Elisabeth Herrmann

Aufklärungskritik im Zeichen des Weltbürgertums als dichterischer Emanzipationsprozess




  • Karin Hoff: Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland. (Grenzgänge. Studien zur skandinavisch-deutschen Literaturgeschichte 4) Göttingen: Wallstein 2003. 376 S. Kartoniert. EUR 48,00.
    ISBN: 3-89244-703-9.


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Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit literarisch dokumentierten oder über die Literatur vollzogenen Grenzgängen und Vermittlungsprozessen zwischen unterschiedlichen Sprachen, Ländern und Kulturen hat seit den 1990er-Jahren Konjunktur. Dies mag zum einen ein im Zeitalter der Globalisierung unweigerlich gesteigertes Interesse am Phänomen der Inter- und Transkulturalität insgesamt widerspiegeln und zum anderen – oder vielmehr in Verbindung damit – Folge einer begrüßenswerten zunehmend komparatistischen und interdisziplinären Ausrichtung der Literaturwissenschaft sein. Im Bereich einer vergleichenden skandinavistisch-deutschen Literaturwissenschaft liegen bereits mehrere Studien, Monographien sowie Sammelbände zu literarischen Grenzgängern vor – vornehmlich zu solchen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert zwischen Dänemark und Deutschland bewegten und als Vermittler zwischen diesen Kulturen gewirkt haben. Einen wichtigen Beitrag stellen hier der von Heinrich Detering herausgegebene Band Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften (Göttingen: Wallstein 1996) sowie der von Heinrich Detering, Anne-Bitt Gerecke und Johan de Mylius herausgegebene Band Dänisch-deutsche Doppelgänger. Transnationale und bikulturelle Literatur zwischen Barock und Moderne (Göttingen: Wallstein 2001) dar, die beide in der Reihe Grenzgänge. Studien zur skandinavisch-deutschen Literaturgeschichte erschienen sind. 1

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Ein weiterer Beitrag
zur Grenzgängerforschung

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Ebenfalls aus der »Kieler Grenzgängerforschung« hervorgegangen beziehungsweise der »Tradition« der skandinavistisch-germanistischen Grenzgänge folgend und die Studien zur skandinavisch-deutschen Literaturgeschichte um einen Band erweiternd stellt Karin Hoffs 2003 publizierte Habilitationsschrift Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland sowohl eine Fortschreibung als auch eine Erweiterung der Grenzgängerthematik dar. Hat Karin Hoff selbst mit einer Untersuchung zu »Friederike Bruns kosmopolitische[m] Selbstentwurf« einen Beitrag zu dem oben genannten Sammelband Dänisch-deutsche Doppelgänger geleistet, 2 so stellt ihre Monographie eben dieser deutsch-dänischen Schriftstellerin einen weiteren dänischen und zwei schwedische Kollegen an die Seite, welche gleichfalls der deutschen Literatur ebenso sehr verbunden sind wie ihrer heimischen und im Zeichen der Aufklärung oder vielmehr einer kritischen Auseinandersetzung mit der Aufklärung ein kosmopolitisches und weltliterarisches Konzept und ästhetisches Programm entwerfen: es sind dies Jens Baggesen, Thomas Thorild und Bengt Lidner.

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Im Hauptteil der Arbeit, die sich in vier Kapiteln je einem Autor beziehungsweise einer Autorin widmet, nimmt Hoff eine Analyse eben derjenigen Werke Thorilds, Lidners, Bruns und Baggesens vor, an denen sich ein »weltliterarisches« poetologisches Programm festmachen lässt, das die Vermittlung von Literatur und die Partizipation an verschiedenen Kulturen gleichermaßen als Voraussetzung wie auch als Ziel formuliert. Auffallend und überraschend ist dabei, dass Hoff in ihrer Untersuchung gänzlich ohne den Begriff des »literarischen Grenzgängers« auskommt beziehungsweise diesen geradezu zu vermeiden sucht.

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Anschluss
an ein unvollendetes Projekt
der 1920er-Jahre

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Mit der Wahl der drei männlichen Autoren greift Hoff ein Projekt auf, das Leopold Magon in den 1920er-Jahren im Rahmen seiner komparatistischen Studie Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien 1750–1850 als Folgeband zu dem ersten und einzig erschienenen Band über Johannes Ewald 3 in Angriff genommen, aber nie vollendet hat: Seine Absicht war es, Thorild, Lidner und Baggesen als Zentralfiguren der Empfindsamkeit und des Sturm und Drangs in Schweden und Dänemark herauszustellen.

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Der von Magon angelegten Fokussierung des Verhältnisses von deutscher, dänischer und schwedischer Literatur um 1800 aus der Außen- und doch auch (deutschen) Eigenperspektive folgt Hoff in ihrer Untersuchung, gibt dieser aber dadurch eine wesentlich andere Ausrichtung, als es ihr nicht vorrangig um die Erforschung einer Epoche und einer einseitigen Betrachtung des deutschen Einflusses auf Skandinavien in dieser Zeit geht, sondern vielmehr um die Offenlegung einer beiderseitigen Kulturvermittlung sowie der Erschließung »nationale[r], kulturelle[r] und ideengeschichtlich[r] Zwischenräume« (S.20), innerhalb derer die Autoren Thorild, Lidner, Brun und Baggesen eine literarische Produktivität jenseits einer Zuordnung zu festgelegten Nationalliteraturen entwickeln.

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Gerade damit vermag Hoff die Teilhabe der schwedischen und dänischen Literatur an der gesamteuropäischen Aufklärungsbewegung kenntlich zu machen. Sie führt den konstruktiven Begriff einer »kritischen Aufklärung« ein, der die von den Autoren in ihren zwischen 1770 und 1830 verfassten Schriften vollzogene Ablösung von vorgegebenen Autoritäten sowie die signalisierte Weigerung, einer (nationalliterarischen) Regelpoetik zu folgen, zu gleichen Teilen mit einschließt wie die von der Epoche des Sturm und Drang sowie den Diskursen der Empfindsamkeit beeinflusste Betonung des Gefühls und die Einführung einer subjektiven Sichtweise als Reaktion auf die Auseinandersetzung mit der Aufklärungsbewegung in Europa.

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Sowohl der Aufklärungsbegriff als auch der Begriff einer Aufklärungskritik ebenso wie die unterschiedlichen Bedingungen und spezifischen Ausprägungen einer literarischen Aufklärung in Schweden und in Dänemark werden von Hoff in eigenständigen Unterkapiteln der Einleitung eingehend und erhellend diskutiert. Dabei macht sie zugleich deutlich, dass es ihr in ihrer Untersuchung nicht um eine erschöpfende Auseinandersetzung mit »der Aufklärung« und deren Erscheinungsformen in Skandinavien geht. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine Betrachtung und Analyse der Aufnahme und Umsetzung der Aufklärungsideen innerhalb der Literatur, die die Verfasserin der Studie eben nicht als Epoche, sondern als Prozess versteht.

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Was ist ein Zwischenraum?
Oder: zum Untersuchungsgegenstand der Arbeit

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Die Schwierigkeit, die sehr heterogenen Texte und Genres (dramatische, autobiographische und poetologische Schriften, philosophische Abhandlungen und poetische Prosa sowie Reisebeschreibungen, Briefe und Übersetzungen) Thorilds, Lidners, Bruns und Baggesens eindeutig einer Epoche oder Strömung zuzuordnen, die sich eben aus der Übernahme aufklärerischen Gedankenguts bei gleichzeitiger Betonung der »anderen Seite der Vernunft«, der Irrationalität und Subjektivität, ergibt, ist für Hoff ein Charakteristikum, das die Sonderstellung und Zwischenposition dieser vier Autoren kennzeichnet. Im Hinblick auf eine Einordnung in den literaturhistorischen Kontext bezeichnet Hoff diese Position oder diesen »Ort jenseits etablierter Epochengrenzen« (S.19) als »Zwischenraum« – literaturhistorisch betrachtet: als Zwischenraum zwischen Aufklärung und Romantik.

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Ein weiteres wichtiges Merkmal der Autoren – und damit Auswahlkriterium für die Untersuchung – stellt die besondere biographische Situation Thomas Thorilds, Bengt Lidners, Friederike Bruns und Jens Baggesens dar: Sie alle sind nicht nur interessierte Beobachter des deutschen Kultur- und Geisteslebens ihrer Zeit und nehmen aktiv daran teil, sondern sie haben sich längere Zeit im deutschsprachigen Raum aufgehalten und wichtige Impulse von dort empfangen und ebenso dorthin weitergegeben.

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Thomas Thorild und Jens Baggesen haben sowohl in ihren Muttersprachen als auch auf deutsch publiziert. Friederike Brun, die allein in den dänischen Literaturgeschichten einen ihr fest zugeschriebenen Platz einnimmt, hat ausschließlich auf Deutsch geschrieben. Und auch Bengt Lidner, dessen Publikationen nur in schwedischer Sprache vorliegen, hat sich während längerer Studienaufenthalte in Deutschland mit der Literatur des Nachbarlandes intensiv auseinandergesetzt.

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Auch auf diese Weise also bewegen sich die drei männlichen Schriftsteller und ihre weibliche Kollegin in einem »Zwischenraum« und nehmen eine Zwischenstellung zwischen zwei Literaturen ein, die jedoch – zumindest was die Aufnahme in deutsche Literaturgeschichten betrifft – in der Forschung und Rezeption als solche wenig beachtet und gewürdigt worden ist. In ihrer Untersuchung geht Hoff nun der Frage nach den Verbindungen, wechselseitigen Bedingungen und Verschränkungen dieser »Zwischenräume« nach. Sie untersucht, inwiefern die gleichzeitige und mehr oder weniger gleichberechtigte Teilhabe an mehreren Kulturen, Sprachen und Literaturen sich in der jeweiligen literarischen Produktion der ausgewählten Autoren manifestiert.

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Produktive Verknüpfung von
Biographie und Literatur

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Damit ist zunächst ein biographischer Interpretationsansatz markiert, der zum einen, wie bereits erwähnt, bei der Textauswahl eine entscheidende Rolle gespielt hat, und der zum anderen deshalb als unerlässlich erscheint, weil sowohl die Mehr- beziehungsweise Doppelsprachigkeit als auch die Kenntnis beider Kulturen die Literaturrezeption dieser Schriftsteller und Schriftstellerin ebenso entscheidend gelenkt und geprägt hat wie ihre Literaturproduktion, und die aktive Teilnahme am Kulturleben beider Länder dadurch überhaupt nur möglich und gefördert werden konnte. Entsprechend stellt Hoff den Interpretationskapiteln zu den einzelnen Autoren kurze biographische Abrisse voran, die den Leser der Abhandlung – um es modern auszudrücken – über deren ›interkulturellen Lebenslauf‹ beziehungsweise den Erwerb ihrer ›interkulturellen Kompetenz‹ informieren.

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Damit reduzieren die sich daran anschließenden Analysen der einzelnen Werke keineswegs auf einen biographischen Interpretationsansatz, der die jeweilige Dichtung im Hinblick auf das dargestellte Leben zu deuten versucht oder ausgehend von der Dichtung Rückschlüsse über das Leben des Autors zieht. Hoffs Intention ist eine andere. Die von ihr angelegte Miteinbeziehung des Kontextes der Entstehung der Werke erschöpft sich nicht in einer Darstellung der individuellen Biographien, sondern schließt die aktuelle Zeitgeschichte, als deren Zeugen die Autoren sich verstehen (so zum Beispiel Lidner, Thorild und Baggesen mit ihren Stellungnahmen zur Französischen Revolution) ebenso mit ein wie die aktuellen literarischen Strömungen (Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang und Vorromantik), mit denen die Autoren in Berührung kommen.

[18] 

Offenkundig wird auf diese Weise, dass die doppelte kulturelle Zugehörigkeit eine wichtige, aber keinesfalls die alleinige Voraussetzung für die »Entdeckung« (oder eher Erschließung) von Zwischenräumen ist, zu deren Vermittlern (wohl eher als Entdeckern) sich Baggesen, Brun, Lidner und Thorild im Laufe ihrer literarischen Entwicklung herausbilden. Ziel der Untersuchung ist es somit, über den Versuch einer Typologie der heterogenen Texte dieser vier Autoren ihre strukturellen und ideengeschichtlichen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.

[19] 

Anwendung postkolonialer und
kulturwissenschaftlicher Theorien
auf Texte des 18. und 19. Jahrhunderts

[20] 

Die titelgebende Metapher des Zwischenraums, mit der Hoff die in mehrfacher Hinsicht besondere Position der Autoren Thorild, Lidner, Brun und Baggesen benennt, orientiert sich an zwei unterschiedlichen Modellen der Beschreibung spezifischer kultureller Phänomene:

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Zum einen schließt sie an Homi K. Bhabhas im Zuge der Postkolonialismus-Debatte formulierte Definition des »Zwischenraums« beziehungsweise »Dritten Raumes« an (Hoff verzichtet auf die Einführung und Übernahme des letzteren Begriffs), mit der Bhabha die Begegnung, Konfrontation und Verschränkung unterschiedlicher Kulturen als einen grenzüberschreitenden Bereich bezeichnet, in dem das Aufeinandertreffen kultureller Differenzen produktiv genutzt werden kann, so dass daraus etwas Neues, ein neuer Ort oder Bereich entsteht. Es ist dies ein Raum, in dem sich Fremdes und Eigenes nicht mehr unvereinbar gegenüberstehen, sondern in der Erkenntnis ihrer gegenseitigen Alterität eine gemeinsame neue Identität bilden. In der kosmopolitischen Einstellung der ausgewählten Autoren sowie in dem damit verbundenen Begriff der Weltliteratur, der in ihrem poetologischen Konzept eine zentrale Bedeutung gewinnt, ist »kultureller Dissens« und »kulturelle Alterität«, wie Hoff herausarbeitet, von vornherein enthalten und mitgedacht.

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Die zweite von Hoff herangezogene Konzeption vom Zwischenraum bezieht sich auf Michel Foucaults Begriff der »Heterotopie«, mit dem solche Orte bezeichnet werden, die innerhalb der Wirklichkeit und sozial definierter Bereiche liegen, darin aber gerade eine Sonderstellung einnehmen, indem sie anderen Regeln und Gesetzen folgen, ja in völligem Widerspruch zu diesen stehen können. Besonderes Merkmal der Heterotopien ist es, dass sie an einem einzigen Ort mehrere Räume zusammen und ineinander platzieren können, die für sich genommen unvereinbar sind. In der Benennung solch ›anderer Räume‹ folgt die vorliegende Studie der foucaultschen Vorstellung vom Zwischenraum und bringt sie insbesondere bei der Analyse der Texte dadurch zur Anwendung, dass die Verfasserin der Studie textuelle Verfahren untersucht, die der vorgegebenen Norm zwar nicht grundsätzlich entgegenstehen, sich aber ihrer Festschreibungen entziehen.

[23] 

Sinnvoll hinzugezogen wird darüber hinaus (leider nur an vereinzelten Stellen: einmal in der Einleitung und zweimal im Kapitel über Friederike Brun) auch der von Bernhard Waldenfels geprägte Begriff der »Schwelle« als Bereich der Auflösung und Überwindung der Grenze zwischen Fremdem und Eigenem.

[24] 

Insgesamt spiegeln die Arbeit als ganze sowie die Analysekapitel im Einzelnen die in der Einleitung reflektierten Theorien nicht in dem Maße wider, wie es aufgrund der Hinführung zu denselben zu erwarten gewesen wäre. Eine gewisse Theorieferne ergibt sich offensichtlich aus der deutlich textnahen und weitgehend hermeneutisch ausgerichteten Herangehensweise bei der Interpretation der Texte – durch die dieselbe, wie klar herauszustellen ist, wiederum gerade ihre besondere Überzeugungskraft gewinnt.

[25] 

Ein möglicherweise aufkommender Verdacht, dass die Anwendung postkolonialer und kulturwissenschaftlicher Theorien bei der Interpretation prämoderner Texte an ihre Grenzen stößt, bestätigt sich beim fortschreitenden Lesen der Arbeit allerdings nicht, da Hoff mit der Analyse der dramatischen, autobiographischen, poetologischen und philosophischen Schriften der von ihr ausgewählten Autoren sehr wohl deutlich machen kann, dass es sich bei der beschriebenen Erschließung von Zwischenräumen um ein kulturelles Phänomen handelt, das nicht nur eine spezifische Epoche, sondern vielmehr einen kulturellen Prozess kennzeichnet – einen Prozess, in dem sich der Übergang zur Moderne bereits andeutet.

[26] 

Zu überdenken wäre, ob es sich als sinnvoll erweisen könnte, neben dem Begriff des Zwischenraumes die – beispielsweise von Wolfgang Welsch 4 – in ihrer jeweiligen Bedeutung sinnvoll unterschiedenen und erläuterten Termini der »Interkulturalität« und »Transkulturalität« einzuführen. Damit hätte die ohne Zweifel äußert zutreffende Metapher des Zwischenraumes an manchen Stellen konkretisiert und besser theoretisch fundiert werden können.

[27] 

Was von der Verfasserin der Studie jedoch auf jeden Fall stärker hätte berücksichtigt werden können, ist eine Reflexion sowie Miteinbeziehung der von Bhabha und Waldenfels sowie anderen Xenologen und Migrationsforschern (zum Beispiel Ian Chambers 5 ) im Zusammenhang ihrer Fremdheits- und Alteritätstheorien formulierten Identitätskonzepte. Es drängt sich die Frage geradezu auf, ob Fremdheits- und Schwellenerfahrungen sowie gelebte Interkulturalität und literarisch inszeniertes sowie propagiertes Weltbürgertum ohne die Frage nach der eigenen Identität überhaupt denkbar sind.

[28] 

Weltbürgertum als
ästhetisches Konzept und
Weg zur dichterischen Emanzipation

[29] 

Eine Berücksichtigung der Identitätsfrage und Miteinbeziehung von Identitätstheorien hätte es der Arbeit erleichtern können, ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen deutlicher herauszustellen, das sie so nur implizit formuliert: Die von den Autoren Thorild, Baggesen, Brun und Lidner selbst gelebte, programmatisch geforderte und in ihren Schriften literarisch vollzogene Inter- und Transkulturalität, als welche der zur damaligen Zeit aktuelle und von Hoff übernommenen Begriff des Weltbürgertums gefasst werden kann, ist nicht nur ein ästhetisches Programm, dessen Umsetzung den Autoren am Herzen liegt, sondern auch der besondere Weg, auf dem diese vier Schriftsteller zu ihrer Dichterschaft finden und ihr ganz individuelles Schriftstellertum – zwischen zwei Nationen und Kulturen – entwickeln.

[30] 

Das Schreiben in zwei Sprachen und zwischen zwei Kulturen ist sowohl Folge als auch Ausdruck einer selbst erfahrenen und gelebten doppelten Verbundenheit und Zugehörigkeit und bietet diesen Autoren darüber hinaus die Möglichkeit, eine ganz spezifische Identität – eben eine Identität im Zwischenraum – herauszubilden und im gleichen Zuge auch literarisch zu entwickeln. Indem sie sich sowohl in der heimischen – schwedischen oder dänischen – als auch in der deutschen Literatur- und Kulturwelt selbstbewusst bewegen, nehmen sie eine Zwischenstellung ein, die es ihnen ermöglicht, sich einerseits in Kenntnis derselben an den literarischen Bezugsgrößen beider Länder zu orientieren und an deren Tradition anzuknüpfen sowie sich andererseits in Betonung ihrer eigenen »Andersartigkeit« oder besser gesagt »Doppelheit« von ihnen abzusetzen und neue Wege zu gehen.

[31] 

Die von Hoff untersuchten Schriftsteller agieren nicht allein als Vermittler zwischen zwei Literaturen und Kulturen, sondern positionieren sich selbst auf besondere Weise darin, indem sie die aktuellen Strömungen der Zeit aufgreifen, dieselben in kritischer Reflexion jedoch zugleich überschreiten. Eine solche literarische Eigenentwicklung und dichterische Emanzipation scheint gerade deshalb zu gelingen, weil die Schreibenden sowohl zur einen wie zur anderen Kultur dazugehören und doch außerhalb stehen, weil sie »Uneindeutige« 6 und Doppelzugehörige sind und damit der Norm und doch nicht der Norm entsprechen.

[32] 

In ihrer Interpretation der einzelnen Werke vermag Karin Hoff sehr überzeugend und anschaulich darzulegen, auf welche Weise Thomas Thorild, Jens Baggesen, Friederike Brun und Bengt Lidner in einer literatur- und kulturhistorischen Übergangsphase literarische Zwischenräume beschreiten, die sich von den etablierten Hochkulturen unterscheiden: indem ihrem heterogenen und unkonventionellen Schreiben eine je spezifische unauflösbare Ambivalenz inhärent ist. 7

[33] 

Ambivalenz als konstitutives Stilmittel

[34] 

Zwischen Freiheit und Disziplin, zwischen Tradition und Innovation, zwischen Orientierung an den großen Vorgängern und eigener Originalität, zwischen Aufklärung und Kritik derselben entwirft Thomas Thorild ein Gegenprogramm zur herrschenden, das heißt gustavianischen Hochkultur in Schweden und entfaltet in dem von Hoff anhand seiner Schriften und Gedichte exemplifizierten Verfahren einer »ständigen Reaktivierung« (S.136) seine literarische und insbesondere auch literaturkritische Produktivität.

[35] 

Eine durch sämtliche Schaffensperioden hindurch konsistente Poetologie ist in Bengt Lidners Verfahren der Verbindung realer Ereignisse mit idealen Vorstellungen zu sehen. Eine Vereinigung von Gegensätzen liegt bei ihm – deutlich verbunden mit einem didaktischen Anspruch – in einem um das Gefühl erweiterten Aufklärungsdenken, einer Zusammenführung von Allgemeinem und Individuellem, Vernunft und Emotion sowie in einer ästhetischen »Grenzüberschreitung« (S.209), die eine eklektizistische Poetik zum Stilideal und die Heterogenität zum Maßstab der Literatur erhebt.

[36] 

In den Texten des einzig weiblichen Autors unter den untersuchten erweist sich die unauflösliche Ambivalenz eines Themas als konstitutiv, das bei Thorild und Lidner bereits anklingt: Die im Zuge der Aufklärungsrezeption geforderte Emanzipation und Ablösung von Autoritäten schließt eine Diskussion der Stellung der Frau mit ein. Im Spannungsfeld einer Selbstwahrnehmung als eine auf ihre Frauenrolle festgelegte und sich an männlichen Vorbildern orientierende Schülerin einerseits und gebildete Gesprächspartnerin und gleichberechtigte Intellektuelle andererseits verbindet Friederike Brun eine aufklärerische Denkweise mit sentimental-empfindsamer Dichtung, deren besondere Schreibweise sich in einer Metaphorisierung von Körper und Geist sowie einer auffälligen Thematisierung von Schwellenerfahrungen manifestiert. Am deutlichsten von allen konstituiert sich in ihren Texten ein schreibendes Subjekt jenseits einer nationalen Identität.

[37] 

Die Frage, inwieweit sich die Selbstdarstellungen in den autobiographischen Schriften und Reisebeschreibungen auf die Wirklichkeit beziehen oder es um eine rein ästhetische Darstellung geht, stellt sich bei Brun ebenso wie bei ihrem Kollegen Baggesen. Insbesondere in der von beiden übernommenen Form der literarischen Reisebeschreibung scheint die Grenze zwischen einer durch Subjektivität erweiterten Aufklärung und einem selbstreferentiellen Schreiben fließend zu sein.

[38] 

Baggesen betont in seinem Werk Labyrinthen deutlich eine persönliche – in Abhängigkeit der sich verändernden äußeren Wahrnehmung – sich in ihm vollziehende innere Veränderung und Entwicklung. Damit wird eine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, nach der der jeweilige Standort die Sichtweise und Haltung eines jeden Einzelnen bestimmt und es von daher weder eine eindeutige politische noch nationale Stellungnahme geben kann. In Folge der Betonung einer Ambivalenz von Veränderung und Variation bei einer doch auch wahrnehmbaren Konstanz menschlichen Handelns und Denkens wird »die Denkfigur des ›Sowohl-als-auch‹«, wie Hoff sie treffend bezeichnet, richtungweisend für das ästhetische sowie soziale Programm dieses Schriftstellers.

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Literatur als »anderer Raum«
der Selbstkonstituierung

[40] 

Diese unauflösliche Ambivalenz, die sich aus der Verbindung – nicht aber Vereinigung oder Auflösung – von Gegensätzen ergibt, wird in allen innerhalb der Studie untersuchten Texten zu einem konstitutiven Element, über das sich dem erzählenden Subjekt ein »anderer Raum«, ein Zwischenraum, eine je spezifische Heterotopie erschließt. So lässt sich das von der Verfasserin der Arbeit im Anschluss an die Interpretation von Bengt Lidners Texte gezogene Fazit »Das Subjekt, das hier spricht, [entdeckt] die Kreativität als den Zwischenraum, in dem diese disharmonische Ordnung ästhetisch produktiv werden kann.« (S.204) auch auf die anderen drei Grenzgänger übertragen.

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Die als ästhetisches Konzept entworfene und literarisch vollzogene Verbindung von Gegensätzen kann als »Entdeckung« beziehungsweise Konstituierung der eigenen Identität und Subjektivität gedeutet werden, über die sich zugleich eine dichterische Identität herausbildet. Ganz offenkundig ist die unmittelbare Verknüpfung der Zwischenraumthematik mit der Identitätsfrage in Jens Baggesens Werk Labyrinthen. Schon der Titel sowie die Genrebezeichnung dieses Reiseromans verweisen auf die schwierige, sich über Bewegung, Veränderung und die Begegnung mit dem Fremden vollziehende Suche nach dem eigenen Standort und Mittelpunkt. Zudem wird die Identitätsthematik gleich im Einleitungskapitel mit den selbstironischen Ausführungen über das Fehlen der Ausweispapiere, die sowohl den Beginn der Reise als auch den Bericht darüber verzögern, aufgegriffen.

[42] 

Dass Hoff diesem Punkt der Identitätsproblematik im Zusammenhang mit der von ihr doch klar herausgearbeiteten Selbstkonstituierung des literarischen Subjekts kaum Beachtung geschenkt hat, soll hier jedoch weniger als Kritik angeführt werden, sondern vielmehr die über sich selbst hinausweisende Dimension der Untersuchung hervorheben. 8

[43] 

Perspektiven einer
»interkulturellen Literaturwissenschaft«

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Ohne Zweifel handelt es sich bei Karin Hoffs Studie Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland um eine Arbeit, an der sich die Produktivität einer vergleichenden beziehungsweise in doppeltem Sinne »interkulturellen Literaturwissenschaft« zeigt: Ist es doch zum einen eine Studie, die sich mit »interkulturellen Texten« auseinandersetzt, das heißt eben solche Texte behandelt, die sich nicht eindeutig einer bestimmten Nationalliteratur zuordnen lassen und darüber hinaus ein weltliterarisches Konzept als ästhetisches Programm formulieren. Ist es zum anderen eine Studie, die zur Interpretation dieser Texte selbst eine inter- und transkulturelle Perspektive ansetzt, indem sie sich zwischen Germanistik und Skandinavistik positioniert und »moderne« postkoloniale und kulturwissenschaftliche Theorien auf »prämoderne« Texte anwendet. Die von Hoff in diesem Zusammenhang aufgenommene Diskussion der Begriffe National- und Weltliteratur sowie die damit implizit formulierte Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Einteilung der Literatur nach nationalsprachlichen und kulturellen Kriterien eröffnet darüber hinaus eine erweiterte Perspektive für die Literaturwissenschaft insgesamt: Literarische Landschaften – so kann man hier lernen – setzen sich gänzlich anders zusammen als nationalstaatliche und vermögen es überdies viel anschaulicher, strittige Grenzziehungen, Grenzveränderungen und Übergänge, Schwellen und »Zwischenräume« zu kartieren.


PD Dr. Elisabeth Herrmann
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Institut für Vergleichende Germanische Philologie und Skandinavistik
Werthmannplatz 3
DE - 79085 Freiburg

Ins Netz gestellt am 23.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Elisabeth Herrmann: Aufklärungskritik im Zeichen des Weltbürgertums als dichterischer Emanzipationsprozess. (Rezension über: Karin Hoff: Die Entdeckung der Zwischenräume. Literarische Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien und Deutschland. Göttingen: Wallstein 2003.)
In: IASLonline [23.11.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=982>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Zu nennen wären des Weiteren: in einer Art Vorreiterstellung Vibeke Winges umfassende Studie: Dänische Deutsche – Deutsche Dänen. Geschichte der deutschen Sprache in Dänemark 1300–1800 mit einem Ausblick auf das 19. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 1992; der ebenfalls von Vibeke Winge verfasste Aufsatz: Dänische Deutsche – deutsche Dänen. In: Göttingsche Gelehrte Anzeigen. 250. Jg., Heft 1 / 2 (1998), S.135–145; sowie Anne-Bitt Gerecke: Transkulturalität als literarisches Programm. Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Poetik und Poesie (Palaestra 317) Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2002; auch Ute Klünder: Ich werde ein großes Kunstwerk schaffen... Ich werde ein großes Kunstwerk schaffen. Eine Untersuchung zum literarischen Grenzgängertum der zweisprachigen Dichterin Isak Dinesen / Karen Blixen (Palaestra 310) Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2000.   zurück
Karin Hoff: Grenzenlose Erinnerungen: Friederike Bruns kosmopolitischer Selbstentwurf. In: Heinrich Detering, Anne-Bitt Gerecke und Johan de Mylius (Hg.): Dänisch-deutsche Doppelgänger. Transnationale und bikulturelle Literatur zwischen Barock und Moderne. Göttingen: Wallstein 2001, S.65–81.   zurück
Leopold Magon: Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien, 1750–1850. Bd. I: Die Klopstockzeit in Dänemark. Johannes Ewald. Dortmund: Ruhfus 1926.   zurück
Wolfgang Welsch: Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. In: Sichtweisen. Die Vielheit der Einheit (1995), S.83–122.   zurück
Ian Chambers: Migration, Kultur, Identität. Tübingen: Stauffenburg 1996.   zurück
Heinrich Detering: Produktive Grenzgänge: Literatur zwischen den Kulturen. In: H. D. (Hg.): Grenzgänge. Skandinavisch-deutsche Nachbarschaften. Göttingen: Wallstein 1996, S.11–27, hier S.12.   zurück
Dass eine solche Position der Andersheit sowie ein solches »anderes« Schreiben auch Widerstand provoziert, macht Hoff mit dem Verweis auf die teilweise durchaus kritische Rezeption der Werke im eigenen Land sowie auf die insbesondere von den Autoren Thorild und Baggesen geführten literarischen Fehden deutlich.   zurück
Als ein weiterer, aber die Arbeit in ihrer gelungenen Konzeption ebenso wenig schmälernder Kritikpunkt wären einige redaktionelle Mängel anzuführen, die sich zum einen auf eine uneinheitliche Zitierweise (»Hauptwerke« werden im Text, »Nebenwerke« in den Fußnoten zitiert) sowie auf eine Reihe ungetilgter Tippfehler und bibliographischer Ungenauigkeiten beziehen, wie z. B. die Bennennung von Margons Werk als »Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Dänemark« an Stelle von »Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien« (S.19) sowie die konsequente Fehlschreibung des Tübinger Verlags Stauffenburg als Stauffenberg.   zurück