Hans-Joachim Kertscher

Zur Genrebestimmung einer Zeitschrift - Christoph Martin Wielands Der Teutsche Merkur




  • Andrea Heinz (Hg.): »Der Teutsche Merkur« - die erste deutsche Kulturzeitschrift? (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 2) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003. 302 S. 10 s/w Abb. Gebunden. EUR 38,00.
    ISBN: 3-8253-1497-9.


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Der seit 1998 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte und vornehmlich von Wissenschaftlern der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität transdisziplinär bestrittene Sonderforschungsbereich Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800 legt mit diesem Band erste Forschungsergebnisse zu Wielands Zeitschriftenprojekt Der Teutsche Merkur, der immerhin von 1773 bis 1810 erschien, vor. Diese Zeitschrift und das von Heinrich Christian Boie und Christian Konrad Wilhelm Dohm herausgegebene Deutsche Museum, das allerdings nur von 1776 bis 1791 bestand, bezeichnete schon Robert Prutz mit Recht als die beiden Periodika, die »schon nicht mehr bloß Kritik und Produktion, sondern [...] auch Kunst und Wissenschaft, Natur und Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaft, kurzum den ganzen Umfang der damaligen so außerordentlich erweiterten Bildung zusammenfassen« 1 wollten. So ist es nur folgerichtig, daß das ›Flaggschiff‹ des ›Ereignisses‹, der Merkur, in den Blickpunkt wissenschaftlichen Interesses gerückt wurde.

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Nach Hans Wahls umfassender Dissertation 2 zum Merkur aus dem Jahr 1914, die noch heute lesenswert und erkenntnisfördernd ist, hat sich Ende der siebziger Jahre Karin Stoll mit einer Dissertation über Wielands journalistische Bemühungen zu Wort gemeldet. 3 Eine Monographie, die sich mit dem Gesamtkorpus dieser Zeitschrift eingehend beschäftigt, legte Thomas C. Starnes 1994 mit seinem »Repertorium« 4 vor. Zuvor und danach erschien eine Reihe von Aufsätzen und Dissertationen, die sich mit ausgewählten Problemstellungen des Merkurs beschäftigen. Die wichtigsten davon seien kurz genannt: 1984 publizierte Hans-Georg Werner eine vielbeachtete Studie, die sich Wielands Konzeption der ersten Jahrgänge der Zeitschrift widmete. 5 Gotthard Lerchner untersuchte Anfang der neunziger Jahre anhand des Merkur die deutsche ›Kommunikationskultur‹ im 18. Jahrhundert. 6 Ebenfalls dem kulturellen Impetus der Zeitschrift folgte Klaus Mangers Aufsatz von 1994. 7 Mit Wielands Merkur-Beiträgen, die in den siebziger und achtziger Jahren publiziert wurden, befaßt sich die 2001 vorgelegte Dissertation von Reinhard Ohm. 8 Zwei Jahre später meldete sich Andrea Heinz mit einem ersten Beitrag zum Merkur zu Wort. Im selben Jahr erschien der von ihr herausgegebene und hier zu behandelnde Sammelband.

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Diskussion zum Begriff ›Kulturzeitschrift‹

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Heinz, die in dem eingangs genannten Sonderforschungsbereich als Teilprojektleiterin für den Bereich Musik und Theater verantwortlich zeichnet, glaubt in Wielands Merkur-Unternehmen »einen für Deutschland neuartigen Zeitschriftentypus« (S. 7, Vorwort) zu erkennen. Was im Titel des Sammelbandes noch als Frage steht (»die erste deutsche Kulturzeitschrift?«), wird in ihrem einleitenden Aufsatz zu einer Feststellung. Fünf Gattungsmerkmale, die eine so geartete ›Kulturzeitschrift‹ näher umschreiben, werden hier benannt. Zum einen sei diese an der »Zusammensetzung der anvisierten Leserschaft«, zum anderen am »weite[n] Spektrum der behandelten Länder« auszumachen. Drittens und viertens wären das »vielfältige Gattungsspektrum« bzw. »die Vielfalt der berücksichtigten Fächer und behandelten Themen« zu nennen. Schließlich käme »das einheitliche Programm, dessen Kern Kultur und Aufklärung ist, sowie die Einheit der Zeitschrift als Werk bzw. literarische Gattung« (S. 16) als fünftes Kriterium für eine ›Kulturzeitschrift‹ in Betracht.

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Abgesehen davon, daß Wielands Zeitschrift in ihrer Realisierung die genannten Kriterien nur bedingt erfüllt, treffen diese Merkmale auch auf deutsche Zeitschriften, die vor dem Merkur publiziert wurden, mehr oder weniger zu. Genannt seien hier nur die von Johann Christoph Gottsched oder seinen halleschen Widersachern Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier ins Leben gerufenen Zeitschriftenunternehmungen. Der Einwand der Herausgeberin, die Moralischen Wochenschriften hätten das »Bürgertum«, der Merkur hingegen die »gesamte lesende Bevölkerung« (S. 17) als Zielgruppe im Blick gehabt, erscheint in seiner Undifferenziertheit wenig schlüssig.

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Explizit gehen auf die genannte Problematik, also Merkur als »erste deutsche Kulturzeitschrift«, neben Andrea Heinz nur einige Beiträger ein. So meint Marie-Theres Federhofer, diese These anhand der Beiträge Johann Heinrich Mercks, einem der wichtigsten Autoren des Journals, stützen zu können. Merck, »ein vergleichsweise wenig spezialisierter Mitarbeiter«, der durch die Vielfalt seiner Beiträge auffalle, die »ganz unterschiedliche Textsorten« (S. 162) vermitteln, sei ein Beispiel dafür, daß »der Teutsche Merkur die erste deutsche Kulturzeitschrift ist« (S. 165), da hier nicht mehr nach dem »Diktat der Moral«, sondern mit einem »Konzept [...] vielfältiger und wechselnder Standpunkte« (S. 166) vorgegangen werde. John A. McCarthy, der im Gegensatz zu Heinz die Leserschaft des Merkur in »Mitgliedern der oberen Gesellschaftsschichten« situiert findet, polemisiert gegen ein prononciert vorgetragenes Insistieren auf innovative Strukturen im Merkur und hebt da »Kontinuitäten« hervor, »wo die Forschung lauter Diskontinuitäten zwischen den moralischen und belletristisch-aktuellen Zeitschriftenarten konstatiert« (S. 62, Fußnote).

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Hans-Peter Nowitzki hingegen plädiert dafür, sich völlig von dem Begriff ›Kulturzeitschrift‹ zu lösen und stattdessen mit dem des ›Nationaljournals‹ zu operieren. In Anlehnung an die seinerzeit kursierenden Vorstellungen von einem ›Nationaltheater‹ habe sich der Merkur zu einem ›Nationaljournal‹, d.h. »einem literarischen Institut nationalen Zuschnitts, universalen Angriffs und kosmopolitischer Perspektive« (S. 94) entwickelt. Dem, und zugleich der Heinzschen These, widersetzt sich Thomas Bach, der erst mit Karl Leonhard Reinholds Beiträgen zur Philosophie und Kulturmorphologie Ansatzpunkte markiert, mit denen der Merkur den Charakter einer ›Kulturzeitschrift‹ erhält.

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In enger Anlehnung an Leo Frobenius, der mit der Annahme eines vom Menschen unabhängigen organischen Wesens der Kultur operierte und dafür den Begriff ›Kulturmorphologie‹ prägte, sieht Bach diese Ansicht in einigen Beiträgen von Marcus Herz und Johann Christoph Maier in den siebziger Jahrgängen des Merkur vorgeprägt. »Damit findet sich [...] bereits zehn Jahre vor Reinholds Eintritt ein kulturphilosophischer und kulturmorphologischer Diskurs, an den Reinhold in seiner Argumentation anknüpfen konnte.« (S. 266) Mit seinen Beiträgen zur Popularisierung der Kantischen Philosophie habe Reinhold die Profilierung des Merkur erheblich vorangetrieben. »Zur Kulturzeitschrift wird er dadurch, daß in ihm Kultur nicht nur präsent, sondern auch thematisch ist.« (S. 275)

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Aspekte der Konzeption, Produktion,
Distribution und Rezeption des Teutschen Merkur

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Die übrigen Beiträge befassen sich mit Problemen der Konzeption, Produktion, Distribution und Rezeption des Journals, denen sich sein Herausgeber bzw. seine Mitarbeiter stellen mußten, und mit Facetten inhaltlicher Natur, die sich aus dessen Charakter ergaben. Siegfried Seifert handelt über ökonomische Aspekte des Selbstverlags, über sinkende Abonnentenzahlen und das Ringen des Herausgebers um die Gunst des Publikums, in dessen Ergebnis Zugeständnisse gemacht werden mußten, die den konzeptionellen Vorstellungen Wielands oftmals entgegenstanden.

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Einen Vergleich dieser Vorstellungen mit Boies und Dohms Deutschem Museum, einem ähnlich gelagerten Zeitschriftenunternehmen, unternimmt Jutta Heinz. Die Autorin kennzeichnet beide Journale als »Kulturzeitschriften«, die sich einem modernen Journalismus verpflichtet fühlten. Sie verweist auf die Diskrepanz zwischen konzeptionellem Anspruch und Realisierung und eröffnet Einblicke »in die literarischen und kulturgeschichtlichen Untiefen des journalistischen Alltagsgeschäfts« (S. 129).

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Daß dieses ›Geschäft‹ dem Literaturwissenschaftler gelegentlich auch Materialien im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte eines literarischen Textes bietet, weist Klaus Manger anhand der Publikation von Wielands Abderiten-Roman als Fortsetzungsgeschichte im Merkur nach. Wieland begann damit in den Monaten Januar bis Juli 1774, unterbrach die Publikation für vier Jahre und setzte diese von Juli 1778 bis September 1780 fort. Der Leser konnte damit gewissermaßen ein »Work in progress« nachvollziehen und wurde so zum »Zeugen nicht nur des werdenden Romans, sondern auch der Genese seiner Form« (S. 137).

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Ein Beispiel für die Darstellung fremder Kulturen im Merkur bietet der Aufsatz von Bernhard Budde. Wieland nahm die 1778 erschienene deutsche Übersetzung von Georg Forsters Reise um die Welt zum Anlaß, eine kommentierende Rezension dieses Werkes in Fortsetzungen zu vermitteln. Indem er Forsters Werk, das sich durch eine große »empirisch-reflexive[ ] Innovationskraft in wissenschaftlicher, ethischer und literarischer Hinsicht« auszeichnet, mit seinen eigenen »Verstandes- und Geschmacksurteilen«, der Sicht des im Lehnstuhl sitzenden Daheimgebliebenen also, konfrontiert, entsteht ein Text, der dem Leser das ›Eigene‹ und das ›Fremde‹ in behutsamer Weise vor Augen führt.

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Mit den Erdbeben in Sizilien und Kalabrien und deren Beschreibung im Merkur befaßt sich der Aufsatz von Peter Kofler. Er fragt, »mit welchen Argumentationsweisen und Vertextungsstrategien versucht wird, der Naturkatastrophe von 1783 beizukommen« (S. 191). In Anlehnung an Olaf Briese, der ab Mitte des 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Naturbeschreibungen »religiös-sakrale Deutungsmuster« zugunsten »ästhetische[r] Zuschreibungen« 9 schwinden sieht, stellt auch Kofler einen Wechsel in der Verwendung von Metaphern fest. So tritt in der Beschreibung von unvergleichlichen Geschehnissen an die Stelle der »Sakralisierung« die »Ästhetisierung« (S. 197).

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Anhand der Aufsätze von Johann Carl Wilhelm Voigt zur Geognosie und Mineralogie hebt Susanne Horn deren »hohen Stellenwert« für den »Anspruch auf ein breit gefächertes Angebot der Zeitschrift« (S. 214) hervor.

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Der etwa 40 Seiten umfassende und damit längste Beitrag des Bandes von Martin Keßler befaßt sich mit dem Anteil theologischer Arbeiten für den Merkur. Keßler stellt in den Vordergrund seiner Überlegungen die theologische Streitkultur, die in der Zeitschrift einen beträchtlichen Stellenwert einnimmt. Dabei kommt er zu dem überraschenden Ergebnis: »Die kontroverse Gestalt dieser Zeit war keineswegs Lessing, sondern Bahrdt.« (S. 253).

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Abschließend behandelt Astrid Ackermann Beiträge zum Luxus und Geschmack, denen sich der Merkur am Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt widmete. Sie konstatiert eine erstaunliche Vielfalt von Sichten auf Mode und Luxus, die sich zwischen den Polen Distanz und Sympathie bewegen.

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Hatte anfangs noch der kritische Ton, der Mode und Luxus mit Verfallserscheinungen des ancien régime in Frankreich in Verbindung brachte und stattdessen die Besinnung auf biedere nationale Traditionen zu lenken suchte, die Oberhand, verschafften sich Ende der achtziger Jahre immer stärker jene Stimmen Gehör, die Luxus und Mode mit Sensibilisierung des Geschmacks und Verfeinerung der Sitten in Verbindung brachten. Diese Haltung zum Gegenstand dominierte dann auch in Friedrich Justin Bertuchs 1786 gegründetem Journal des Luxus und der Moden, wo »die mit dem Luxus verbundenen positiven Effekte« (S. 289) in den Vordergrund gerückt wurden und dieser zudem als eine »Triebfeder der Ökonomie« (S. 290) erkannt wurde.

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Fazit

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Insgesamt eröffnen die Beiträge des Bandes Sichten auf Wielands Zeitschrift, die dieses Journal in der Breite seines Anspruchs, in der Vielfalt seiner Handschriften, aber auch in der Beschränktheit seiner Wirkung zeigen. Eine Gesamtsicht auf konzeptionelle, inhaltliche, strukturelle, personelle, wirkungsästhetische etc. Fragestellungen des Merkur, wie sie etwa Holger Böning 1996 / 97 für Zeitschriften des Hamburger Umfelds vorgelegt hat, bleibt freilich weiterhin ein Desiderat der Merkur-Forschung.


Prof. Dr. Hans-Joachim Kertscher
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung
Franckeplatz 1, Haus 54
DE - 06110 Halle

Ins Netz gestellt am 30.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Wilhelm Haefs. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Hans-Joachim Kertscher: Zur Genrebestimmung einer Zeitschrift - Christoph Martin Wielands Der Teutsche Merkur. (Rezension über: Andrea Heinz (Hg.): »Der Teutsche Merkur« - die erste deutsche Kulturzeitschrift? Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003.)
In: IASLonline [30.09.2004]
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Anmerkungen

Robert Prutz: Zur Geschichte des deutschen Journalismus. In: Deutsches Museum 1 (1851), S. 409–432, hier S. 411.   zurück
Hans Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im 18. Jahrhundert. Berlin: Mayer & Müller 1914.   zurück
Vgl. Karin Stoll: Christoph Martin Wieland. Journalistik und Kritik. Bonn: Bouvier 1978.   zurück
Vgl. Thomas C. Starnes: Der Teutsche Merkur. Ein Repertorium. Sigmaringen: Thorbecke 1994.   zurück
Vgl. Hans-Georg Werner: Literatur für die »policirte« Gesellschaft. Über Wielands Konzept bei der Herausgabe der ersten Jahrgänge des »Teutschen Merkur«. In: Weimarer Beiträge 30 (1984), S. 734–752.   zurück
Gotthard Lerchner: Deutsche Kommunikationskultur des 18. Jahrhunderts aus der Sicht Wielands im »Teutschen Merkur«. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 44 (1991), S. 52–60.   zurück
Klaus Manger: Wielands kulturelle Programmatik als Zeitschriftenherausgeber. In: Friedrich Strack (Hg.): Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Stuttgart: Klett-Cotta 1994.   zurück
Reinhard Ohm: »Unsere jungen Dichter«. Wielands literatur-ästhetische Publizistik im Teutschen Merkur zur Zeit des Sturm und Drang und der Frühklassik (1773–1789). Trier: WVT 2001.   zurück
Olaf Briese: Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung. Stuttgart / Weimar: Metzler 1998, S. 103.   zurück