Michaela Holdenried

Wenn einer eine Reise tut

Von der Odyssee bis zur Studio-Fotografie in Ostafrika




  • Renate Schlesier / Ulrike Zellmann (Hg.): Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster, New York u.a.: Waxmann 2003. 186 S. zahlr., teils farb. Abb. Broschiert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 3-8309-1314-1.


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Das Reisen überschreitet in diesem Band, der im Auftrag des DFG-Graduiertenkollegs »Reiseliteratur und Kulturanthropologie« herausgegeben wurde, nicht nur topographische, sondern auch lexikalische Grenzen: Der Begriff des Reisens wird in seiner weitest möglichen Bedeutung verwendet, bis hin zum »Besuch im / des Jenseits« (B. Lang, S. 90 f.), wie ihn Swedenborg unternahm. Damit ist bereits die Stärke und die Schwäche des vorliegenden Bandes benannt: das Überschreiten von Grenzen auch in der kulturanthropologischen Auslotung ist ein durchaus riskantes Unternehmen, in dem es keine Limitierungen mehr gibt. Doch zur Kritik dieser Art von Grenzenlosigkeit später. Zunächst zum spannungsvollen Bogen, den die Beiträge bilden, die im Vorwort als »Fallstudien« angekündigt sind, an denen sich das ganze Wirkungsspektrum von Grenzüberschreitungen ablesen lasse. Naturgemäß sind die gewählten verbindenden Parameter, Kontakt, Konfrontation, Maskerade und Mimikry, selbst keine begrenzenden, sondern zur Transgression einladende Leitbegriffe.

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Hybride Ikonen und Wunscherfüllung
in der Studio-Fotografie

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Heike Behrend eröffnet die Reihe mit ihrem kenntnisreichen Beitrag zur Entwicklung der Studio-Fotografie in Ostafrika, der sie einige grundsätzliche Überlegungen zur »Allianz von Reise und Medien« (S. 10) vorangestellt hat. Paradigmatisch scheinen die Strategien der Maskerade und Mimikry in den verschiedenen Ausprägungen der Studio-Fotografie und der Collagentechnik, wie sie sich seit Beginn der neunziger Jahre in Ostafrika entwickelt haben, Anwendung zu finden. Fotografien von Wanderarbeitern, aber auch einheimischen Touristen und Unternehmern werden in den Studios auf eine Art hergestellt, die nur noch wenig mit dem bekannten Bild der Studio-Fotografie zu tun hat: Die Abgebildeten werden in einen Kontext einmontiert, in dem beispielsweise Flugzeuge die exotische Landschaft überfliegen. Es entstehen so Bilder eines Heims in der Fremde für die Zuhausegebliebenen, die zugleich hybride Ikonen einer spezifisch afrikanischen Moderne darstellen: Versatzstücke der tourist art werden mit Symbolen des technischen Fortschritts gekreuzt. Technik und Wildnis werden auf eine Weise miteinander verschmolzen, die dem europäischen Blick allerdings eher als ein wilder Synkretismus aus Häkeldecken und Fototapete erscheint denn als Vision afrikanischer Hypermoderne. Genau darüber informiert der Beitrag ebenfalls: wie sehr die medialen Diskurse in Nairobi oder Mombasa sich von den westlichen unterscheiden.

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Die Studio-Fotografie sei weniger »Teil eines realistischen Diskurses« (S. 21) als vielmehr »Wunscherfüllung und [...] Aneignung und Rückeroberung von Räumen« (ebd.). Wahrheit und Wunschökonomie haben darin einen anderen Stellenwert als in der medial so beschlagenen westlichen Welt. Den Fotografen gelinge es, so Behrend, »neue Bilder des Lokalen« (S. 29) zu entwerfen, in denen das Globale bereits ebenso mit enthalten sei wie die lokale Praxis.

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Topoi der Darstellung und
Deutung des Fremden

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Nach diesem spannenden Ausflug in eine dem modernen Touristen des Serengeti-Parks sicher verschlossen bleibende Welt führt der Beitrag von Kerstin Gernig noch weiter gen Osten: nach Japan, das sich erst allmählich, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nach einer langen Phase der Selbstabschließung, dem westlichen Blick öffnet. Gernig, die in vielen Beiträgen ihre fundierte Kenntnis der europäisch-asiatischen Kulturbegegnungen unter Beweis gestellt hat, zeigt im Vergleich von zwei Klassikern der Reiseliteratur, Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan von 1910 und Hermann Graf Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen von 1919, wie sich Topoi der Darstellung und Topoi der Deutung bei beiden unterscheiden. Beide folgen zwar den Traditionen der Reiseliteratur, durch Überbietung und Hervorhebung des Unbekannten die Einzigartigkeit der eigenen Reise zu unterstreichen, doch während der »hedonistische Flaneur« (S. 67) Kellermann seinen selbstironisch unterfütterten Spaziergang ohne Bedauern an den Oberflächen des Fremden und seiner Darstellung enden lässt, will Keyserling das Fremde deuten und verstehen. Das Fremdartige wird als Ferment des eigenen Erkenntnisprozesses eingesetzt – eben weil es ungewohnt sei, so die lebensphilosophische Perspektive des Grafen, löse es lebendigere Schwingungen aus.

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Strategische Mimikry-Angebote
und postkoloniale Lektüre

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Kader Konuks Beitrag beginnt mit der dramatischen Flucht zweier Schwestern im Jahr 1906 aus Istanbul nach Frankreich, dem Land, von dem sie sich ein freies Leben statt der bisherigen reglementierten Langeweile des Harems erwarteten. Um es gleich vorwegzunehmen: die Flucht endet mit der Rückkehr der einen und ihrer Selbsttötung, mit der Weiterreise der anderen nach Russland und später England. Doch geht es Konuk weniger um biographische Linien misslingender Akkulturation als vielmehr um einen ausgewählten Aspekt, an dem Maskeraden und Mimikry besonders offenkundig werden: um Kleidungsstrategien osmanischer Reisender in Europa. Mit der Fokussierung auf ein Kleidungsstück, den Hut, den Zeyneb Hanim, die eine der Schwestern, nur widerstrebend ironisch trägt, begibt sich Konuk auf das von Bhabha und Said abgesteckte Terrain des Postkolonialismus. Am Hute hängt Konuk zufolge alles: Atatürk schlägt den Panamahut als Ersatz für den Fes vor, doch Zeyneb Hanim kann sich nicht an westliche Damenhüte gewöhnen. Ohne ihre Hutschachteln kehrt sie nach Istanbul zurück.

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Konuks Versuch, den herrschenden postkolonialen Interpretationen von Hierarchie und Mimikry eine eigenständige Deutung der viel komplexeren Strategien kultureller Mimikry entgegenzustellen, gelingt ihr nur zum Teil. Was spannend als spätes osmanisches Echo auf Lady Montagus Briefe begann, wird am Ende nicht zu einem wirklichen Fazit geführt. Vielmehr bleibt in der Schwebe, wie Hanim die »strategischen Mimikry-Angebote« (S. 86) tatsächlich beantwortet hat. Ihr Ende durch die eigene Hand ist wohl gerade nicht als »ironisches« zu sehen (S. 87), sondern zeigt vielmehr, dass das An- und Ablegen des Hutes für sie nicht im selbstbewusst ironischen Umgang mit »kultureller Mimikry als Widerstandsstrategie« (S. 86.) möglich waren, sondern dass die Grenzüberschreitung hier, im Falle einer Frau, als Identitätszerstörung endet.

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Frühe Ethnographie
der ›verkehrten Welt‹

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Kirsten Mahlke geht mit ihrem Beitrag zu Jean de Lérys Brasilienreise aus dem Jahr 1578 über die gerade in den letzten Jahren angewachsene Forschung hinaus, wobei sie mit dem Reflex auf Claude Lévi-Strauss als wohl dem berühmtesten Leser Lérys Tribut erweist. War bei einem deutschen Zeitgenossen Lérys, dem Hessen Hans Staden, bereits aufgefallen und analysiert worden, wie dieser sich das Hexenbild zunutze machte, um die fremde brasilianische Welt mitsamt dem Kannibalismus ihrer Bewohner in das heimische magische Weltbild zu transferieren, so zeigt Mahlke nun, wie die indianische Welt von dem Calvinisten Léry zur verkehrten Welt gemacht wird (und diese wiederum, in einer Art mehrfacher Spiegelung der eigenen Welt, zur Mahnung dienen soll). Die ihm in den Illustrationen beigegebenen Insignien wie Keulen und Affen transformieren den Indianer in einen Narren; der Bildteil verstärkt noch die im Text erzeugte Nähe der wilden Gebräuche zum europäischen Karneval. Die viel zitierte Nacktheit der Wilden wird von Mahlke überzeugend als eine Folie dargestellt, auf der der Wilde »wie eine Anziehpuppe« (S. 109) zurechtgeputzt werden konnte.

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Nicht mehr neu in der Forschung ist die Schlussfolgerung der Autorin, dass Léry die Gottferne der Tupinambá mit solchen Maskeraden unterstrichen habe. Allerdings: Nicht weil sie lachen und zum Lachen bringen, wie Mahlke suggeriert, sind die Wilden weniger schlimme Sünder als die Europäer, allen voran die Papisten, sondern weil sie nicht lesen können, also die Bibel nicht kennen. Zu fragen bleibt ferner, ob nicht über die zeitgenössische religiöse Kontroverse hinaus ein Moment der nur von der puren Präsenz, dem sinnlichen Dasein belehrten Sehnsucht nach diesem anderen Leben bei Léry erhalten bleibt, das nicht aufgelöst werden kann und das den Text über die Jahrhunderte hinweg getragen hat.

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Verfremdung des Vertrauten
und Entgrenzung der Phantasie

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Werner Röcke nähert sich dem Problem der Fremdwahrnehmung und des -erlebens mit mentalitätsgeschichtlichen Kategorien und untersucht, wie sich an Epochenbrüchen die Wende von bestimmten, über eine lange Zeit gefestigten »›Modi des Fremderlebens‹ (Schäffter)« (S. 119) hin zu neuen Wahrnehmungsweisen nachvollziehen lässt. An der History vom Finkenritter (um 1560) und am Lale- und Schiltbürgerbuch (Ende des 16. Jahrhunderts) kann Röcke zeigen, wie das Fremde nun nicht mehr wie im Mittelalter in konflikthafter Gegensätzlichkeit zum Eigenen wahrgenommen wird. Vielmehr rückt im perspektivischen Wechsel das Fremde näher, um damit gerade das Vertraute zu verfremden. Über die verkehrte Welt hinaus, wie sie Mahlke für Léry als Darstellungsprinzip ermittelt hat, zeigt Röcke ein weitergehendes Element des Bezugs auf das Fremde: die vollkommene »Entgrenzung der Phantasie« (S. 121). Ob diese allerdings wirklich mit »der Zerstörung von Sinn überhaupt« (S. 125) gleichzusetzen ist, bleibt doch fraglich, denn schließlich wird die Umkehrung des Lebenslaufes etwa, der beim Finkenritter mit der Geburt endet, doch nicht nur fantastisch, sondern womöglich auch ganz selbstbewusst ins Werk gesetzt – vom Dichter, der seinem Unternehmen durchaus Sinn zugemessen haben dürfte, auch wenn er anonym geblieben ist.

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Reisen und Erzählen –
Odysseus und der ›Heros
der poetischen Transgressionen‹

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Möglicherweise liegt hier ein unterschwelliges Bindeglied zu Renate Schlesiers Beitrag, in dem Odysseus als neuer Heroentypus angeboten wird. Die Modellhaftigkeit der Odyssee sieht Schlesier darin begründet, dass das Reisen – und das Erzählen der Unwägbarkeiten und Fährnisse dieser Reise – das nur durch den triumphalen Tod des Helden garantierte epische Erzählen ablöst. Homer mache Odysseus genau deshalb zum Erzähler seiner eigenen Reise, um »den überkommenen Wahrheitsanspruch des epischen Sängers« (S. 137) zu überbieten – durch das Selbsterlebte der Reise. Doch bei dieser Volte bleibt es nicht: Schlesier vollzieht nach, wie der neue Heroentypus »zugleich als Repräsentant des Sprachkünstlers selbst vorgestellt [werde], also hier des epischen Dichters und Sängers« (S. 138). Und gegen alle Rede vom ›Tod des Autors‹ setzt Schlesier Homer in die Rechte des Autors ein – dem gerade nicht der »Deckname Niemand« zukomme, sondern der der »wahre Heros [...] der poetischen Transgressionen« sei (S. 141).

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Reiseliteratur als
›Seismograph von Mentalitätswandel‹

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Hartmut Steinecke unternimmt es in seinem Beitrag, in die nächste Ferne der vergangenen Wirklichkeit unserer neuen Bundesländer zu reisen, und damit der Reiseliteratur als dem untrüglichen »Seismographen von Mentalitätswandel« (S. 153) nachzuspüren. Das Unwort »nichtsozialistisches Ausland« (NSA) hatte in der Ex-DDR den Status einer Traumchiffre inne: nur wenigen »Reisekadern« war es vergönnt, den dekadenten Westen zu besuchen. Steinecke interessiert sich für die Auseinandersetzung mit dem Trauma des Nicht-Reisen-Dürfens in der Nachwende-Literatur. Vielleicht, so sinniert der Schriftsteller Fries, der »als der Reiseschriftsteller der DDR« galt, in seinen Tagebüchern, habe er das Falsche geträumt. An seinem Fall, einem klassischen IM-Fall, kann Steinecke jedenfalls zeigen, wie weit die Sehnsucht nach Reisen führen konnte: Fries tauschte Spitzeldienste gegen das NSA ein – und setzt seinem Spitzeldasein literarisch noch ein ironisches Denkmal der Rechtfertigung, wenn er sich in seinem Roman Die Nonnen von Bratislava (1994) mit Mateo Alemán, dem ›Erfinder‹ des spanischen Schelmenromans, über die Spitzelei im Namen der Inquisition respektive der Staatssicherheit brüderlich austauscht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

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An den weiteren Beispielen – Friedrich Christian Delius’ Spaziergang nach Syrakus, Angela Krauß‘ Die Überfliegerin und Barbara Honigmanns Eine Liebe aus nichts – zeigt Steinecke verschiedene Aspekte des Umgangs mit dem Themenkreis Reisen aus »posttraumatischer« Sicht – in allen bleibt der Bezug auf das Reiseverbot in der DDR (die damit die Reiseverbote aller Utopien aufs preußischste überbot) zentral.

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Höfische Verhaltenslehre
als Ingrediens des Reisens

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Das Thema der höfischen Maskerade auf Reisen beschäftigt Elke Waiblinger, die in ihrem Beitrag Castigliones berühmtes Lehrbuch für den Hofmann, Il libro del Cortegiano (1528), mit den Reisen Ludovico de Varthemas in Verbindung bringt. Dabei sind aber die höfischen Knigge-Regeln keineswegs die Vorgaben, zu denen der Reisebericht dann die Ausführungsbestimmungen lieferte; vielmehr will Waiblinger zeigen, dass Varthemas Maskeraden, Verkleidungen und Verstellungen dem Ideal des Hofmannes in ganz besonderer Weise entsprachen, und zwar vor dem ›Libro‹. In der literarischen Gestaltung des Erlebten im Reisebericht komme erneut die vom Hofmann geforderte Leichtigkeit und Kunstfertigkeit zum Tragen.

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Physiognomische Phantastik
auf Reisen bei Georg Forster
und Christoph Meiners

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Susanne Zantops Beitrag beschließt den Band. Im Zuge ihrer herausragenden Forschungen zu kolonialer Literatur in Deutschland ante rem stieß sie offensichtlich auch auf besonders verstörende Grenzüberschreitungen, wie sie im physiognomischen Blick auf das Fremde enthalten sind. Zantop stellt in ausführlichen Textsequenzen und -analysen Georg Forster und seinen Antipoden Christoph Meiners, den Göttinger Völkerkundler und berüchtigten Rasse-Theoretiker, als gleichermaßen von physiognomisch determinierten Urteilen beherrschte Reisende dar. Zwar wird Forster zugestanden, dass er die über Nationalphysiognomien bestimmten Nationalcharaktere als dynamische Kategorien denke, während Meiners sie als statisch deklariere. Doch stellt sie sich – und uns – die Frage, ob sich nicht doch beide »in einen Diskurs einschrieben, der Ausgrenzung und Hierarchisierung durch Rückgriff auf physische Differenz legitimierte« (S. 176).

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Riskante Entgrenzungen
des Reisethemas

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Der Sammlung verschiedenster Annäherungen an ein Thema, das der Grenzüberschreitung und seiner Strategien, wohnt selbst ein Moment der Transgression inne, wie eingangs dieser Rezension bemerkt. Da im vorliegenden Band die Spannweite vom antiken Griechenland bis zum modernen Ostafrika in interdisziplinärer Vielfalt und kenntnisreichem Engagement ausgemessen wurde, ist dagegen nichts zu sagen. Als Tagungsband ist gerade dieser ›Artenreichtum‹ mit Lektürelust und kognitivem Zugewinn verbunden.

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Bei zweien der Beiträge war für die Rezensentin ein Zusammenhang mit der vorgegebenen kulturanthropologischen Plattform allerdings nicht mehr erkennbar. Michele Cometas Beitrag ist kunsthistorisch sicher interessant und hätte unter dem Motiv der »architektonischen Maskerade« auch eine durchaus in den Kontext passende »Fallstudie« über Moscheen im Okzident sein können. Doch gerade in dieser Hinsicht bleibt der Beitrag ausgesprochen »skizzenhaft« (S. 38) und kann auch durch die legitimatorischen Kniffe auf der letzten Seite kein zusätzliches Gewicht gewinnen. Genau hier spricht Cometa an, was sein Beitrag hätte leisten sollen: zu zeigen, wie die Aneignung der »Kultur des Anderen die Möglichkeit einer Identitäts-Konstruktion« (S. 58) bietet. Stattdessen bietet er eine detaillierte Darstellung der theoretischen Fundierung eines maurischen Stil-»Revivals«. Die kulturanthropologische Dimension wird dabei nur sehr gelegentlich gestreift, wenn es zum Beispiel um die Urtypen-Lehre des 19. Jahrhunderts geht, die Idee also, dass es so etwas wie einen anthropologischen ›Trieb‹ (S. 53) zu bestimmten architektonischen Urtypen gibt. Insgesamt jedoch sind die Bezüge zur »Zwischenwelt von Reiseliteratur, Exotismus und Kulturanthropologie« (S. 58) gänzlich »unmerklich« (ebd.) an der Rezensentin vorbeigezogen – und das über 30 Seiten.

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»Nein, Sir, es schadet nichts (there is no harm).« beschließt Bernhard Lang seinen Beitrag mit einem Zitat Dr. Samuel Johnsons. Ganz sicherlich schaden Beschreibungen des Jenseits, wie die von Swedenborg nicht – aber sie sind in ihrer kulturgeschichtlichen Tragweite für die Rezensentin auch nicht klar erkennbar geworden. Die angekündigte »Ethnographie der Himmels- und Höllenbewohner sowie die eingehendste Jenseitstopographie« (S. 89) mit Spannung erwartend erwies sich der Zusammenhang mit dem Reisethema auch hier als ein eher lockerer. Grafische Darstellungen der Jenseitsbeschreibung, Quellenuntersuchungen der Zusammensetzung von Swedenborgs Weltbild und Hinweise auf Zusammenhänge mit den zeitgenössischen Wissensbeständen sind für sich genommen durchaus informativ, bilden aber im Beitrag keine kohärente kulturgeschichtliche Folie.

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Mit einer letzten kritischen Anmerkung möchte ich es bewenden lassen: Die Beiträge sind durchaus in einen historischen Zusammenhang eingebettet, so dass es eigentlich nahe gelegen hätte, diesen auch bei der inhaltlichen Anordnung als Gliederungsprinzip zu nutzen. Dass stattdessen eine alphabetische Ordnung nach Namen der VerfasserInnen gewählt wurde, ist nicht recht einsichtig.

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Dennoch: Ein insgesamt ausgesprochen lesenswerter Band darüber, was Reiseliteratur in interdisziplinärer Ausweitung nach und neben positivistischer Eierzählerei auch sein kann. Und ein Anreiz, vielen der angesprochenen Fragen in weiteren Grenzgängen selbst nachzuspüren. Das Thema Schwellen, Grenzen und Überschreitungen ist jedenfalls längst nicht überforscht und schon gar nicht off limits...


PD Dr. Michaela Holdenried
Freie Universität Berlin
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
DE - 14195 Berlin

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Ins Netz gestellt am 19.01.2005

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Gabriele Dürbeck. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Michaela Holdenried: Wenn einer eine Reise tut. Von der Odyssee bis zur Studio-Fotografie in Ostafrika. (Rezension über: Renate Schlesier / Ulrike Zellmann (Hg.): Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster, New York u.a.: Waxmann 2003.)
In: IASLonline [19.01.2005]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=950>
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