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Professoren, Tänzerinnen und Huren

Die Brüder Grimm im Briefwechsel
mit dem Rechtsgelehrten Gustav Hugo

  • Stephan Bialas (Hg.): Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Gustav Hugo. (Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden 3) Stuttgart: S. Hirzel 2003. 474 S. 13 Abb. Gebunden. EUR (D) 46,00.
    ISBN: 3-7776-1145-X.
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Der Briefwechsel mit dem Rechtsgelehrten Gustav Hugo zeigt die Brüder Grimm zwischen Göttingen und Berlin, als Entlassene unter König Ernst August II. und als gefeierte Gelehrte unter Friedrich Wilhelm IV. Diese ausgezeichnet kommentierte Quellensammlung über den Verfassungsstreit in Hannover und die Göttinger Sieben ist zugleich Teil einer Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, die mit der Gesamtausgabe der Grimm-Briefe entsteht.

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Die Demütigung durch König Ernst August von Hannover hatten die Brüder Grimm nie verkraftet. Immer wieder spielte Wilhelm Grimm in Briefen an Gustav Hugo (1764−1844) auf den Monarchen an, erkundigte sich nach dessen Geisteszustand und war empört über dessen Verhalten. So beschrieb Wilhelm in einem Brief vom 23. April 1842, wie Ernst August bei einem Aufenthalt in Berlin zu Alexander von Humboldt sagte: »nun herr v. Humboldt, was machen meine verlaufenen göttinger professoren? aber Sie wißen ja professoren, tänzerinnen und huren kann man überall für geld wiederhaben.« Letztlich versuchte wohl auch Ernst August, mit diesen Unverschämtheiten sein Gesicht zu wahren. Denn die 1837 aus dem Dienst Entlassenen hatten sich zu dieser Zeit in Berlin schon bestens etabliert.

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Entlassen und des Landes verwiesen

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1837 waren die Brüder Grimm mit König Ernst August in Konflikt geraten. Mit fünf weiteren Göttinger Professoren hatten sie schriftlich gegen die Aufhebung des 1833 vereinbarten Staatsgrundgesetzes protestiert, was zur Entlassung der »Göttinger Sieben« führte. Drei der sieben Professoren, Jacob Grimm, Friedrich Christoph Dahlmann und Georg Gottfried Gervinus, wurden zudem des Landes verwiesen. Ihnen wurde vorgeworfen, die Protesterklärung verbreitet zu haben. Während Wilhelm Grimm noch in Göttingen blieb, wurde Jacob von seinem Bruder Ludwig Emil aufgenommen, der Professor an der Akademie der bildenden Künste in Kassel war.

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Die Ereignisse des Jahres 1837 sind ein wiederkehrendes Thema in den Briefen von und an Gustav Hugo. Minutiös berichtete Hugo über die Entwicklung des Verfassungskonflikts. Und für die Grimms war er ein wichtiger Informant mit zuverlässigen »Quellen«, weil er die meisten Justizbeamten des Königreiches Hannover persönlich kannte.

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Gustav Hugo, einer der führenden Rechtsgelehrten im Königreich, trat in diesem Konflikt für die Interessen der Universität ein. Wie die große Mehrheit der Göttinger Professoren, lehnte auch er das Vorgehen des Königs ab und versprach sich vom Eingreifen der Bundesversammlung, dass das königliche Patent von 1837 zurückgenommen würde, auf dem die Aufhebung der Verfassung von 1833 beruhte. In seinen Briefen wird deutlich, dass er die Angelegenheit als Jurist und Universitätslehrer betrachtete. Zugleich betonte er aber auch seine persönliche Unabhängigkeit, die den betroffenen Professoren fehlte. »Parteienstreit«, schreibt Stephan Bialas im Vorwort, »verabscheute er; die Rolle des Vermittlers entsprach seinem Charakter eher. Dabei liebte er es, seine (materielle und soziale) Unabhängigkeit wie seine Prinzipienfestigkeit demonstrativ zu behaupten.«

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Zu Lebzeiten verstorben

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Der Briefwechsel aus den Jahren 1837 bis 1844 ist nahezu vollständig überliefert. Er gehört mit knapp 290 Briefen zur umfangreicheren Korrespondenz der Brüder. Es handelt sich um eine Gelehrtenkorrespondenz, nicht aber um eine gelehrte, wie sie Jacob Grimm beispielsweise mit Karl Lachmann führte. Wie Stephan Bialas schreibt, sei Gustav Hugos wissenschaftsgeschichtliche Stellung »unter Fachgelehrten ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass die Wirkungen, die sein Werk über seine Lebenszeit hinaus ausübte, gering blieben«. Hugos Werk bestand aus juristischen Lehrbüchern. Noch zu Lebzeiten wurde er zu den Verstorbenen gezählt, wie er in einem Brief vom 4. und 7. November 1841 feststellte.

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So kreist der Briefwechsel weniger ums Gelehrte, eher ums Politische. Hier und da werden philologische Themen angeschnitten, im Großen und Ganzen ist der Inhalt jedoch persönlich, freundschaftlich, wenn nicht familiär. Wilhelm Grimm war der eifrigste Schreiber, und wir erfahren viel über den Alltag in Kassel, Göttingen und Berlin.

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Einiges mehr hätten wir sicher erfahren, wenn die Briefpartner sich nicht schon sehr früh darauf geeinigt hätten, auf Belangloses zu verzichten. An Wilhelms Frau Dorothea schrieb Hugo am 21. Oktober 1838: »Was sich von selbst versteht muß man nicht schreiben … ausgenommen an Leute, von denen man glaubt dass sie auf RedensArten halten. Sagen Sie Dieß ja auch Ihrem Manne; wenn er etwas Neues weiß soll er mir es von Cassel aus, wie von der Allee her, melden; aber solche alte Sachen dass wir uns gut sind … sind das Papier nicht werth gesagt zu werden …«

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Und so sind die Briefe häufig im Nachrichtenstil verfasst, eilen Zeitungsmeldungen voraus oder führen Fragen und Antworten auf, so als säßen die Briefpartner als Gesprächspartner an einem Tisch. Berufungen, Todesfälle, Krankheiten und jede Menge Klatsch gehören zum Inhalt. Früh fasste Wilhelm daher auch den Grundsatz, »von allem, was man hier hört, vorerst nichts zu glauben« (Brief vom 21. Oktober 1841). Und immer wieder wurde auf Quellen verwiesen, die nicht genannt werden sollten.

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Die Verfolgung lässt nicht nach

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Das hatte seinen Grund. Denn die »verfolgung lässt noch nicht nach«, schrieb Wilhelm am 10. März 1841 in seinem letzten Brief aus Kassel. Kurz vor dem Umzug nach Berlin, ließ König Ernst August wieder von sich hören. Wilhelm berichtete: »von Berlin höre ich aus guter quelle (doch nicht von Savigny) daß gegen unsere berufung dorthin eine protestation von Hanover eingelaufen jedoch zurückgewiesen sei. das theilen Sie nur den nächsten bekannten mit, die es nicht weiter sagen.«

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Am 2. November 1840 wurden die Brüder von dem neuen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. als Mitglieder der Akademie der Wissenschaften mit einem Sondergehalt nach Berlin berufen. Es begann ein neuer Abschnitt in besseren Verhältnissen, die ihnen jedoch auch politische Zurückhaltung geboten. Wilhelm Grimm berichtete ausführlich über die Berliner Zeit, über akademische Pflichten, über Vorlesungen an der Berliner Universität, die Wohnverhältnisse und natürlich über gesellschaftliche Anlässe. Hier bewies er einen Blick fürs Detail. So entfällt beispielsweise bei der Beschreibung einer Aufführung des »Sommernachtstraums« der größere Teil auf das Publikum.

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Lebende Bilder in prächtig
erleuchteten Gemächern

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Die Grimms gehörten zur bürgerlichen Elite der Stadt, sie verkehrten mit Gelehrten, Künstlern, Ministern und Adligen, luden zu Gesellschaften in ihre 10-Zimmer-Wohnung in der Lennéstraße am Tiergarten ein und wurden eingeladen – nach Potsdam und Charlottenburg, nach Tegel zu Humboldt oder zu einer »großen fete« bei Friedrich Carl Savigny: »fürsten, grafen, excellenzen, minister, geheime räthe, künstler u. professoren waren in den prächtig erleuchteten gemächern versammelt, es ward gesungen, und lebende bilder vorgestellt und dauerte bis ein uhr«, schrieb Wilhelm am 14. und 23. Februar 1843 an Hugo.

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Man traf sich, überreichte Empfehlungsschreiben und erfuhr Neues aus aller Welt. So auch von der bevorstehenden Expedition des Ägyptologen Karl Richard Lepsius, der in den Jahren 1842 bis 1846 das ägyptisch-sudanesische Niltal erforschte. Bewundernd berichtete Wilhelm in einem Brief vom 14. und 16. November 1841 über die Begegnung: »Endlich Dr Lepsius der von seiner bevorstehenden reise auf dem rothen meer und nach Aegypten spricht wie unser einer von einer reise auf dem Rhein.«

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Diese Empfänge und Soireen im weitläufigen Berlin waren aber auch belastend und hielten von der wissenschaftlichen Arbeit ab. So klagte Wilhelm am 7. November: »die wintergesellschaften stehen jetzt in voller blüte, und bei aller zurückhaltung von meiner seite muß ich doch mehr zeit daran geben, als mir lieb ist … dabei das schlechte wetter und die weiten wege, hin zu kann man eine droschke haben, aber um halb 11 uhr verschwinden sie, da muß man sich einen besondern wagen bestellen und noch der bedienung, die einem die treppe herableuchtet, geld in die hand drücken. das ist alles viel einfacher und vertraulicher in Göttingen. dazwischen streichen die fremden wie die schnepfen.«

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Eine vielseitige Kulturgeschichte

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Für die Erforschung des hannoverschen Verfassungsstreits dürfte dieser ausführlich kommentierte Briefwechsel ein Gewinn sein. Aber auch die Einzelheiten aus dem Grimm’schen Alltag zeichnen ihn aus, machen ihn lesbar und das Umfeld lebendig, in dem die Grimms arbeiteten. Nach verstreuten Einzeleditionen sollen nun sämtliche Briefe, die die Brüder Grimm schrieben oder erhielten, herausgegeben werden. Derzeit sind rund 21.000 Briefe und 2.000 Korrespondenzpartner erfasst. Ein umfangreiches Projekt, an dem 40 Fachleute aus dem In- und Ausland arbeiten und mit dem zugleich eine vielseitige Geschichte des 19. Jahrhunderts entstehen wird.

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Weitere Informationen zur kritischen Gesamtausgabe des Briefwechsels finden sich auf der Internetseite der Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel (Humboldt-Universität zu Berlin): www.grimmnetz.de.