffen, ohne sich ihrer Entscheidungskompetenz begeben zu müssen. Schneider macht deutlich, wie danach veränderte Produktions- und Rezeptionsbedingungen, noch unbestimmt und keineswegs generell, den Umriss eines künftigen Tätigkeitsfelds für Lektoren entstehen lassen, während die literarischen Interessen und (oft unbefriedigenden) akademischen Erfahrungen junger Bürgersöhne für potentielle Anwärter auf solche Stellen im Verlag sorgen. Noch allerdings ist die arbeitsrechtliche, gelegentlich vertragslose Stellung von Lektoren so ungeklärt, dass der Börsenverein eigens ein Rechtsgutachten in Auftrag gibt: Es erscheint 1913 unter dem einschränkenden Titel Der Verlagsredakteur im Börsenblatt. Unter diesen Verhältnissen beginnen auch später so angesehene Persönlichkeiten wie Moritz Heimann bei S. Fischer, Reinhard Buchwald bei Insel und Diederichs oder Korfiz Holm bei Albert Langen ihre Arbeit.

[4] 

Erst ab der Mitte der zwanziger Jahre kann Ute Schneider zufolge von einer Profilierung des Lektorenberufs gesprochen werden. Indizien dafür findet sie in der buchhändlerischen Lehrbuch- und Fachliteratur und in Korrespondenzen. Noch immer ist das Anforderungsprofil vage, neben »Beweglichkeit im Umgang mit Autoren« (so Peter Suhrkamp), »allgemeinem Bildungsniveau« und »Urteilsvermögen« wird auch schon einmal »kaufmännischer Weitblick« erwartet. Immerhin zeigt sich in den Verlagen, auch in den Verlagskonzernen der Zeit, eine »positionelle Verfestigung« des Lektorats, wobei die Gesamtzahl der Stellen noch gering und deren finanzielle Ausstattung bescheiden ist. Die Verfasserin präsentiert immerhin umfangreiches Material über Wertungsmaßstäbe und Autorenbeziehungen, und über die zunehmende Kompetenz von Lektoren bei der Programmgestaltung – bis hin zur Entwicklung von Anthologien und Reihenkonzepten. Kerntätigkeit bleibt die Prüfung eingehender Manuskripte sowie die Redaktion und Betreuung der zur Publikation vorgesehenen Werke. Während des ›Dritten Reiches‹ erfährt das Berufsbild des literarischen Lektors eine politische Orientierung, ohne allerdings im neuen Kammersystem eine eindeutige Bestimmung zu finden.

[5] 

In der Zeit nach 1945 beobachtet Schneider eine Ausdifferenzierung der Rolle und des Rollenverständnisses bei den Lektoren und – nun auch – Lektorinnen. Die Entstehung von Taschenbuchverlagen und Buchgemeinschaften erweitert und verändert deren Tätigkeitsfeld ebenso, wie die schnell zunehmende Übersetzungsliteratur. War es bisher richtig, dass der Lektor »im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Handlungspartnern Verleger und Autor keine öffentliche Figur« darstellt (S. 15), werden jetzt Namen bekannt: Reinhard Baumgart, Fritz J. Raddatz, Karl Markus Michel, Elisabeth Borchers. Mit der Modernisierung des Verlagsgeschäfts geht dann eine Politisierung der Inhalte und der Lektorate einher, ein eigenes Kapitel des Buches schildert die ›Lektorenaufstände‹ um 1968 mit den zugrundeliegenden Veränderungen des Rollenverständnisses von Lektoren, und erklärt, wie aus ›Literaturproduzenten‹ dann ›Produktmanager‹ werden. Der Übergang ins 21. Jahrhundert schließlich zeigt einzelne Lektoren als Teilnehmer am literaturtheoretischen Diskurs und als hartnäckige Förderer neuer Literatur, ein paradoxer Reflex auf die jetzt durchschlagende Marktorientierung der Buchbranche.

[6] 

Ambivalenz als Beruf

[7] 

Im Wandel dieser Berufsgeschichte erkennt Schneider einen Grundwiderspruch als Kontinuum: »Die Bindung des Lektors an kulturelle Werte rangiert vor der Rentabilität des Programms. Dennoch kann er als Lektor der Ambivalenz nicht ausweichen« (S. 302). Im Beziehungsgeflecht zwischen Verlagsleitung und Autor werden dem Lektor offenbar widersprüchliche Verhaltensweisen abverlangt, argumentierende Beharrlichkeit und Durchsetzungskraft auf der einen Seite, intime und vertrauensvolle Zusammenarbeit auf der anderen, dazu diplomatischer Umgang mit den anderen Verlagsabteilungen, und das alles bei weitgehendem Verzicht auf die eigene Urheberrechtspersönlichkeit. Damit entsteht ein Legitimierungsproblem. Trotz aller Institutionalisierung der Lektorentätigkeit, trotz aller Verständigung über »Standards, Normen und Werte« bleibt »die soziale Beziehung zwischen Lektor und Autor ungeklärt« (S. 351).

[8] 

So erscheint eine wirkliche Professionalisierung dieses Berufes allein schon durch seine Struktur behindert. Das Scheitern einer formalisierten Ausbildung nach dem Modell des Zeitungsvolontariats im Jahre 1984 (S. 345), die offenbare Unmöglichkeit einer Organisation der zahlenmäßig kleinen und dispersen Berufsgruppe, nicht zuletzt aber das im Buch immer wieder dokumentierte kulturelle Selbstverständnis der Lektoren mit seinem subjektiven, aber dezidiert literarischen Wertekatalog bei gleichzeitiger Lohnabhängigkeit steht einer eindeutigen Rollendefinition entgegen. Soll der ›unsichtbare Zweite‹ sichtbar werden, muss die Ambivalenz aufgehoben werden. Das geschieht entweder in den Anforderungsprofilen großer Verlage für ›Produktmanager‹, die ganz auf Absatzmaximierung orientiert sind, oder, wie Schneider hoffnungsvoll vermerkt, in der zunehmenden Aktivität freier, auf Honorarbasis projektbezogen arbeitender Lektoren, die sich seit dem Jahr 2000 im »Verband der freien Lektorinnen und Lektoren e.V.« zusammengeschlossen haben. Die Aufnahme des Lektors in die Gruppe der Freien Berufe wäre damit erstmals möglich, würde dann aber auch definierte Zugangsvoraussetzungen erfordern und die betriebsbedingte Alleinstellung der literarischen Lektoren beenden. (Schon heute üben viele Lektoren in wissenschaftlichen Verlagen einen bedeutenden, zugleich qualitätssichernden wie programmatischen Einfluss aus und erfreuen sich großen Respekts in der akademischen Welt.)

[9] 

Fazit

[10] 

Die methodische Orientierung dieser Arbeit ist historisch und analytisch zugleich. Innerhalb der periodisch gegliederten chronologischen Darstellung kehren die Fragen nach der Rolle, dem Berufsbild und dem Anforderungsprofil von Lektoren immer wieder, und werden mit erstaunlich reichem, zeitgenössischen Quellenmaterial beantwortet – erstaunlich, da es hier ja um eine wenig erforschte ›Dunkelzone‹ geht. Korrespondenzen, Verlagsarchive, Presse-Artikel und versteckte gedruckte Quellen dienen zu ausführlichen, gelegentlich den Gang der Argumentation stark bestimmenden Zitaten. Einerseits ist die Materialbezogenheit der Arbeit gerade angesichts der Verwendung verallgemeinernder sozialwissenschaftlicher und literaturtheoretischer Kategorien von großem Vorteil für das Verständnis der Praxis, andererseits macht sie eine gewisse Abhängigkeit von der Existenz und dem Umfang von Quellen unvermeidlich, das gilt sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. (So wäre zu bedenken, dass interne Verlagspapiere oft Mittel innerbetrieblicher Auseinandersetzungen und insofern von unterschiedlicher Glaubwürdigkeit sind.) Auf Interviews mit Zeitzeugen hat die Verfasserin aus Gründen der methodischen Einheitlichkeit verzichtet (S. 24). Trotz des vielfach verwendeten biographischen Materials beabsichtigte sie keine durchgehende Beschreibung von Berufslebensläufen einzelner Lektorinnen und Lektoren mit ihren oft wechselvollen Rollensequenzen innerhalb des Verlagsbetriebes, aber auch im Wechsel zwischen Verlag, Presse, Rundfunk, Universität, Kritiker- und Schriftsteller-Beruf. Zu solchen Monographien fordert sie jedoch auf (S. 354 – 355). Ebenso erwünscht, aber schwieriger, wären Arbeiten über die konkrete Lektoren-Arbeit an Manuskripten.

[11] 

Ute Schneider hat mit ihrer methodisch interessanten und zugleich materialreichen Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag ein wichtiges und bisher fehlendes Kapitel in die Geschichte der Literaturentwicklung eingefügt.