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Die erregende Macht der Bilder und das medial vermittelte Begehren des Mannes

  • Andrea Gnam: Sei meine Geliebte, Bild! Die literarische Rezeption der Medien seit der Romantik. München: IUDICIUM 2004. X, 148 S. Kartoniert. EUR (D) 13,00.
    ISBN: 3-89129-772-6.
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Vom Bild als Kult
zum Bild als Kunst

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Bilder beeinflussen uns – bewusst und unbewusst. Diesen an sich simplen Befund untersucht Andrea Gnam am Beispiel literarischer Textproduktion seit dem späten 18. Jahrhundert, da dort der Umschlag stattfindet von einem sakral bestimmten Verständnis des Bildes als Kult zu einer säkularisierten Auffassung von Kunst als Form der Selbsterfahrung. Sie bezeichnet das Bild-Medium (Gemälde, Fotografie, Film) als Grenzphänomen für die Literatur bis in unsere Gegenwart hinein, weil es einerseits »den Zugang zu einer anderen, visuell geprägten Welt« eröffnet, andererseits aber durch seine textuelle Gestalt immer unscharf bleibt als Spur im Imaginären (S. 1).

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Gnams Untersuchung folgt dieser Spur, indem nach dem jeweils epochal bestimmten Status des Bild-Mediums in Texten seit der Romantik gefragt wird. Gleichzeitig interagiert der literarische Mediendiskurs mit der in der Kunstgeschichte geleisteten wissenschaftlichen Medienreflexion, ja: er ist dieser zuweilen sogar voraus.

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Gnam koppelt die Erkundung der Macht der Bilder eng an ein spezifisch männliches Begehren, welches über dichterisches Erleben Ausdruck sucht. Spezielles Augenmerk wird daher auf die Unterscheidung zwischen Lebenswirklichkeit und Medienrealität gerichtet, und ganz besonders auf Aussagen über epochenbedingte Blick- und Begehrensökonomien.

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Der Titel des Buches ist einer filmtheoretischen Reflexion des Regisseurs René Clair entnommen. Clair apostrophiert im Jahr 1925 die Verheißung, nicht die Einlösung des Versprochenen als filmisches Gelungenheitskriterium. Entscheidend für Clair und dementsprechend für das Argument von Gnams Studie ist, dass es imaginierte Bilder von Frauen sind, die jene Wunschproduktion beim betrachtenden Mann auslösen: »Sei meine Geliebte, Bild! Mein bist du, liebe optische Illusion, und mein der neuerstandene Kosmos, dessen gefällige Seite ich nach Laune interpretiere.« 1 Wie sich nun die Erregtheit des Mannes – ob Künstler oder Betrachter – im Verlauf von zwei Jahrhunderten modifiziert, sich von der Statuenliebe und Todesverfallenheit über Desinteresse und Rivalität zu Homoerotik und Nostalgie ausgestaltet, dies zeichnet Andrea Gnams Studie anschaulich, knapp und exemplarisch nach.

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Die Statuenliebe
junger Männer um 1800

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In der Begegnung mit Gemälden und Statuen vollziehen junge Männer zu Beginn des 19. Jahrhunderts »eine zutiefst ›europäische‹ Initiation« (S. 2). Ob Maler oder Betrachter, etliche literarische Werke – die besprochenen Beispiele sind allesamt der deutschen Romantik entnommen – beschreiben die adoleszente Begegnung mit Kunst als erotisch-verzückte Verwirrung, die eine realweltliche Erfahrung zu überbieten vermag. Diese medial vermittelte Form der Begegnung zwischen den Geschlechtern wird in den Texten dargestellt als eine sich zwischen Schrecken und Wollust bewegende Begehrlichkeit.

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In Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen gestaltet sich der Konflikt zwischen Kunst und Lebenswelt als scheiterndes Projekt der Darstellung eines inneren Bildes. In der Erinnerung an eine entschwundene Schöne soll diese malerisch gebannt werden, doch das vollendete Werk kann der Erotik der Innerlichkeit nicht standhalten. Lähmung und Melancholie sind die Folge des aus der Erinnerung geborenen Kunstschaffens.

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Was den malenden Helden lähmt, garantiert wiederum den Fortgang der Romanhandlung: das Scheitern des Malers verwandelt sich zur kunstästhetischen Reflexion. Männliches Leiden im Zeichen romantischer Schwärmerei wird in dieser Zeit »psychologisch ›modern‹ reflektiert« (S. 20) und von einem älteren sakralen Kunstverständnis abgekoppelt. Ästhetische Beunruhigung beginnt sich hier zu privatisieren und in die Herkunft und Biographie des Schwärmers zu verlegen, was wiederum als Beweis für das Wirken der dunklen Seite des Trieblebens gilt.

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An welchen Orten wird Kunst produziert und rezipiert?, so fragen diese Texte. Wiederum ausgehend von Tiecks Sternbald extrapoliert Gnam die zukunftsweisende Theorie eines in doppelter Hinsicht idealen Betrachters. Im fiktiven Sprung von der Entstehungszeit eines Kunstwerkes zur Wahrnehmungsgegenwart soll der Betrachter im Bild nur das auslösende Moment für seine eigenen Empfindungen sehen. Seine Erregtheit ersetzt jene des Künstlers: »Der imaginäre Betrachter soll sich nicht nur selbst in das Bild hineinwünschen, sondern sich mit seinem eigenen Gefühlsleben an die Stelle des Malers versetzt sehen« (S. 27).

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Für die literarische Theoretisierung dieser Position ist es nach Gnam unerheblich, ob das Bild schon real existiert oder lediglich als inneres Bild dem Kunstbetrachter ›vorliegt‹. Der ekstatische Entgrenzungszustand kann sich auch beim noch nicht gemalten Bild einstellen und sich für den Leser in der Beschreibung des inneren Bildes wiederum zu einem eigenen imaginären Bildraum ausgestalten.

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Medientheorie der dunklen Romantik
und das dämonische Triebleben
des Mannes

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Der romantische Schwärmer gerät im Anblick der schönen Frau – ob real, gemalt oder imaginiert – in eine leibliche Erregung, was Gnam als einen »vorästhetischen« Zustand bezeichnet. Im Verwechseln von Kunst- und Realwelt drohen dabei Tod und Wahnsinn. Diese Grenze wird überschritten in Texten wie E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels. Hier zeigt sich die dunkle Seite der Romantik, weil sich über die Kunstreflexion das dämonisierte Triebleben entfaltet, »Kunst und Gewalt erscheinen im Kleid des Phantastischen als psychotisches Paar« (S. 133).

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Medizin, Psychologie, Vererbungslehre: vermittels dieser zeitbedingten Theorien werden männliche Genealogien über die manische Suche nach dem Ort der durch das Bild ausgelösten Erregung konstruiert und zugleich zerstört. Im Versuch, sich über den toten Bildkörper der Frau (S. 40) seiner eigenen Herkunft und Identität zu versichern, weitet sich die literarische Medienreflexion endgültig zum ästhetischen Besessenheitsakt.

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So einleuchtend das Hoffmann-Beispiel auch sein mag, das schlagkräftigste, weil auch theoretisch fundierte Modell liefert dennoch Edgar Allan Poe, der hier leider nur am Rande figuriert, da entgegen anderer Behauptungen der Fokus in der vorliegenden Studie doch weitgehend auf der Entwicklung der deutschen Romantik bleibt. In seiner Philosophy of Composition hat Poe den Tod einer schönen Frau als das poetischste Sujet überhaupt deklariert und den um sie trauernden Künstler als das geeignetste Werkzeug für die Darstellung dieses Themas. 2 Nirgendwo sonst wird die Überblendung von Leben und Kunst im Zeichen von Wahn und Todesverfallenheit so deutlich – und einflussreich – wie dort.

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Realismus und
der Kampf unter Männern

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Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin setzt sich die literarische Kunstreflexion zunehmend mit dem realistischen Paradigma auseinander. Die materielle Situation des Künstlers verdrängt den zuvor gezeichneten Sehnsuchtsgestus des männlichen Betrachters. Gleichzeitig weicht die romantische Erkundung familialer Herkunftsgeschichten einer nüchternen Analyse der Gegenwart und der Vision einer fortschrittlichen Zukunft. Das Körperlich-Sinnliche und Erotisch-Sexuelle verliert hierbei seine Wirkungsmacht. Paradigmatisch ist damit auch der Wechsel von der initiatorischen Frauenbetrachtung hin zur Selbstbehauptung durch die Auseinandersetzung mit Männern vollzogen. Als »ästhetisches Skandalon« (S. 63) nämlich muss die Verschiebung von einer schwärmerischen Konzentration auf das weibliche Modell zum teils handgreiflich ausgeführten Kampf unter Künstlerkollegen gelten, zumal dann, wenn dieser männliche Akt zur erotischen Handlung wird. Die Demonstration männlich-körperlicher Stärke nimmt nun symbolisch jenen Platz ein, den zuvor das projizierte Bild der schönen Frau eingenommen hatte.

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Diese »Handgreiflichkeiten« bilden einen Pol im Spannungsfeld des neuen, realistischen Kunstverständnisses, exemplifiziert an Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich. Der andere Pol ist die beginnende kunsttheoretische Reflexion über nicht-mimetische »Abstraktion«, die auf die Moderne hinweist. Die zukunftsweisenden Anspielungen auf die Repräsentationsmöglichkeiten gegenstandsloser Kunst wurden von Keller selbst in seiner radikal zurechtgestutzten, retuschierten Überarbeitung als zu brisant erkannt und fielen der selbstauferlegten Streichung zum Opfer. Hier folgt die moderne Kunst erst später dem von der Literatur bereits früher beschrittenen Weg, wonach die Grenze zwischen Lebens- und Kunstpraxis in zunehmend abstrahierten und gewagten Aktionen thematisiert wird.

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Das fotografierte Männerporträt
als Auslöser weiblichen
Autonomieverlustes

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Einen weiteren einschneidenden, aber zögerlich einsetzenden Paradigmenwechsel stellt die Fotografie als neues visuelles Medium bereits im 19. Jahrhundert dar. Nicht nur wird das Verhältnis des Betrachters zum Modell sowie besonders das von Porträtfotografie zu Porträtmalerei überdacht. Auch die bereits in der dunklen Romantik faszinierende Pathologie verschiebt ihren Wirkungsbereich in den wenigen literarischen Texten, die sich nach Gnam explizit mit dem Medium Fotografie beschäftigen (genannt werden Emile Zolas Madeleine Férat, Thomas Hardys Eine Frau mit Phantasie und Louis Aragons Anicet oder das Panorama). Im Zentrum stehen jetzt das fotografierte Männerporträt und dessen pathologische Wirkung auf die Betrachterin. In grotesken Männerphantasien zerbricht die körperliche wie psychische Autonomie der Frau im Anblick des abgelichteten – begehrten – Mannes.

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Der Männerkörper im
abweichenden Blick

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Statt des sehnsüchtig imaginierten Körpers der schönen Frau wie in der Romantik oder der pathologisierten Betrachtung des männlichen Körpers durch den weiblichen Blick in Männertexten zur Fotografie öffnet sich in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Lebenswirklichkeit und Medienrealität noch ein weiteres literarisches Feld: der homoerotische Blick auf den schönen Männerkörper. In Texten von Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray über Thomas Manns Gladius Dei bis hin zum zeitgenössischen Christoph Geiser und dessen Caravaggio werden traditionelle Sehgewohnheiten provokativ in Frage gestellt, wobei gleichzeitig auf die romantische Dämonisierung des Leibes zurückgegriffen wird.

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Aber das Augenmerk des erlebenden Malers, dessen Erregtheit für die Romantik zentral war, hat sich auf das Modell verschoben. Dessen Erleben bildet jetzt die Grundlage kunsttheoretischer Reflexion. Im Gegenzug und im Ringen um neue Ausdrucksformen wird die Kunst »abstrakter, grausamer, ›hässlicher‹. Sie entlarvt und sie abstrahiert« (S. 92). Stellvertreterkämpfe (T. Mann) und radikale Individualisierung der Erfahrung (C. Geiser) lassen Kunstraum und Lebenswirklichkeit immer weniger in Konflikt miteinander geraten, und damit schwindet auch die romantische Todesandrohung im ehemals entgrenzten Betrachten von Bildern.

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Die nostalgische Rückbesinnung
im elektronischen Medienzeitalter

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Die romantische Suche nach der Frau in Texten und Filmen des späten 20. Jahrhunderts gerät zu einem bloßen – anachronistischen und nostalgischen – Vehikel auf der Suche nach dem vormals banal-alltäglichen, in der Erinnerung aber emphatisch und ästhetisch aufgewerteten Material. Peter Handkes Versuch über die Jukebox zeichnet in der Wiederentdeckung des altmodischen Musikautomaten die »eigenartige Schönheit des einst Allzuvertrauten« (S. 107). Die ästhetische Ordnung des literarischen Werkes generiert sich über die kriminalistisch aufgespürten Fundstücke, wobei die Bilderfahrung (der Anblick des Automaten) hier über das Wachrufen alter Erregungsmuster läuft.

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Und wieder handelt es sich um ein männerspezifisches Erfahrungsmuster, denn im umherstreifenden Aufspüren der über die Welt verstreuten Musikautomaten – und somit nur vermeintlich über die Suche nach einer schönen Frau – versichert sich der Suchende durch die aufgerufene Erinnerung an ein Ideal, wie es in der Jukebox als »Schöner Fremder Mann« besungen wird, seiner eigenen erregbaren Körperlichkeit.

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Am Schnittpunkt des elektronischen Medienzeitalters wird hier noch einmal eine romantisierende Dichterphantasie der erregten Leiberfahrung über die gelungene Grenzverwischung von Medium und Wirklichkeit entfaltet. Damit ist einerseits die Romantik in die Gegenwart zurückgeholt, andererseits aber auch der zunehmenden Gefahr, sich in den medialen Welten der global vernetzten Hyperrealität gänzlich zu verlieren, bereits die Tür geöffnet.

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Gleichzeitig deutet sich ungewollt gerade durch die Anspielung auf den ›schönen fremden Mann‹ eine eklatante Lücke der Untersuchung an. Indem Gnam Handkes Reise in die popkulturelle Vergangenheit folgt, dupliziert sie implizit dessen Strategie der Ausschließung des Weiblichen. Weder hier (es handelt sich schließlich um einen schmachtenden Schlager einer amerikanischen Sängerin – Connie Francis –, die mit diesem Lied einen Platz 1-Hit 1960 in Deutschland landete) noch sonst wo wird eine andere als die männliche Dichtersicht fokussiert. Soll das bedeuten, dass Künstlerinnen keinerlei medial vermittelten Blick- und Begehrensökonomien unterliegen? Vielleicht resultiert der etwas zu eng gesetzte Rekurs auf primär deutschsprachige Literatur im Ausblenden von so offensichtlich relevanten Beispielen wie Christina Rossetti oder Gertrude Stein. Hier hätte sich sicherlich auch unter Einbezug neuerer gender-orientierter Medientheorien die Erkundung einer von Frauen artikulierten Bildererregung denken lassen, die den dargestellten männlichen Begehrensströmen möglicherweise eine weitere, nuanciertere Facette angefügt hätte.



Anmerkungen

René Clair: Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920–1950. Zürich: Diogenes 1995, S. 22.   zurück
Edgar Allan Poe: Philosophy of Composition. In: Edmund C. Stedman / George E. Woodberry (Hg.): The Works of Edgar Allan Poe. Bd. 6. New York: Colonial 1903, S. 39.   zurück