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Das 'Prinzip Schlüssel'

Versuche zur Rehabilitierung und Begriffserweiterung
der »Schlüsselliteratur«

  • Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. (Studien zur deutschen Literatur 170) Tübingen: Max Niemeyer 2004. X, 299 S. 5 Abb. Kartoniert. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 3-484-18170-2.
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G. M. Röschs Untersuchung Clavis Scientiae (als Habilitationsschrift 1999 in Regensburg eingereicht) versteht sich als Verteidigungsschrift gegen die Abwertung von Schlüsselliteratur in Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Ausgehend von der Annahme, daß das Genre »literarisch sehr produktiv [...], sein Renommee dagegen verschwindend gering« (S. 39) sei, setzt Rösch zu einer Rehabilitierung verschlüsselnder Literaturproduktion und entschlüsselnder Literaturrezeption an. Diese Rettungsaktion ist in drei Teile gegliedert: eine Grundlegung, die aus anekdotischen, historischen und methodologischen Hinführungen besteht (S. 1–40), eine Historische Entwicklung des Konzepts, die in vier Kapiteln Beispiele deutscher Schlüsselliteratur vom 17. bis zum 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der poetologischen Strömungen der jeweiligen Zeit diskutieren soll (S. 41–263), und abschließende Konsequenzen (S. 267–271). Im Folgenden werden zur unvermittelten Darstellung der formalen Gestaltung der Arbeit die von der Autorin gewählten Kapitelüberschriften übernommen.

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I. Grundlegung

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I.1 Drei Teilansichten des Themas

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An den Anfang ihrer Arbeit setzt Rösch drei Ankedoten, die »– im Sinne Greenblatts – zentrale historische Zusammenhänge des Themas repräsentieren« (S. 3) sollen: 1) die Erkennungsszene der Odyssee (die Amme Eurykleia erkennt den Heimkehrer an seiner Narbe); 2) die 1896 veröffentlichte Biographie Caligula. Eine Studie über römischen Kaiserwahnsinn, in welcher der Historiker Ludwig Quidde mit einer historisch akkuraten Darstellung Caligulas Parallelen zu Wilhelm II. herstellt, ohne den Namen des deutschen Kaisers zu erwähnen; 3) die Beschreibung Jan Philipp Reemtsmas, wie der Entführte durch versteckte Botschaften in Briefen an seine Familie versuchte, Informationen über seine Situation und seine Entführer zu übermitteln. Der Zusammenhang zwischen diesen Anekdoten und den Verfahren der Schlüsselliteratur wird über die Stichworte »verdeckte Botschaft«, »doppelte Lektüre«, »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung« mehr angedeutet als expliziert; besonders inwiefern das Wiedererkennen eines Menschen an einem nicht gleich sichtbaren, aber unverwechselbaren Kennzeichen (Narbe) in Zusammenhang mit Verschlüsselungspraktiken steht, bleibt im Dunkeln.

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I.2 Historische Herleitung des Konzepts

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In den als Historische Herleitung bezeichneten Überlegungen wird gut new historizistisch davon ausgegangen, daß um »die Verfahren der Verschlüsselung und die Bedingungen ihres Funktionierens, also der Entschlüsselung, zu verstehen, [...] die außerliterarischen Formen gesichtet werden« (S. 9) müssen. So wird auf Steganographie (Verstecken einer Botschaft in einem Text), Kryptographie (Unleserlich-Machen einer Botschaft für Uneingeweihte) und kabbalistische Techniken (Transposition, Gematria, Notarikon, Temurah) eingegangen. Hinzu kommt eine Erörterung der Bedeutung von Schlüsseln in der Emblematik. Warum gerade diese Konzepte ausgewählt werden und was sie genau mit Schlüsselliteratur zu tun haben, wird nicht weiter expliziert. Als Ergebnis der ›Herleitung‹ wird festgehalten, daß ein verschlüsselter Text sich (wie die Kryptographie) die Dichotomie zwischen Oberflächentext und darunterliegendem Geheimtext zunutze mache, der Decktext jedoch hier anders als dort einen ästhetischen Eigenwert gewinne.

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Angehängt wird die These, daß verschlüsselte Texte der Verfügungsgewalt des Autors entzogen würden, weil der Leser die Deutungsmacht übernehme. Daß die Deutungsmacht bei allen (literarischen) Texten beim Leser liegt, bleibt dabei unberücksichtigt, und auch der Widerspruch mit der gleich im Anschluß formulierten Beobachtung, daß ein Text nur dann entschlüsselt werden kann, wenn der Leser zum Dechiffrieren über den gleichen Schlüssel verfügt, den der Autor zum Chiffrieren benutzt hat (und also die Deutungsintention des Autors bei verschlüsselten Texten eher an Bedeutung gewinnt), wird nicht thematisiert.

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I.3 Methodische Grundlegung
der literarischen Ver- und Entschlüsselung

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Der Inhalt dieses Kapitels stimmt insofern mit seiner Überschrift überein, als sowohl etwas über die Vorgehensweise der Arbeit, also über die Methode der Untersuchung von Schlüsselliteratur gesagt wird, als auch über grundlegende (aber nicht methodische) Merkmale von Schlüsselliteratur. Für den Bereich der Vorgehensweise werden aus der allgemeinen (und das epistemologische Problem etwas verkürzenden) Feststellung, daß die in literarische Texte eingegangene Realität »für die literaturwissenschaftliche Analyse nicht mehr zugänglich und prinzipiell uneinholbar ist« (S. 22), zwei Konsequenzen gezogen: 1) Gegenstand der Untersuchung sei nicht das Verhältnis zwischen innertextlicher und außertextlicher Realität, sondern allein »die Gebärden des Textes auf die außertextliche Realität hin« (S. 22); 2) ausdrückliches Ziel der Untersuchung sei hingegen, das Verhältnis zwischen direkt referenzialisierenden Texten und indirekt, verschlüsselt referenzialisierenden Texten zu beleuchten. Die daran anschließend geäußerte These, daß verschlüsselte Literatur als Palimpsest aufgefaßt werden könne, scheint nur eine Kuriosität, ist jedoch in gewisser Hinsicht symptomatisch für den laxen Umgang mit literaturwissenschaftlichen Begriffen: »Ein verschlüsselter Text stellt ein Palimpsest dar, dessen Zweitschrift eine darunterliegende Erstschrift erkennbar hält; er ist als Anagramm zu lesen, weil in seinem Oberflächen- bzw. Decktext ein Sub- bzw. Geheimtext verborgen ist.« (S. 23)

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Die Thematisierung der Methodik der Arbeit, die sich stark auf die sogenannten Errungenschaften des New Historicism (Kontextanalyse; keine Hierarchisierung von Texten; kulturhistorische Spurensuche) bezieht, resümiert sich in der folgenden Formulierung:

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Die Einzeluntersuchungen laufen darauf zu, die Referentialisierung als legitime Form der Lektüre herauszustellen und damit einen Text sowohl als Schnittstelle im Geflecht der Diskurse zu interpretieren, wie das die Diskursanalyse tut, wie auch als eine Schnittstelle im Geflecht vitaler Interessen oder Sympathien und Antipathien der Leserschaft. Inspiriert ist dieser Blick auf die in den Texten gespeicherten Energien vom New Historicism und seiner Spurensuche nach kulturellen Praktiken, die der Text als Gedächtnis aufbewahrt. (S. 39)
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Naheliegende gattungstheoretische oder fiktionstheoretische Reflexionen bleiben aus. Im Hinblick auf die Fiktionstheorie wird eingeräumt, daß das Verhältnis von Fiktionalität und Faktizität in der Arbeit nur gestreift und nicht eigentlich behandelt wird (vgl. S. 39). Damit wird allerdings deutlich, daß der Untertitel die Arbeit in ein schiefes Licht rückt: es handelt sich nicht um eine »Studie zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall ...«, sondern um eine Studie zur Schlüsselliteratur (zu ihren Verfahren, ihren Konzepten und ihrer Bewertung); an eine fiktionstheoretische Vertiefung ist nicht gedacht.

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Als terminologisches Zentrum ihrer Arbeit führt Rösch das ›Prinzip Schlüssel‹ ein, »als welches das Ineinander von Verschlüsselung (auf seiten des Autors) und Entschlüsselung (auf seiten der Rezipienten) zu verstehen ist« (S. 22). Das ›Prinzip Schlüssel‹ soll dabei als »dynamisches Konzept« entworfen werden, weil – wie es später heißt –»das Verhältnis zwischen Realität und Fiktionalität fluktuiert« (S. 267). Rösch behauptet, damit eine von Kanzog vollzogene »kommunikative Wende in der Beschreibung der Schlüsselliteratur« (S. 22) weiter zu verfolgen. 1 Eine tatsächlich kommunikationsorientierte Analyse, die die Beziehungen von Autorintention, Textstrategien und Rezeptionsverhalten beleuchten würde, findet allerdings kaum statt, da Rösch bei ihren Analysen oft den ein oder anderen Aspekt der literarischen Kommunikation vernachlässigt und sich in der Regel auf den Bereich der Rezeption konzentriert.

[14] 

Bei der Darstellung grundlegender Merkmale der Verschlüsselungspraxis wird zwischen externen und internen Strategien unterschieden. Unter dem Stichwort externe Strategien werden paratextuelle Schlüssel und die historische Veränderbarkeit der Rezeption im Hinblick auf die Bedeutung eines Schlüssels behandelt. Im Zusammenhang interner Strategien wird Schlüsselliteratur einmal als »narrative Allegorie«, einmal als »äsopisches Reden«, das seine eigentliche Aussage wegen der Zensur verhüllen muß, erläutert. Die anschließende Abgrenzung der Schlüsselliteratur von der Autobiographie kommt zu dem (eher bescheidenen) Ergebnis, daß die Autobiographie Identität mit der Realität behaupte, während die Schlüsselliteratur Ähnlichkeit mit der Realität vermuten oder erraten ließe.

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Die wenig strukturierte Auflistung verschiedener Merkmale der Schlüsselliteratur wird nicht zu einem Gattungsprofil abgerundet. Eine solche gattungstheoretische Bestimmung gehört auch nicht zur Zielsetzung der Arbeit. Obwohl immer wieder von der Gattung beziehungsweise dem Genre Schlüsselliteratur gesprochen und letztere in der historischen Betrachtung auch als solche(s) behandelt wird, geht Rösch davon aus, daß es gattungsunterscheidende Merkmale nicht gibt, weil Verschlüsselung »ein partiell und flackernd in einem Text aufscheinendes Element« (S. 267) sei. Die Tatsache, daß nicht genau festgelegt wird, was unter dem ›Prinzip Schlüssel‹ zu verstehen ist, erlaubt es Rösch zudem im zweiten Teil, mit Texten zu arbeiten, die bei klarer literaturwissenschaftlicher Grenzziehung 2 nicht oder nur am Rande zur Schlüsselliteratur gezählt werden können. Auch dies ist jedoch beabsichtigt, da es das erklärte Ziel der Autorin ist, den Begriff der Schlüsselliteratur zu erweitern.

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II. Historische Entwicklung
des Konzepts

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Den vier nach Jahrhunderten (17.–20.) gegliederten Kapiteln des zweiten Teils der Arbeit ist der Versuch gemeinsam, das, was die Autorin jeweils als nach dem ›Prinzip Schlüssel‹ verfaßte Literatur betrachtet, in den Kontext poetologischer Strömungen der jeweiligen Epoche zu stellen.

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II.1 Das 17. Jahrhundert:
Politische Geschichte und Hofarkana

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Als erstes wird John Barclays lateinischer, von M. Opitz ins Deutsche übertragener Roman Argenis (1621) als Prototyp des höfisch-galanten Schlüsselromans behandelt. Die unterschiedlichen mit dem Text verbundenen Schlüssel werden besprochen, wobei zwischen tabellarischer Clavis (1:1-Zuordnungen) und diskursiver Clavis (Entschlüsselung in einem interpretatorischen Diskurs) unterschieden wird. Der Zusammenhang mit der Romanpoetik der Zeit wird darin gesehen, daß die Integration von Historie in den erfundenen Kontext der Aufwertung des höfischen Romans dienen sollte. Dies wiederum führt zu der etwas kryptisch formulierten Schlußfolgerung: »Die Legitimation des ›Prinzips Schlüssel‹, also des Ineinanders von Ver- und Entschlüsselung, hat Teil an der allgemeinen poetologischen Rechtfertigung des Romans.« (S. 57)

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Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttels Die römische Octavia (1707 / 14) sowie Hunolds Der Europäischen Höfe Liebes- und Heldengeschichte (1705), die sich beide auf das Leben von Sophie Dorothée von Celle beziehen, werden zum einen als Beispiele für Romane mit Schlüsseln, die nicht allgemein, sondern nur einer ausgewählten Leserschaft zugänglich sind, vorgestellt; zum anderen möchte Rösch eine Bewegung weg von einer entschlüsselnden hin zu einer vorrangig ästhetischen Rezeption im 18. Jahrhundert nachzeichnen. So sei die Existenz von Schlüsseln zwar ein Beweis dafür, daß die Entschlüsselung als Rezeptionsform weiterlebe, gleichzeitig jedoch beginne diese Rezeptionsform obsolet zu werden. Im Weglassen der diskursiven Schlüssel in einer späten Übersetzung (1794) von Argenis sieht die Autorin ein Indiz dafür, daß Fiktion, Allegorie und Historie im 18. Jahrhundert auseinander treten und der fiktionale Roman nicht länger durch einen Bezug auf historische Gegebenheiten gerechtfertigt werden müsse.

[21] 

II.2 Das 18. Jahrhundert:
Weiterbestehen und Ironisierung
des ›Prinzips Schlüssel‹

[22] 

»Brücken« aufzuzeigen, »die vom ›Prinzip Schlüssel‹ zu theoretischen Konzepten nach 1700 führen«, wird als Ziel des Kapitels zum 18. Jahrhundert benannt. Als eine solche Brücke wird das »Weiterleben der Verschlüsselung in der Satire« identifiziert, »denn satirische Kritik bedeutet ein ›Dilemma‹, das zur Verhüllung zwingt« (S. 79). Auch in der »Nachahmung«, dem zentralen Konzept der Poetik des 18. Jahrhunderts, sieht Rösch ein Fortleben des ›Prinzips Schlüssel‹, da in den Überlegungen zur Mimesis notwendigerweise das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild diskutiert werde. Als »Nagelprobe, wie sich das ›Prinzip Schlüssel‹ mit den [...] vorgestellten Kategorien der Poetik vermitteln läßt,« soll die »Kontextanalyse« von C.M. Wielands Geschichte der Abderiten und von Goethes Werther dienen (S. 92).

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Rösch ist bemüht, für beide Texte nachzuweisen, daß »referentialisierende« Lektüren, also der Versuch, reale Personen hinter den geschilderten fiktionalen Figuren zu entdecken, nicht als abweichende private Lektüren von Betroffenen (den angeblichen »Vorbildern«) gewertet werden dürfen, sondern als Rezeptionsformen angesehen werden müssen, die durch in den Texten vorfindliche Referentialisierungssignale legitimiert sind. An dieser Einschätzung sei auch festzuhalten, wenn die Autoren explizit solche Lektüren ablehnen, wie Wieland in seinem Der Schlüssel zur Abderitengeschichte (der eigentlich kein Schlüssel ist) oder wie Goethe in dem, was Rösch als seine »Publikumsbeschimpfungen« nach Erscheinen des Romans bezeichnet. So ist Rösch der Auffassung, daß die (entschlüsselnden) Reaktionen der zeitgenössischen Leser des Werther bis heute unterschätzt werden, auch wenn die vorgenommenen Identifizierungen oft einer genaueren Überprüfung nicht standhalten.

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II.3 Das 19. Jahrhundert:
Verschlüsselung, Zensur und Realismus

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Der Zusammenhang zwischen Verschlüsselung und Zensur soll an E.T.A. Hoffmanns Märchenerzählung Meister Floh vorgeführt werden. Der Darstellung der zeitgenössischen Rezeption des Textes mit der »Zensur als Entschlüsselung« (S. 142) und mit den Versuchen Hoffmanns, die Autonomie des Kunstwerks und den phantastischen Inhalt der Erzählung zu betonen, folgen Reflexionen über den Stellenwert von Verschlüsselungsverfahren im romantischen Erzählen. Rösch ist der Ansicht, daß die Leseranreden –»ein Element der Selbstreflexivität und damit [...] für die Poetik der Romantik grundlegend« – dem zeitgenössischen Leser von Meister Floh helfen, »die politische Funktionalisierung« zu erkennen (S. 158). Zudem sei die Grundfrage an einen Text der Schlüsselliteratur »Konnte er Geheimwissen mitteilen?« (S. 160) – eine Frage, die an die anderen in der Arbeit behandelten Texte allerdings nicht (explizit) gestellt wird – in diesem Falle zu bejahen.

[26] 

Die Forderungen nach Realitätsdarstellung des Realismus führen nach Ansicht von Rösch nicht zum ›Prinzip Schlüssel‹, obwohl diese Rezeptionshaltung im subliterarischen Bereich fest etabliert sei, allerdings mit dem Makel des Skandalösen behaftet. Als Zeugnis hierfür werden die negativen Bewertungen von Goethes Werther durch Spielhagen (Schielen auf Wahrheit im banausischen Sinn der Tatsachenwahrheit) und durch Fontane (Mangel an Diskretion) angeführt. Eine Verbindung des Realismus mit dem ›Prinzip Schlüssel‹ wird jedoch in der Diskussion um den historischen Roman gefunden: »Da der Begriff ›historisch‹ den Bezug auf Wirklichkeit im Sinne der Gegenwart meint, berühren sich in ihm der historische und der Schlüsselroman sehr eng.« (S. 165) Als Beispiel hierfür soll Fontanes Vor dem Sturm gelten, gelesen als Darstellung von authentischen Personen, nämlich der preußischen Adeligen Friedrich August Ludwig und Alexander von der Marwitz verschlüsselt in den Figuren Berndt und Lewin von Vitzewitz. Als weiteren Beweis für die Präsenz des ›Prinzips Schlüssel‹ zumindest auf der Rezipientenseite werden bestimmte das fiktionale Geschehen auf die Realität des Modells beziehende Lektüren von Fontanes L’adultera zitiert.

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II.4 Das 20. Jahrhundert:
Biographie, politische Geschichte,
intertextuelles Spiel

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Am Beginn des Kapitels steht der Versuch, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Schlüsselliteratur und dem, was die Autorin Modellphilologie nennt. Unter Modellphilologie werden positivistische, biographische Deutungen von literarischen Texten verstanden, die aus der Identifikation der biographischen Quellen eines Textes im allgemeinen und der realen Vorbilder (Modelle) für literarische Figuren im besonderen interpretatorisches Kapital zu schlagen versuchen. Die Ergebnisse solcher positivistisch-biographischer Ansätze werden gewürdigt und gegen die spätere Kritik verteidigt. Den biographisch interpretierenden Literaturwissenschaftlern wird bescheinigt, daß ihre Suche nach dem »Vorbild in der biographischen Existenz« stets vom Wissen um die »Freiheiten der Fiktionalität« begleitet gewesen sei. Obwohl auf Entschlüsselung abzielende Lektüren gerade dieses Wissen unterdrücken und auf 1:1-Entsprechungen aus sind, geht Rösch davon aus, daß das auf der Schriftsteller-Biographie basierende Deutungsmodell der Literaturwissenschaft in direkter Verbindung mit dem von ihr konstatierten Aufblühen des ›Prinzips Schlüssel‹ in der literarischen Produktion und Rezeption der Jahrhundertwende stehe:

[29] 
Aus der philologischen Diskussion resultierte als ein unbeabsichtigtes Seitenstück ein fundiertes Modell, daß und wie lebensgeschichtliche Realität in den fiktionalen Text einging. Der literarische Ertrag dieser Diskussion war eine Welle von Schlüsselromanen um 1900, die im Bewußtsein der Gattung geschrieben und rezipiert wurden. (S. 182)
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Die Herstellung dieser Korrelation bleibt allerdings spekulativ, da kein Versuch unternommen wird, die These durch das Aufzeigen konkreter Berührungspunkte zwischen Philologie und literarischer Produktion / Rezeption zu untermauern.

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Als Beispiele der Schlüsselliteratur der Jahrhundertwende werden Thomas Manns Beim Propheten (1904), Franziska von Reventlows Herrn Dames Aufzeichnungen (1913) und Wenn wir Frauen erwachen ... (1912) von Oscar Schmitz vorgestellt. Gleichzeitig werden als Beleg für die ästhetische Abwertung der Schlüsselliteratur im 20. Jahrhundert zum einen Passagen aus Hofmannsthals Der Unbestechliche (1922) zitiert, zum anderen der Fall Mephisto nochmals aufgerollt. In der Diskussion um Klaus Manns Roman komme es zu einer »begrifflichen Verengung des literaturwissenschaftlichen Terminus ›Schlüsselliteratur‹ auf die Absicht privater Verleumdung oder Rache« (S. 225). So sieht Rösch in der Rezeptionsgeschichte von Mephisto einen wesentlichen Beitrag zur Herabsetzung des Konzepts im 20. Jahrhundert: »Geht man von den zeitgenössischen [?] Urteilen zwischen 1936 und 1971 aus, so fügen diese sich zu einem Definitionsbündel zusammen, dessen derogativer Gesamtcharakter bis in die Gegenwart wirkt.« (S. 235)

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Die Untersuchungen zu Thomas Manns Buddenbrooks und Doktor Faustus sollen dann endgültig das ›Prinzip Schlüssel‹ als ästhetisches Produktions- und Rezeptionsverfahren rehabilitieren. Am Beginn des Buddenbrooks-Kapitels wird festgestellt, daß die Modellphilologie ein wesentlich komplexeres Verständnis von Verschlüsselung bereithielte als die allgemeinen Abwertungen als Enthüllungs- und Skandalliteratur. Allerdings wird auch in den vorgelegten Darstellungen der sogenannten Modellphilologie kein Konzept von Schlüsselliteratur sichtbar. Rösch bedauert dann, daß die Autoren von Arbeiten, die sich um die Identifikation der Vorbilder für die Figuren der Buddenbrooks bemüht haben, ihre eigene Arbeit als für die literaturwissenschaftliche Interpretation des Textes eher marginal eingeschätzt haben. Es sei nicht statthaft, die Reaktionen der »primären Leser« (damit sind Lübecker Familien gemeint, die Manns Text zum Teil als Schlüsselliteratur rezipiert haben) als literarhistorische Kuriosität abzutun.

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Zur Legitimation solcher »privaten«, »applikativen« Lektüren wird Ecos Aussage zitiert, daß der empirische Leser den Text in jeglicher subjektiver Weise, zum Beispiel als Behältnis für seine Leidenschaften »benutzen« kann. Rösch unterschlägt dabei jedoch, daß Eco die Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem Modell-Leser (dem vom Text implizierten Adressaten) vornimmt, um den letzteren als einzige Instanz (literatur)wissenschaftlich überprüfbarer Interpretation herauszuarbeiten. Auch der Versuch, Ecos Formulierung des Prinzips, daß fiktive Welten möglichst nahe an der realen Welt konstruiert werden, als Legitimation für entschlüsselnde Lektüre zu verwenden, kann nicht überzeugen. Die zitierte Formulierung (»Doch alles, was im Text nicht ausdrücklich als verschieden von der wirklichen Welt erwähnt oder beschrieben wird, muß als übereinstimmend mit den Gesetzen und Bedingungen der wirklichen Welt verstanden werden«) macht gleich in doppelter Hinsicht deutlich, daß sie nicht als Legitimierung entschlüsselnder Lektüre herhalten kann: erstens bezieht sie sich auf »Gesetze und Bedingungen« und zielt, wie es der Zusammenhang von Ecos Text klar macht, auf Allgemeineres als die Interpretation einzelner Figuren (zum Beispiel auf die Konstruktion mehr oder weniger phantastischer Welten) und zweitens ist die Tatsache, daß die etwaigen Vorbilder nicht mit ihrem realen Namen im Roman auftauchen, eben ein Zeichen für ausdrückliche Verschiedenheit von der wirklichen Welt. Die Konfusion wird noch gesteigert, wenn Rösch den Fehler des entschlüsselnden Lesers, fiktionale Anteile einer Figur ihrem (angeblichen) realen Vorbild anzukreiden, als Folge des Ecoschen Prinzips erläutert.

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Für Rösch besteht kein Zweifel am Verschlüsselungscharakter der Buddenbrooks, auch wenn sie einräumt, daß die entschlüsselnden Zuschreibungen für die einzelnen Figuren schwankend sind und daß eine entschlüsselnde Lektüre den Roman in seiner Komplexität eher beschneidet. In Röschs Darstellung verschwimmt dabei der Unterschied zwischen fiktiven Figuren, bei denen einzelne Züge von einer oder mehreren realen Person(en) entliehen sind, und solchen, die verschlüsselt eine bestimmte reale Person darstellen sollen. Das liegt wohl daran, daß Rösch nicht darauf abzielt, Schlüsselliteratur gegenüber Texten, deren Figuren mehr oder weniger nach Vorbildern gearbeitet sind, abzugrenzen. Der Versuch, Zusammenhänge zwischen der sogenannten Modellphilologie und der Schlüsselliteratur herzustellen, ist eher darauf ausgerichtet, die Grenzen zwischen unterschiedlichen literarischen Verfahren zu verwischen. Bezeichnend ist, daß Thomas Manns Äußerungen aus seinem Essay Bilse und ich, die gerade bemüht sind, zwischen dem Arbeiten nach Vorbildern und den Intentionen der Schlüsselliteratur zu differenzieren, oft nachvollziehbarer erscheinen, als die dazu formulierten Kommentare. So bleibt die Sinnhaftigkeit der gegen die angebliche literaturwissenschaftliche Verengung des Konzepts anvisierten Erweiterung des Begriffs Schlüsselliteratur fragwürdig, gerade wenn Röschs Begriffsdehnungen dazu führen, daß das Verhältnis zwischen Adrian Leverkühn und Nietzsche beziehungsweise zwischen Leverkühn und Schönberg mit dem Vokabular der Verschlüsselung beschrieben werden soll und daß Manns Die Entstehung des Doktor Faustus als »Schlüssel« zum Roman bezeichnet wird. So wird an der Behandlung der beiden Romane von Thomas Mann in besonderer Weise die Fragwürdigkeit der undifferenzierten Begrifflichkeit der Arbeit deutlich und das Problematische der darauf aufbauenden theoretischen und interpretatorischen Argumentation.

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III. Konsequenzen

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Neben der Wiederholung einiger Elemente der Untersuchung bietet der letzte Teil die Benennung von Forschungsdesideraten. Es wird eine Fortführung der Überlegungen im Hinblick auf das Verhältnis von Verschlüsselung und Kanonisierung gefordert – ein Verhältnis, das problematisch sein soll, weil »die Identifikation des ›Prinzips Schlüssel‹ in einem Text das Ergebnis einer oszillierenden Interaktion zwischen Leser und Text« sei (S. 269). Gefordert wird schließlich, die Literaturwissenschaft solle durch die Berücksichtigung entschlüsselnder Lektüren die Interessen einer lesenden Öffentlichkeit in die Interpretationspraxis einbeziehen, anstatt solche Lektüren als unangemessen zurückzuweisen. Mit Hilfe des ›Prinzips Schlüssel‹ könne zudem deutlich gemacht werden, welchen grundsätzlichen Bedürfnissen Literatur fortwährend antworte. Bei diesen Bedürfnissen handelt es sich wohl um die in diesem Zusammenhang erwähnte »emotionale Genugtuung identifikatorischer Lektüren« (S. 271), die zur Psychologie des Lesens dazugehöre.

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Letztlich bleibt die Arbeit wie in ihren Voraussetzungen, Zielen, Methoden, Argumentationen und Begriffen auch in ihren Ergebnissen recht diffus. Zudem wird die mehrfach angekündigte Rehabilitierung der Schlüsselliteratur außer in Forderungen nicht wirklich erkennbar: weder wird deutlich, wie das Verfahren eine spezifische Ästhetik erzeugt (ein Ziel, das im Klappentext angekündigt wird), noch was es zu bedeuten hat, daß Schlüsselliteratur »Teil einer Geheimhaltungspraktik« sein soll, »deren Ausübung für eine Gesellschaft immer kulturell hochgradig aussagekräftig ist« (so in der Verlagsankündigung).



Anmerkungen

Rösch bezieht sich dabei auf Kanzogs aufschlußreichen Artikel im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Auflage. Hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr, 3. Band. Berlin, New York 1977, S. 646–665.   zurück
Vgl. z. B. die präzisere, aber ausreichend weite Bestimmung von Kanzog: »Literarische Werke fiktionalen Charakters, in denen ›wirkliche‹ Personen und Begebenheiten mittels spezifischer Kodierungsverfahren verborgen und zugleich erkennbar gemacht sind« (Klaus Kanzog: Schlüsselliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar herausgegeben von Jan-Dirk Müller. Band III. Berlin, New York 2003, S. 380–383, hier S. 380).   zurück