Rüdiger Zymner

Zur Poetik des klugen Medienwechsels




  • Claus-Michael Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 93) Tübingen: Max Niemeyer 2003. VI, 240 S. Kartoniert. EUR 48,00.
    ISBN: 3-484-35093-8.


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Claus-Michael Ort betont gleich zu Beginn der Druckfassung seiner Kieler Habilitationsschrift von 1999, die noch den schönen schlichten Titel Schule der Affekte. Studien zu den Dramen Christian Weises trug, daß es nicht darum gehe, eine »vollständige Monographie« (S. 7) zu Christian Weises Dramen zu bieten. Auch eine erschöpfende Analyse einzelner Dramen sei nicht beabsichtigt,

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sondern vielmehr eine mikroanalytische Lektüre exemplarischer Dramen Weises (mit einem Seitenblick auf Johann Sebastian Mitternacht) und seiner gattungs- und affekttheoretischen Poetologie, die einzeltextspezifische und korpusspezifische Befunde auf abstrakte Problemkonstellationen zu beziehen erlaubt. (S. 7 f.)
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Die abstrakten Problemkonstellationen konkretisieren sich vor allem in einem »Medienwechsel« von den Schultheateraufführungen der Weiseschen Dramentexte, die unter den Bedingungen eines unmittelbaren ›sozialen Nahbereiches‹ und nach Maßgabe rhetorischer, affekttherapeutischer und moraldidaktischer Kriterien stattfinden konnten, hin zu den nur noch mittelbaren, ›literarisierten‹ Buchfassungen der Dramentexte, bei denen Weise mit den grundlegenden Bedingungen des sozialen Nahbereiches eben nicht mehr rechnen durfte und die ein Festhalten an den genannten Kriterien schwierig machten.

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Was heißt und was bewirkt ›Literarisierung‹ um 1700? – das ist eigentlich die leitende Grundfrage Orts, mit deren Hilfe er den literarhistorischen Wandel untersuchen möchte, der zu einem ›modernen Systemzustand‹ der Literatur ab ca. 1750 geführt habe. Sowohl der »Wandel literarischer Wissenskonstruktionen« (das ist grob mit dem Stichwort »literarischer Epistemologie« gemeint) als auch der »Wandel sozialorganisatorischer Umstände dieser Konstruktionen« müsse hierzu derart beschrieben werden, daß Literatur auf gesellschaftliche »Wandelsprozesse, also auf andere, nicht-literarische Wissenskonstruktionen bezogen werden« könne (S. 3 f.).

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Ort betrachtet insbesondere die Selbstthematisierung der Literatur (ihrer Eigenschaften, Funktionen und Wirkungen) als Indikator gesellschaftlichen Wandels, da sich Literatur angesichts steigender gesellschaftlicher Kontingenz und Komplexität durch Formen der »Selbstreferenz« ihrer Grenzen und Funktionen zu versichern versuche.

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Dabei faßt Ort »Selbstreferenz« nicht lediglich als explizite Thematisierung auf, sondern in einer weiteren Variante auch als abstrakte semantische Struktur, die ihr besonderes Problempotential in Figuren der Tautologie, der Paradoxie und der Zirkularität entfalte. Interessant erscheint ihm im Anschluß an Luhmannsche Theoreme hierbei vor allem, daß es nötig sei, solche Figuren ›aufzulösen‹, um Kommunikation nicht zu blockieren, und daß Häufungen von semantischen Strategien der Enttautologisierung oder Entparadoxierung auf ein Problempotential hinweisen, welches diskursspezifische Leitdifferenzen (wie im Falles des Diskurses über die Affekte jene etwa zwischen »Lust« und »Nutz«) »aufgestaut haben« (S. 5). Strategien der »Selbstreferenzunterbrechung« durch Enttautologisierung oder Entparadoxierung aber gelten ihm weiter als Indizien einer zusehends ›autonomisierten‹ Literatur um 1750. Das Auftreten von Strategien der Selbstreferenzunterbrechung vor dieser literarhistorischen Grenzmarke führe daher auch die Notwendigkeit einer »weniger kurzatmigen und normativen Rekonstruktion« (S. 6) der Geschichte der literarischen Selbstreferenzunterbrechung in der Frühen Neuzeit vor Augen.

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Wären mit diesen Vorüberlegungen die diskurs- und mediengeschichtlichen Argumentationsangebote insbesondere der Systemtheorie und der Diskurstheorie skizziert, die Ort gerne aufgreift, so bezeichnet das Stichwort »close reading« das konkrete Verfahren seiner ›Lektüren‹. Ausgangspunkt seiner Darstellung ist dabei in Kapitel 2 eine minutiöse Analyse des Titelkupfers sowie der beigefügten heroischen Alexandriner in Christian Weises Dramensammelband Freymüthiger und höflicher Redner [...] (1693). Die Analyse entfaltet Foucaults These von dem epistemischen Bruch zwischen dem Ähnlichkeits-Wissen des 16. Jahrhunderts und der hierarchisierenden ›klassischen Mathesis‹, dem Differenz-Wissen des 17. und 18. Jahrhunderts, zeigen das Titelkupfer samt Text doch, daß und wie aus Ähnlichkeit Differenz hervorgetrieben und Selbst- an Fremdrepräsentation gebunden werde (S. 27).

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Am Beispiel von Weises Betrübte und wiederum vergnügte Nachbars Kinder (1699) wird der Übergang vom Ähnlichkeitsparadigma zur entfalteten Differenz noch einmal belegt, bevor im Kapitel 3 insbesondere anhand verschiedener Vorreden Weises die grundlegenden Probleme erläutert werden, die Weise selbst im Zusammenhang mit dem Wechsel des Mediums vom Theater zum Buch thematisiert. Ort erkennt hier nun in der angestrebten gesellschaftlichen Nützlichkeit einer nur einmalig und hoch individuell realisierbaren Gelegenheitsrede, als die die Theateraufführungen gelten müssen, eine latente Paradoxie, der ein allgemeines Problem im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert zugrunde liege:

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Es betrifft die Anforderungen an rhetorische, affekttheoretische und affekttherapeutische Diskurse, ihre erhoffte ›bessernde‹ Wirkung sozial zu generalisieren, dauerhaft abzusichern und dafür die adäquaten Speicher- und Verarbeitungsmedien zu finden (S. 44)
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Im Falle des Medienwechsels zum Buch schiebe sich zunächst die literarische ›Gelegenheit‹ vor die pädagogischen Zwecke, Vergnügen und Nutz werden zum eigentlichen Ziel, prodesse und delectare kommen annähernd zur Deckung. Allerdings werden Reflexions- und Deutungsfreiräume des Lesers durch Strategien der Rezeptionssteuerung und Affektlenkung (S. 49) bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend eingeschränkt. Der grundlegende Problemzusammenhang von drohender Emanzipation der Literatur und pädagogisch motivierter Einschränkung oder Lenkung sei schon bei Weise zu erkennen, und zwar an den Problemen der Weiseschen Rhetoriklehre und der auf ihr basierenden Dramenpoetologie. Weises Konzept der »Privatberedsamkeit«, das auf den Funktionsverlust öffentlicher, republikanischer Rhetorik reagiere, gerät hierbei in den Mittelpunkt des Interesses, denn es zeigt sich, daß unter den Bedingungen des Medienwechsels nun »dem Leser der Schuldramen eine Rezipientenrolle angeboten« werde, »die ihn zum ›Akteur‹ der ›Privatberedsamkeit‹ zu erziehen verspricht« (S. 55).

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Nach der Darstellung weiterer wirkungspoetischer Probleme des Medienwechsels wendet sich Ort sodann im Kapitel 4 der ›Logik‹ der literarischen Selbstreferenzunterbrechung zu – und zwar zunächst am Beispiel von Johann Sebastian Mitternachts Trauer-Spiel / Der Unglückselige Soldat Und vorwitzige Barbirer (1662), an dem ex negativo eine Dramenpoetik aufscheine, die über die spezifischen Anforderungen des Schultheaters hinausführe und sich insbesondere im Zusammenhang des Medienwechsels um 1700 als längerfristig wirksam erweise (S. 104): Literatur scheine sich nämlich als Medium der Selbstreferenzunterbrechung anzubieten, und am Beispiel von Weises Zittauisches Theatrum (1683) zeigt Ort, daß zwei probate Techniken der Selbstreferenzunterbrechung die Unterscheidung von simultan geschachtelten Ebenen durch strukturelle Hierarchisierung und Verzeitlichung seien (z.B. S. 140 f.). Insbesondere hierin und in den ›Folgekosten‹ wie etwa der Vergrößerung der Textumfänge gewinne eine Poetik des klugen Medienwechsels Gestalt, die in einer Durchbrechung der auf Präsenz beruhenden Rezeptionsweise des Schultheaters beruhe. Die Selbstreferenz und die Selbstblockade ›emblematischer‹, dem alten bildlichen Ähnlichkeitsparadigma zugehöriger Argumentationsfiguren werden hier durchbrochen durch eine Umstellung auf Differenz. An Weises Dramen lasse sich ablesen, »daß Literatur die Aporien des Rhetorik- und Affektdiskurses nicht nur aufnimmt, zuspitzt und auflöst, sondern sich von diesen Diskursen selbst zu emanzipieren beginnt« (S. 210).

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Orts Studie verdient schon wegen der Genauigkeit und Intensität, mit der sie das dramatische Werk Christian Weises und den Übergang vom Schultheater zur Buchpublikation behandelt, Beachtung. Ohne Frage liegt hier mit Weises Werk ein ›medienhistorisch‹ interessanter, bedeutender Fall vor, wie ihn Ort zuvor ja auch ganz ähnlich bereits in seiner Dissertation (Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus, 1998), dort jedoch mit gewissermaßen umgekehrter Entwicklungsrichtung vom ›Differenz-Wissen‹ zum ›Ähnlichkeits-Wissen‹, untersucht. In der Literatur des Realismus, so lautet dort nämlich eine tragende These, lasse sich die Tatsache, daß die Literatur des Realismus sprachliche gegen bildliche Zeichen ausspiele und die Gefahren visueller Imagination beschwöre, angesichts zunehmender Medienkonkurrenz als Selbstreferentialität einer Literatur deuten, die am Beginn des Zeitalters des Films an ihre psychologischen und phantastischen Grenzen stoße. Betrachtet man beide Arbeiten als zusammengehörig, könnte man also sagen, daß demnach ›die‹ Literatur um 1700 Problemkonstellationen löst, während ›die‹ Literatur um 1900 zum Problem wird.

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Beachtung fordert Orts Studie aber nicht zuletzt auch durch den Anspruch, am Beispiel Weises (mit Seitenblicken auf andere Autoren) Aspekte eines epochalen Wandlungsprozesses vom 17 zum 18. Jahrhundert zu erfassen. Hierzu greift Ort auf erkennbar abstrakte Elemente systemtheoretischer und diskurstheoretischer Modellbildung zurück und versucht, theoretische Komplexität und textanalytische Komplexität fruchtbar werden zu lassen, indem er sie miteinander verbindet und insbesondere davon Abstand nimmt, Komplexitätsüberschüsse vorschnell zu beschneiden, wie er mehrfach betont. Ort präsentiert damit insgesamt so etwas wie einen reflektierten, aufgeklärten systemtheoretischen Konstruktivismus: Erkennbar begegnet Ort mit der Verschränkung von Textanalyse und abstraktem Theoriedesign dem Problem der Rückführbarkeit theoretischer Annahmen und der sie repräsentierenden abstrakten Begrifflichkeit auf singuläre Sachverhalte, erkennbar geht es ihm auch um die empirische Triftigkeit historischer Entwicklungsmodelle, wenn er vorsichtig von Prozessen des gesellschaftlichen Wandels und nicht von der Evolution sozialer Systeme spricht.

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So positiv dies zu bewerten ist, so sehr dies zu gelingen scheint und so sehr dies als eine gewichtige Klärung im systemtheoretisch und diskursanalytisch geleiteten Bemühen um eine Sozialgeschichte der Literatur zu begrüßen ist, muß man doch auch feststellen, daß theorieinduzierte grundsätzliche Schwierigkeiten selbst hier nicht gänzlich vermieden werden können. Sie scheinen im Argumentationsgang immer noch durch und bleiben präsent, wie in der Sicht des unterstellten historischen Längsschnittes die im Grunde teleologische Ausrichtung des Modells einer Ausdifferenzierung sozialer Systeme, oder auch im Hinblick auf die empirische Triftigkeit das Problem der zunächst vor allem terminologischen Überschreibung an sich bekannter Sachverhalte. Schließlich wäre auch zu fragen, ob der hier verwendete Literaturbegriff nicht zu stark homogenisiert und ob das Datenmaterial tatsächlich ausreicht, epochale Veränderungen sicher zu bestimmen.

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Diese Bedenken, eher Bemerkungen zu nicht unwichtigen Randaspekten, sollen und können die Leistung der vorliegenden Arbeit aber keineswegs schmälern: Sie liegt in der theoriegeleiteten und textanalytisch abgesicherten, literarhistorischen Hypothesenbildung. Orts Buch ist darin und insoweit ein gewichtiger Beitrag zu einer avancierten und ambitionierten Erforschung der Frühen Neuzeit.


Prof. Dr. Rüdiger Zymner
Bergische Universität / Gesamthochschule Wuppertal
Allgemeine Literaturwissenschaft
Gaußstr. 20
DE - 42119 Wuppertal

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Ins Netz gestellt am 09.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Rüdiger Zymner: Zur Poetik des klugen Medienwechsels. (Rezension über: Claus-Michael Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. Tübingen: Max Niemeyer 2003.)
In: IASLonline [09.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=958>
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