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Nomenklatur der gotischen Buchschriften:
Nennen? Systematisieren? Wie und wozu? 1

  • Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century. (Cambridge Studies in Palaeography and Codicology 9) Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2003. 324 S. 160 Abb. Gebunden. GBP 70,00.
    ISBN: 0-521-80315-2.
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Albert Derolez, emeritierter Professor für Paläographie der Freien Universität Brüssel (Université libre de Bruxelles) und Präsident des Comité International de Paléographie Latine (CIPL), ist ein ausgewiesener Kenner der gotischen Buchschriften vom 12. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Was der Titel seiner jüngsten Untersuchung dieser Handschriften verspricht, hält auch das Werk. Es ist weit mehr als nur ein weiteres paläographisches Handbuch. Denn es bietet neben der Beschreibung aller gotischen Schriften eine neue, klare, ausführliche und regional nicht beschränkte, sondern umfassende Nomenklatur der Schriftarten selbst.

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Während sich nämlich die Paläographie als Kunst des Lesens eines immer breiteren Erfolgs erfreut, ist sie als Wissenschaft in eine Krise geraten. Paläographie als Wissenschaft? Ja! Wenn beispielsweise die Botanik die Wissenschaft ist, welche die Pflanzenarten klassifiziert und deren Entwicklungen beschreibt, so ist die Paläographie die, welche die überlieferten Schriften einordnet, voneinander unterscheidet, ableitet und deren Beziehungen zueinander erläutert. Vor diesem Hintergrund wird ihre Krise deutlich: Die Zeit ihrer großen Entdeckungen ist vorbei, ihre Ergebnisse aber sind umstritten.

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Derolez beabsichtigt eine Lösung der offenen Fragen, und dies gelingt ihm. Sein Werk zeigt die Grundsätze einer neuen Nomenklatur auf und wendet sie auf die europäischen Schriften des Spätmittelalters an.

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Das Buch enthält, nebst einem kurzem Glossar (S. xx-xxi), eine überwiegend methodologische Einleitung (S. 1–27), drei historische Kapitel über die Buchproduktion und die paläographische Entwicklung von der karolingischen Minuskel bis zu den gotischen Schriften (S. 28–71), schließlich in den sieben letzten Kapiteln die Nomenklatur selbst (S. 72–190). Die Auswahlbibliographie (S. 191–195) wird für Interessenten durch weitere Titel in den Fußnoten ergänzt.

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Die Nomenklatur der Schriften und ihr Verhältnis zueinander sollen hier näher betrachtet werden. Die einzelnen Schriften werden in ihren Merkmalen von Derolez überzeugend beschrieben, Hypothesen zu besonders herausragenden Erscheinungen ausführlich diskutiert. Er berücksichtigt umfassend die Spezialliteratur, wertet Quellensammlungen aus und veranschaulicht seine Ergebnisse in 519 Zeichnungen von Buchstabenformen. All dies macht jedoch nur die Hälfte der Untersuchung aus. 160 schwarz-weiße Abbildungen auf 99 Seiten enthalten das »paläographische Beweismaterial«, systematisch geordnet und kommentiert. Diese Tafeln veranschaulichen nicht nur die gewählte Nomenklatur, sondern stellen vor allem auch ein neues paläographisches Nachschlagewerk zu den gotischen Schriften dar.

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Derolez’ Überwindung der Krise der Paläographie allerdings ist die Folge einer sehr restriktiven Auffassung dieser Disziplin und einer gewissen Tradition, an die er anknüpft. Der Rezensent möchte daher erstens die offenen oder verborgenen Voraussetzungen des Werks veranschaulichen, ferner die Ergebnisse und die angebotene Nomenklatur vorstellen und endlich eine Tabelle mit abweichenden Teilklassifizierungen vorschlagen, um die Benutzung der neuen zu erleichtern. Die zahlreichen, außerordentlich gut gewählten Abbildungen müssen jedoch schon an dieser Stelle nachdrücklich hervorgehoben und gelobt werden.

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Derolez’ Grundprinzipien
der Paläographie

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»Gotische Schriften« nennt Derolez alle nicht-humanistischen, in ganz Europa vorkommenden Schriften des späten Mittelalters (S. 10). Diese negative und breite Definition ist nicht unproblematisch, was ihm durchaus bewusst ist. Da er aber auch der in dieser Definition implizierten Breite des Stoffes gewachsen ist, löst er auch die dadurch entstehenden Probleme (vgl. die Beschreibung der humanistischen Schrift S. 178).

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Die methodologischen Voraussetzungen seiner Untersuchung liegen offen zutage. Er betrachtet sich als Erbe der niederländischen Schule von Gerard Isaac Lieftinck (1902–1994), dessen Andenken er sein Werk auch widmet, und von Johan Peter Gumbert. Die Anknüpfung wird allerdings manchmal zur Anbetung der revolutionären Wegbereiter (S. 20: »too revolutionary for contemporary palaeographers«; S. 21: »his critics, most of whom seem to have been unable to appreciate the great merits of his system«). Das führt gelegentlich dazu, dass Derolez einige Bezeichnungen beibehält, die er selbst als anfechtbar empfindet (S. 21: »Of these terms ›Libraria‹ is the least appropriated«). Die größten Schwächen seiner Vorgänger vermeidet er, indem er deren System erweitert.

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Vier Thesen bestimmen Derolez’ Untersuchung:

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1. Paläographie zielt auf die Einordnung von Schriften;

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2. Paläographie ist keine Kunst, sondern eine sachliche Kriterien voraussetzende Wissenschaft (S. 1–2);

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3. Paläographie (in diesem Sinne) basiert auf der Morphologie (S. 6–9);

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4. Buchschrift und Urkundenschrift können trotz innerer Beziehungen zueinander getrennt studiert werden (S. 4–6).

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1. Paläographie zielt auf
die Einordnung der Schriften.

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Das erste Grundprinzip wird nie diskutiert, sondern einfach angenommen. Hinterhältigerweise wirft Derolez den anderen Anschauungen über Paläographie vor, sie seien nicht schuldlos an der Krise, in die das Fach geraten sei. Nur beiläufig und als Schuldige werden die »Münchener Schule«, die »Nouvelle paléographie française« und die, so Derolez, soziologisch orientierte italienische Schule erwähnt (S. 3). Dabei verschweigt der Autor deren Ergebnisse und betracht nur die Leere, die im Zentrum nach der Zersplitterung geblieben ist. Die Paläographie hat sich nämlich in den letzten Jahrzehnten vorgenommen, nicht nur die Schrift, sondern auch ihr Verhältnis zur Gesellschaft, 2 zur Kunst, zur Sprache 3 und zum menschlichen Leben in all seinen Erscheinungsformen zu untersuchen. 4

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Aus dieser Perspektive bleibt natürlich der angebliche Kern des Gegenstandes, die Arten der Schrift und ihre Kategorisierung, ein blinder Fleck. Sicherlich wird Derolez’ Untersuchung dazu beitragen, das Zentrum der Paläographie, nämlich die Klassifizierung der Schriften, in der Forschung wieder zu beleben. Aber auch kulturgeschichtliche Betrachtungen, Untersuchungen zu den Kosten oder der Geschwindigkeit des Kopierens oder zur Zusammenarbeit und Aufgabenteilung der Schreiber in einer mittelalterlichen Werkstatt 5 sind für eine Geschichte der Schriften und des Schreibens legitime Fragen, die sich dem Paläographen stellen.

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2. Paläographie benötigt in
der Analyse sachliche Kriterien.

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Dieses zweite Grundprinzip ist durchaus ehrenhaft, aber selbstverständlich. In Kontext hier bedeutet es allerdings auch: Weg mit der Kennerschaft! Es negiert daher die Kunst eines Bernhard Bischoff. Derolez macht sich die Sache jedoch zu leicht. Zwar sind einige Vertreter der französischen Schule immer noch etwas rückständig, 6 aber die meisten anderen Schulen haben sich längst an sachliche Kriterien und präzise Bezeichnungen gewöhnt. 7 Der Unterschied liegt also in den Kriterien. Derolez stützt sich auf ein einheitliches System von Merkmalen, das auf der Morphologie der Buchstaben a, f, und s sowie auf der Form von b, h, k, l (mit oder ohne Schleife) basiert.

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In Ergänzung zum Kriterium der Buchstaben a, f und s wird die Sorgfalt des Schreibers beim Schreiben in Betracht gezogen. Hier immerhin liegt eine der Schwächen in seinem System. Denn er unterstreicht damit, dass die Palette der Schriftgrade wesentlich bunter als das überkommene Schema von nachlässig – »currens«, normal – »libraria« und gehoben – »formata« (S. 21) ist. Auf diese Weise kehrt die freie, individuelle Interpretation der Schrift jenseits aller Nomenklatur in die Analyse zurück (S. 21, »a subjective matter«).

[21] 

Andere Merkmale verwirft er als unbrauchbar und als zu aufwendig, auch wenn er die Ergebnisse einerseits von »Expertise« und andererseits von statistischen und quantitativen Methoden durchaus anerkennt.

[22] 

3. Paläographie basiert
auf Morphologie.

[23] 

Das dritte Grundprinzip widerspricht der Auffassung, dass der Ductus (hier im Sinne von Richtung und Reihenfolge der Federzüge) entscheidend ist (S. 6–7). Im Gegensatz zu den meist französischen Anhängern der Ductus-Theorie wird Derolez zwei Schriften der Form nach zusammenlegen, sofern sie den angegebenen Kriterien entsprechen, auch wenn der Schreiber der ersten innerhalb eines Wortes seine Feder nicht erhebt und der der zweiten mehrere Federzüge für einen einzigen Buchstaben benötigt. Trotz des kaum zu überschätzenden Gewichtes des Ductus für die Schriftentwicklung ist Derolez’ Entscheidung vernünftig. Zum einen ist, wie er zu Recht betont, die Analyse des Ductus zeitaufwendig und manchmal unmöglich; zum anderen, hier nicht von Derolez thematisiert, erlaubt die Verbindung von literarischer Gattung und Schrift im Buch die Feststellung, dass der äußerliche, von der Schrift vermittelte Eindruck auch im Mittelalter überwogen hat. Die Untereinteilung in drei qualitative Niveaus wird dieser Tatsache gerecht. Daher ist Derolez konsequent, wenn er den sonst üblichen, auf dem Ductus beruhenden Unterschied zwischen den gotischen Kursiven und der Bastarda 8 aufgibt und die »jüngere Kursiv« als Schrift niedrigeren Niveaus mit der Bastarda als gehobener Schrift verbindet.

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4. Buchschrift und Urkundenschrift
werden getrennt studiert.

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Angesichts der Tatsache, dass die diplomatischen Schriften Europas weniger einheitlich als die Buchschriften sind sowie meistens nationalen beziehungsweise regionalen Modellen folgen, verzichtet Derolez zu Recht auf die Einbeziehung der Urkundenschriften in seiner Nomenklatur.

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Die Namen der Schriften:
eine Plage für alle Mediävisten 9

[27] 

Gibt es Modernismen in der Paläographie? Für Derolez sehr wohl. Purer Avantgardismus spricht aus seinen Wortschöpfungen. Lieber unechte und unpassende Benennungen als eine reflektierte Anknüpfung an altbewährte Begriffe! In seinem Begriffskosmos existieren keine »gotische Minuskel«, keine »Textura«, keine »Notula«, keine »Bastarda«, keine »Rotunda«. 10

Das System Lieftincks hatte aufgrund seiner Begriffsbildung im Ausgang von einer regional spezifischen Schriftentwicklung deutliche Lücken. 11 Dem hilft Derolez in doppelter Weise nachhaltig ab. Zum einen erweitert er das Lieftincksche System, so dass nunmehr auch die Schriften »Hors Système« weitgehend berücksichtigt und passend eingegliedert sind (S. 23–24, passim). Zum anderen stellt er der Mediävistik mit seinen 160 Abbildungen von Schriften aus allen Teilen des lateinischen Europas und der zugehörigen, seiner Klassifizierung entsprechenden Nomenklatur endlich das seit langem benötigte Findbuch zur Schriftkunde des Hoch- und Spätmittelalters zur Verfügung.

[28] 

1. Schriftniveau

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Currens – Libraria – Formata. Wie bei Lieftinck werden die Schriften je nach Sorgfalt und Fleiß des Schreibers in »currens«, »libraria«, »formata« untergliedert. Das gilt für alle Schriften, die Buchschriften wie die Kursiven.

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2. Schriftarten. Buchschriften
(Textualis, Textualis meridionalis,
Semitextualis)

[31] 

Textualis (septentrionalis): Doppelstöckiges, meist geschlossenes a, keine Schleifen; f und langes s enden auf der Zeile. Derolez benutzt für diese Schrift den Ausdruck »Northern Textualis«. Da er sonst aber eine lateinische Nomenklatur verwendet, wäre es konsequent, diese Schrift als »Textualis Septentrionalis« oder einfach als »Textualis« zu bezeichnen (siehe unten zu »Textualis meridionalis«).

[32] 

In der Gattung »Northern Textualis formata« kann man dank der Schreibmeisterblätter folgende Subtypen unterscheiden, wie schon Steinmann gezeigt hat. 12 »Textus Quadratus« mit quadratischen Serifen, »Textus Praescissus« ohne Serifen, »Textus Semiquadratus« mit eckigen, aber kurzen Serifen (S. 74–75). Derolez verwirft die Benennung »Textus rotundus« für die Schrift mit weicheren Serifen wegen der Nähe des Begriffs zur »Rotunda«, die er übrigens »Southern Textualis« nennt (ebd.).

[33] 

Die Nomenklatur von Wolfgang Oeser wird erläutert, aber wegen ihrer Kompliziertheit nicht übernommen (S. 85–86).

[34] 

Kürzere Langschäfte mit dreieckigem Ende sollen nach Derolez typisch für mitteleuropäische Schriften sein.

[35] 

Das a kann auch ein Kasten-a sein, bei dem die beiden runden Striche durch einen senkrechten und einen schmalen waagerechten ersetzt werden.

[36] 

Im 15. Jahrhundert wird der t länger unter dem Einfluss anderer Schriften.

[37] 

Textualis meridionalis: Doppelstöckiges, offenes a, keine Schleifen; f und langes s stehen auf der Zeile. Der von Derolez benutzte Ausdruck »Southern Textualis« ist leider so unpraktisch wie »Northern Textualis«. Da diese Schrift ein von der Hauptströmung abweichender Zweig ist, scheint es sinnvoll zu sein, sie durch den Zusatz »meridionalis« besonders zu kennzeichnen. Unter »Textualis« wäre dann implizit die »Northern« oder »septentrionalis« zu verstehen. Diese Differenzierung lag in der alten Klassifizierung übrigens auch der Bezeichnung »Rotunda« zugrunde. Die morphologischen Unterschiede sind gering. Der Bauch der runden Buchstaben ist runder und die Langschäfte sind kürzer. Das (runde) o vor allem fügt sich nicht in ein imaginäres senkrechtes Rechteck, sondern nur in ein Quadrat; der kleine Schaft des h ist rund. Ferner entfallen die meisten der für die gotische Schrift typischen Serifen und dekorative Zusätze an den langen Schäften.

[38] 

Semitextualis: Einstöckiges a, keine Schleifen, f und langes s auf der Zeile: also eine Textualis mit einem einstöckigem a. Diese Schriftart, deren Ursprünge im Dunkeln liegen, tritt nördlich der Alpen selten auf. Sie ist vor allem eine Alternative zur Textualis meridionalis. Nach Auffassung des Rezensenten könnte diese Schrift, wie auch der Blick nach England zeigt (S. 118–119: Verhältnis der Secretary zur Anglicana), eine Ableitung aus der Rotunda sein. Da sie so gut wie keine »Currens«-Elemente kennt, kann sie aus einer flüchtigen Textualis meridionalis libraria und Textualis meridionalis currens hervorgegangen sein, bevor sie ihre Autonomie gewonnen und ihre eigene Formata-Form ausgebildet hat.

[39] 

Zu Derolez’ Darlegungen zu ergänzen bleibt, dass auch viele, im Prinzip eindeutige Formen der Textualis (septentrionalis) zur Vereinfachung (das heißt Beschleunigung) des Schreibens neigen und daher das doppelstöckige a in einen einstöckiges verwandeln.

[40] 

3. Schriftarten. Kursive Buchschriften
(Cursiva, Cursiva antiquior,
Hybrida, Semihybrida)

[41] 

Cursiva: Einstöckiges a, Schleifen, f und langes s enden unterhalb der Zeile.

[42] 

Der Name dieser Schriftart ist unglücklich und bietet vielfach Anlass zu Verwechslungen innerhalb des Systems mit einer Bezeichnung wie »currens« oder allgemein mit »kursiv«. Dennoch ist er gerechtfertigt und durch eine auffällige Eigenschaft charakterisiert: Wie in der heutigen Bezeichnung kursiv endet f unterhalb der Zeile (zum Beispiel in Times New Roman).

[43] 

Ob diese Schriftarten in ihrem Ductus mit ihrer etymologischen Bedeutung übereinstimmen (currere, cursus: rennen, Rennlauf), also die Feder beim Schreiben nicht angehoben wird und gleichsam auf der Zeile vorwärts ›rennt‹, spielt bei Derolez keine Rolle mehr. Selbst auf dem Niveau von »currens« entspricht das Schriftbild dieser Definition nicht völlig. Was Valentin Rose einst »Sudelschrift« nannte, ist vom Niveau her selbstverständlich »currens«, aber im Ductus keineswegs immer eine kursive Schrift, während andere Schriften präzise gestaltet sind und dennoch ohne Abhebungen der Feder auskommen (Schwankungen bei Derolez, vgl. Abb. 106–108, 110).

[44] 

Cursiva antiquior: Doppelstöckiges a, Schleifen, f und langes s enden unterhalb der Zeile. Es handelt sich also um eine Cursiva mit doppelstöckigem a. Verbreitungsgebiet: zum einen England (»Anglicana«), zum anderen der mitteleuropäische Raum (von Wien bis zum Rhein, mit einigen Ausläufern bis in die Niederlande). Der Zusatz »antiquior« ist nicht eindeutig. Die aus Urkundenschriften entlehnte »Cursiva antiquior« tritt als Buchschrift nicht wesentlich früher als die »Cursiva« auf (vgl. Abb. 77 und 87–88) und wird ebenso lange wie die »Cursiva« selbst verwendet. Während in der Nomenklatur von Karin Schneider eine Schriftbezeichnung wie »ältere gotische Kursive« zu Recht besteht, 13 da diese Schrift auf dem Festland bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wieder verschwindet, ist in der umfassenden, alle europäischen Schriften subsumierenden Nomenklatur von Derolez die Verwendung eines Begriffs wie »Cursiva antiquior« nicht einsichtig, da dieser Schrifttyp in England bekanntlich bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts verwendet wird (vgl. das Beispiel aus dem Jahr 1453, Abb. 86, und die Erklärung zur »Secretary«, S. 161).

[45] 

Hybrida und Semihybrida: Einstöckiges a, keine Schleifen bei der Hybrida, abwechselnd mit und ohne Schleifen bei der Semihybrida, f und langes s enden unterhalb der Zeile. Beide Schriften verdanken sich dem Bemühen, in Cursiva-Schriften die Schleifen zu reduzieren beziehungsweise nur anzudeuten. Ausschlaggebend für die Unterteilung in Hybrida und Semihybrida ist das Verständnis des Schreibers selbst, der entweder durch systematische Vermeidung von Schleifen oder durch das Weglassen eines Teils von ihnen zeigt, inwiefern es sich für ihn um einen selbstständigen Schrifttyp handelt. In der Hybrida unterscheidet Derolez die »loopless bastarda«, also eine Cursiva ohne Schleife, und die gleichfalls schleifenlosen »netherlandish hybrida«, die durch einen geringen Neigungsgrad und ihre Nüchternheit auffallen würde (S. 167, »the avoidance of fantasy, verticality, angularity«). Der Unterschied existiert zwar, geht aber den genannten Kriterien über die klare Nomenklatur Derolez’ hinaus und ist nicht so eindeutig wie im Fall der Textualis formata praescissa, quadrata, semiquadrata (auch hier wären übrigens lateinische Begriffe zu wünschen). Außerhalb des niederländischen Gebiets erörtert Derolez Hybrida und Semihybrida zusammen (S. 168–175), obwohl in Spanien und Italien eindeutige Hybrida-Schriften zu finden sind (Abb. 126, 130, 135). Hier ebnet Derolez den Weg zu neuen Forschungen; sein Standpunkt, der den Beobachtungen von Lieftinck und Gumbert verpflichtet bleibt, sollte vielleicht an diesem Punkt präzisiert werden, gegebenenfalls mit einer neuen Unterteilung in »septentrionalis« und »meridionalis«.

[46] 

Durch die Einführung der neuen Begriffe »Semitextualis« und »Semihybrida« werden auch die meisten Schriften »Hors système« erfasst. Die Verwandtschaften dieser Mischformen sind überzeugend erläutert, und das Ergebnis ist eine sinnstiftende, da ausgewogene Einteilung der unterschiedlichen Schriften.

[47] 

Kommentar:
der unüberwindbare
Regionalismus der Schriften

[48] 

Derolez’ Nomenklatur ist der bisher umfassendste Versuch, für die europäischen Schriften des Hoch- und Spätmittelalters eine alle Formen abdeckende und zugleich einfache Terminologie zu entwickeln.

[49] 

Derolez ist es dabei gelungen, das Bezeichnungsproblem zu lösen und die verschiedenen Kursiven voneinander zu trennen. Dies ist ein Gewinn für die Forschung.

[50] 

Die Ablehnung der extrapaläographischen Elemente für die Benennung der Schriften (vgl. S. 16, mit den Beispielen wie »Kölner«, »süddeutsch« usw., aber auch »psalterialis«) 14 wie auch die der nationalen Nomenklaturen (S. 17) kann er allerdings nicht bis zum Ende durchhalten, da die Tradition der Schriftentwicklung im mittelalterlichen Europa regional geprägt ist.

[51] 

Es gibt bekanntlich Schriften, die sich nicht allein durch das Vorhandensein oder Fehlen von Schleifen oder nur durch die Buchstaben a, f und s beschreiben und klassifizieren lassen. Den Unterschied zwischen einer »Florentiner Bastarda« und einer »bâtarde bourguignonne« sieht selbst jeder paläographische Laie. Das gleiche gilt für den Unterschied zwischen Anglicana und festländischer (älterer) Kursive mit doppelstöckigem a. Derolez hat allerdings Recht, wenn er betont, dass dies keine Sache des bloßen Eindrucks sein dürfe, und dass die angeführten Unterschiede auch morphologisch zu zeigen seien (unter anderem im Grad der Vertikalität der Schriften und im Verhältnis zwischen kleinen und langen Buchstaben). 15

[52] 

Dies ist natürlich auch Derolez bewusst. Und gerade daher ist sein Werk ein entscheidender Schritt nach vorn. Er hat seine Nomenklatur ohne Rücksicht auf die regionalen Eigentümlichkeiten gebildet und so letztendlich den Beweis für die Tragfähigkeit seiner Nomenklatur erbracht. Das gilt auch, wenn er die Textualis in »Northern« und »Southern« einteilen oder wenn er »Netherlandisch Semihybrida« (Abb. 122) oder »a rare example of Southern French Hybrida« (Abb. 132) schreiben muss.

[53] 

Wenn einer seiner neuen Begriffe mehreren herkömmlichen Schriftbezeichnungen entspricht (zum Beispiel cursiva / secretary, mercantesca, Bastarda usw.), dann führt er beide Formen in den Legenden seiner Abbildungen auf.

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An zwei Punkten allerdings hätte man sich nähere Erläuterungen gewünscht. Das betrifft zum einen die Mischformen zwischen Textualis (septentrionalis) currens und Semitextualis. Die Semitextualis wird von Derolez als Zweig der Textualis meridionalis gedacht (S. 121–122, vgl. Abb. 59), obwohl die Textualis currens ganz oder teils – entsprechend der Schreibgeschwindigkeit – fast zwangsweise zu einer Semitextualis wird. 16 Das Problem wird im Zusammenhang mit der Littera parisiensis angeschnitten (S. 86, 100), aber zu einer Erörterung des Problems der Kursivität einer »Currens«-Schrift führt das leider nicht.

[55] 

Zum anderen behauptet Derolez, die »Hybrida« sei ein niederländisches Phänomen (S. 131), obwohl er auch die südlichen Formen der »Hybrida« kennt (S. 132 u.a.), diesen aber leider keine Aufmerksamkeit schenkt. Das Verhältnis der spanischen, portugiesischen und italienischen Hybrida-Schriften zu den nördlichen und das dieser südlichen Hybrida zu den südlichen Semihybrida sollten näher betrachtet werden.

[56] 

Die Tafeln.
– Ist Paläographie nicht
dennoch eine Kunst? –
Wie die Handschriftenbearbeiter
dieses Buch sinnvoll nutzen können.

[57] 

Albert Derolez hat mit seiner Palaeography of Gothic Manuscript Books nicht nur ein weiteres Buch über Paläographie geschrieben. Er hat Ordnung in diese kleine Welt hineingetragen, in der andere – und nicht nur die mittelalterlichen Schreiber – manchmal mehr Verwirrung als Aufklärung gestiftet haben. Auch wenn seine Einleitung nicht frei von Einseitigkeiten ist, so ist seine Analyse unparteiisch.

[58] 

Die Geschichte der Schrift wird in zehn Kapiteln einleuchtend beschrieben und erklärt.

[59] 

Die neue Systematik erlaubt den Paläographen und Handschriftenbearbeitern, eine Schrift mit wenigen Begriffen exakt zu beschreiben. Die Orientierung an einigen wenigen entscheidenden Merkmalen ist einer der großen Vorteile dieser Nomenklatur. Wer Handschriften datieren und lokalisieren muss und weder Platz noch Zeit hat, eine Schrift gründlich zu beschreiben oder mit zahlreichen anderen zu vergleichen, benötigt zwar weiterhin ein geschultes Auge, um die wesentlichen Merkmale wahrzunehmen und eine Schrift einzuordnen, allerdings ohne aufwendig das Verhältnis zwischen den kleinen und langen Buchstaben zu bestimmen sowie ihren Neigungsgrad zu messen und zu errechnen. 17 Daneben ist er aber manchmal auch auf ein Nachschlagewerk angewiesen. Und dies bietet ihm das Werk von Derolez.

[60] 

Die vielen Tafeln, die dem Band beigegeben sind, machen aus ihm letztlich auch einen Wegweiser. Man muss zukünftig nicht jedes Mal nach den Bänden des CMD greifen, sondern kann in einem Handschriftenkatalog leicht auf eine Abbildung von Derolez verweisen.

[61] 

Derolez’ schlichte Nomenklatur kann zwar – wie die meisten gegenwärtigen Benennungen auch – nicht die Schönheit einer Schrift sprachlich bezeichnen, sie ist aber imstande, die quantitative Forschung zu den mittelalterlichen Schriften voranzutreiben, indem in den Schriftbezeichnungen einheitlich auf das Werk von Derolez verwiesen wird, das gegenwärtig als einziges umfassend die Schriftwirklichkeiten der Zeit aufzeigt.

[62] 

Handschriftenbearbeiter könnten jetzt, wie Derolez in seinem jüngsten Aufsatz anregt, ohne großen Zeitverlust einige messbare Angaben hinzufügen (durchschnittliche Breite der Buchstaben bei regelmäßigen Schriften und andere). 18 Die Bedeutung ihrer Beschreibungen für die Kodikologie und Paläographie wäre damit noch aussagekräftiger.

[63] 

a
f
Schleife

Derolez

Andere Bezeichnungen 19

doppelstöckiges a

f auf der Zeile

keine Schleife

Textualis formata

- praescissa

- quadrata

- semiquadrata

Textura (Bischoff, Abb. 24; Crous, Abb. 19, 23, 52–53; Foerster, Abb. 36; Knight, D4; Schneider, Abb. 11) / Textur (Kapr, Abb. 89–90) / Textura quadrata (Parkes, Abb. 22)

- Textualis formata (Kirchner1, Abb. 11a, 16, 21a-22b, 26a, 29–31a, 32a-33, 34b, 35b; Kirchner2, Abb. 45b; Schneider, Abb. 8) / Gothica libraria – textualis formata (Lasala, Abb. 21) / écriture de forme (Gasparri, Abb. 58, 60)

- Quadrata gothic (Knight, D2) / Textualis quadrata (Brown, Abb. 29 mit Verweis auf »Textura«, »Fracta«, »Grossa« und »Psalterialis«)

- Textus Prescissus gothic (Knight, D3) / Textualis prescissa (Brown, Abb. 28 mit Verweis auf »Textura« und »Sine pedibus« u.a.)

- Textualis semi-quadrata (Brown, Abb. 30 auch »Textura«)

- Textualis rotunda (Brown, Abb. 31, mit Verweis auf »Textura«)

- »scolastique« (Gasparri, Abb. 30–31)

- gothique calligraphique (Gasparri, Abb. 33)

- gothico-humanistique livresque (Gasparri, Abb. 62–63)

doppelstöckiges a

f auf der Zeile

keine Schleife

Textualis libraria

Textualis (Kirchner1, Tab. 9b–10, 11b–15–17b, 19, 25, 31b, 35; Kirchner2, Abb. 45a; Schneider, Abb. 7; 9–10) / Textuelle gothique (EnC) / Textualis – littera Oxoniensis (Kirchner2, Abb. 43c) / Testuale (Bischoff, Abb. 21)

- Textura (Crous, Abb. 21–22, 29; Sturm, Abb. 46) / Textur (Kapr, Abb. 91–92)

- Gotische Buchminuskel (Schneider, Abb. 6 »frühgotische Minuskel«; Sturm, Abb. 41, 49) / Gotische Buchschrift (Crous, Abb. 6–7, 12–13) / Gothica libraria (Lasala, Abb. 19–20)

- Littera glossularis (Brown, Abb. 32)

- »scolastique« (Gasparri, Abb. 32)

- universitaire (Gasparri, Abb. 24)

- Zisterzienserschrift (Crous, Abb. 8, 11)

- ggf. Perlschrift (Crous, Abb. 9)

doppelstöckiges a

f auf der Zeile

keine Schleife

Textualis currens

Notula (Kirchner1, Abb. 12)

- Littera parisiensis (Kirchner1, Abb. 18, auch mit rundem a; Kirchner2, Abb. 44a anderes Beispiel auch mit rundem a; Crous, Abb. 10) / universitaire parisienne (Gasparri, Abb. 27, auch mit rundem a)

- pré-universitaire bzw. universitaire anglaise (Gasparri, Abb. 22, 24 – auch mit rundem a)

- Gothica cursiva (Kirchner2, Abb. 44b auch mit rundem a)

doppelstöckiges a

f auf der Zeile

keine Schleife

Textualis meridionalis formata (Southern Textualis)

- Rotunda (Bischoff, Abb. 20; Brown, Abb. 47 »Textualis rotunda italiana«; Crous, Abb. 14, 24; Foerster, Abb. 22; Sturm, Abb. 47; Kirchner1, Abb. 23, 36; Kirchner2, Abb. 42; Kapr, Abb. 105; Knight, F1)

- Littera bononiensis (Bischoff, Abb. 19; Kirchner2, Abb. 42) / universitaire de Bologne (Gasparri, Abb. 23) / Rotunda bononiensis (Brown, Abb. 48)

doppelstöckiges a

f auf der Zeile

keine Schleife

Textualis meridionalis libraria

Rotunda (Kapr, Abb. 106)

- Glossularis italiana (Brown, Abb. 47)

- Textualis (Kirchner1, Abb. 24, 26b »textualis fere Gothicoantiqua«)

- Goticoantiqua (Crous, Abb. 15, 17)

- Libraria caligráfica redonda.

- universitaire italienne (Gasparri, Abb. 28–29)

- écriture de glose (Gasparri, Abb. 37)

doppelstöckiges a

f auf der Zeile

keine Schleife

Textualis meridionalis currens

- universitaire italienne (Gasparri, Abb. 28)

rundes a

f auf der Zeile

keine Schleife

Semitextualis formata

- Rotunda (Crous, Abb. 25)

- Gothicoantiqua (Kirchner2, Abb. 51a)

- Bastarda formada

- Textualis formata (Kirchner1, Abb. 47 erste Zeile)

- Littera AS-textualis italiana (Brown, Abb. 48 mit oft doppelstöckigem a)

rundes a

f auf der Zeile

keine Schleife

Semitextualis libraria

- Textualis (Kirchner1, Abb. 17a, 20, 34a mit s und f über die Zeile überlappend)

- Gothica libraria textualis (Lasala, Abb. 22 mit s und f über die Zeile überlappend)

- Gothicoantiqua (Kirchner1, Abb. 27 mit s und f über die Zeile überlappend; Kapr, Abb. 107)

- Gothica praehumanistica (Kirchner2, Abb. 46, mit s und f über die Zeile überlappend) / »gothico-humanistique« (Gasparri, Abb. 38–41)

- Fere Humanistica (Foerster, Abb. 35)

Vgl. Textualis libraria mit rundem a.

rundes a

f auf der Zeile

keine Schleife

Semitextualis currens

Goticoantiqua (Crous, Abb. 26 mit s und f über die Zeile überlappend)

- Écriture de travail (Gasparri, Abb. 25) / Corsiva gotica (Bischoff, Abb. 22). Vgl. Textualis currens mit rundem a.

 

 

 

doppelstöckiges a

f unterhalb der Zeile

Schleife

Cursiva antiquior formata

- Anglicana formata (Brown, Abb. 36»English cursive book script«; Parkes, Abb. 2, 4–6, 23) / universitaire anglaise (Gasparri, Abb. 26) / Bastarda Britannica (Kirchner1, Abb. 55, 56b) / Bastarda Angliva (Kirchner2, Abb. 47) / Bastard anglicana (Parkes, Abb. 7–8)

- ältere gotische Kursive (Schneider, Abb. 13) / Gothic cursive (Lowe, Abb. 20)

- Anglicana formata hybrida (Brown, Abb. 37 »bastard anglicana«)

doppelstöckiges a

f unterhalb der Zeile

Schleife

Cursiva antiquior libraria

Cursiva Anglicana (Brown, Abb. 36 »English cursive book script«) / Notula Britannica (Kirchner1, Abb. 37a) / Anglicana (Parkes, Abb. 1–2)

- ältere gotische Kursive (nach Schneider, Abb. 13; Sturm, Abb. 48, 50)

- Notula (Kirchner1, Abb. 40a) / Notula Bavarica (Kirchner1, Abb. 41 mit rundem a)

- Bastarda (Kirchner1, Abb. 48)

doppelstöckiges a

f unterhalb der Zeile

Schleife

Cursiva antiquior currens

Anglicana / Notula Britannica (Kirchner1, Abb. 38) / Bastarda cursiva Britannica (Kirchner1, Abb. 47)

- ältere gotische Kursive (nach Schneider, Abb. 13)

rundes a

f unterhalb der Zeile

Schleife

Cursiva (recentior) formata

Bastarda (Crous, Abb. 28; Kirchner1, Abb. 58; Schneider, Abb. 15) / Bâtarde (Gasparri, Abb. 35–36) / Bastarda Gallica (Kirchner1, Abb. 49; Kirchner2, Abb. 48b) / Fränkische Bastarda (Crous, Abb. 44) / Bâtarde (Brown, Abb. 42 mit Verweis auf »Lettre bourguignonne«, »Cursiva Bastarda«, »Cursiva formata«, »Lettre de fourme«; Bischoff, Abb. 28 »Bâtarde (bourguignonne)«)

- Gothica cursiva cancelleresca (Bischoff, Abb. 25; Lasala, Abb. 25 und S. 156 auch »gothica curialis«) / Cancelleresca minuscule (Lowe, Abb. 19) / Kanzleischrift (Crous, Abb. 57, 61)

- Secretary (Brown, Abb. 41 »bastard secretary«, »secretary cursiva formata media«; Parkes, Abb. 12) / Bastard secretary (Parkes, Abb. 14–15)

- Notula Italica fere Bastarda (Kirchner1, Abb. 39)

- Fractura primitiva (Kirchner1, Abb. 63) / Frakturschrift (Crous, Abb. 58, 64)

- Gotische Kursive (Sturm, Abb. 54) / Jüngere gotische Kursive (Schneider, Abb. 14)

rundes a

f unterhalb der Zeile

Schleife

Cursiva libraria

Bastarda (Crous, Abb. 18; Kirchner1, Abb. 46b, 50–52, 54, 59; Kapr, Abb. 99, 104; Schneider, Abb. 17) – ggf. geographisch genauer bestimmt: böhmisch (Kapr, Abb. 102), französisch (Kapr, Abb. 95), fränkisch, oberrheinisch (Crous, Abb. 31–33; Kapr, Abb. 96), österreichisch (Kapr, Abb. 98), schwäbisch (Crous, Abb. 34–35; Kapr, Abb. 97) / Gothica bastarda (Lasala, Abb. 27 mit Verweis auf die früheren Namen »humanistica gallica« und »umanistica francese«)

- Bastarda forma Gallica (Kirchner2, Abb. 49) / Bastarda cursiva (Kirchner1, Abb. 43, 44b, 45, 61b) / Bastarda currens (Abb. 64a) / bâtarde évoluant vers la »préhumanistique de chancellerie« (Gasparri, Abb. 54) / bâtarde cursive italianisante (Gasparri, Abb. 59)

- Secretary cursiva media (Brown, Abb. 40) / Secretary (Parkes, Abb. 11, 13, 20, 22, 24)

- Florentiner Bastarda (Crous, Abb. 16; Kapr, Abb. 94)

- Mercantesca (Bischoff, Abb. 26)

- Gotische Kursive (Schneider, Abb. 14 »jüngere«; Sturm, Abb. 49, 52–53, 55–56, 59) / Gothica cursiva (Lasala, Abb. 24)

- Notula (Kirchner1, Abb. 28) / Notula Gallica fere Bastarda (Kirchner1, Abb. 40b)

rundes a

f unterhalb der Zeile

Schleife

Cursiva currens

- Gotische Kursive (Sturm, Abb. 51) / Cursiva (Kirchner1, Abb. 56a, 61a) / Gothica Cursiva (Kirchner2, Abb. 50a; Lasala, Abb. 23) / Cursive notariale (Gasparri, Abb. 57) / Buchkursive (Crous, Abb. 20) / Kurrentschrift (Crous, Abb. 54–56, 63) / German cursiva (Brown, Abb. 39 »later German cursive«) / Cursive anglicana (Parkes, Abb. 16–18) / Corsiva (Bischoff, Abb. 27)

- Bastarda – ggf. geographisch bestimmt: oberrheinisch (Crous, Abb. 33); schwäbisch (Crous, Abb. 36) / Kanzleibastarda (Schneider, Abb. 18)

- Notula (Kirchner1, Abb. 17b, 28, 44a)

- Bâtarde cursive italianisante (Gasparri, Abb. 59)

rundes a

f unterhalb der Zeile

keine Schleife

Hybrida formata

- Bastarda (Kirchner1, Abb. 46) / Niederländische Bastarda (Crous, Abb. 49)

rundes a

f unterhalb der Zeile

keine Schleife

Hybrida libraria

- Cursiva formada

- Bastarda (Kirchner1, Abb. 57b, 62, 64b, 65b) / Bastarda Batava (Kirchner1, Abb. 60, 65) / Kölner Bastarda (Crous, Abb. 45–46; Foerster, Abb. 33–34; Kapr, Abb. 100) / Bayrisch-österreichische Bastarda (Crous, Abb. 40–41) / Niederdeutsche Bastarda (Crous, Abb. 47–48) / Niederländische Bastarda (Crous, Abb. 50–51, 59) / Schleifenlose Bastarda (Schneider, Abb. 16)

- Bastarda Hispanica (Kirchner1, Abb. 53) / Bastarda (Crous, Abb. 27 »italienisch«).

- Gotische Buchschrift (Sturm, Abb. 57)

- Textur (Kapr, Abb. 93)

Vgl. Semitextualis libraria – gothicoantiqua

rundes a

f unterhalb der Zeile

keine Schleife

Hybrida currens

- Bastarda (Kirchner2, Abb. 48) / Bastarda currens (Kirchner2, Abb. 50b)

- Hybrida (Brown, Abb. 38)

- Gothica cursiva (Lasala, Abb. 26)

rundes a

f unterhalb der Zeile

Schleife nicht fest

Semihybrida formata

 

rundes a

f unterhalb der Zeile

Schleife nicht fest

Semihybrida libraria

- Mercantesca (nach Derolez)

- Cursiva (Kirchner1, Abb. 60b)

- Bastarda »Übergangstypus« (Crous, Abb. 38) / Bayrisch-österreichische Bastarda (Crous, Abb. 39) / Fränkische Bastarda (Crous, Abb. 43)

rundes a

f unterhalb der Zeile

Schleife nicht fest

Semihybrida currens

- Cursiva currens (Kirchner1, Abb. 57a)

- Bastarda »Übergangstypus« (Crous, Abb. 37) / Bastarda suevica (Kirchner1, Abb. 66) / Fränkische Bastarda (Crous, Abb. 42; Kapr, Abb. 101)

doppelstöckiges a

f unterhalb der Zeile

keine Schleife

(Spanish) »Hors système« (Abb. 157)

- Notula fere Bastarda (Kirchner1, Abb. 42 – anderes Beispiel aus Katalonien). 20

doppelstöckiges a

f unterhalb der Zeile

Schleife nicht fest

 

- Halbkursive (Schneider, Abb. 12)



Anmerkungen

Herrn Dr. Bernd Michael möchte der Rezensent herzlich für die Hilfe bei der Übersetzung seines französischen Konzepts danken.   zurück
Marie-Clotilde Hubert / Emmanuel Poulle / Marc H. Smith (Hg.): Le Statut du scripteur au moyen âge. Actes du XIIe colloque scientifique du Comité international de paléographie latine. Paris: École des chartes 2000 (mit einem Vorwort von A. Derolez).   zurück
Colette Sirat / Jean Irigoin / Emmanuel Poulle: L’Écriture. Le Cerveau, l’œil et la main. Actes du colloque international du Centre national de la recherche scientifique (Bibliologia 10) Turnhout: Brepols 1990. Jacques Stiennon: Paléographie du moyen age. Paris: Armand Colin 1991, S. 9–27.   zurück
Roy Harris: Signs of Writing. London u.a.: Routledge 1995. Armando Petrucci: Prima lezione di paleografia (Universale Laterza 811) Roma u.a.: Gius. Laterza & Figli 2002, wo das Zusammenstoßen der »Littera textualis (o gothica)« und der »antiqua« auf die S. 73–74 reduziert ist. Vergleiche à la Panofsky von Jacques Stiennon (Anm. 3), S. 198–202.   zurück
Herrad Spilling (Hg.): La Collaboration dans la production de l’écrit médiéval. Actes du XIIIe colloque du Comité international de paléographie latine. Paris: École des chartes 2000.   zurück
Nur ein Beispiel: die Verfasser des letzten Katalogs der lateinischen Handschriften der Bibliothèque nationale de France verzichten zumeist darauf – aber eben nicht systematisch –, die Schriftart zu benennen, und begnügen sich damit, die Handschrift zu datieren und zu lokalisieren, wodurch nach ihrer Auffassung implizit auch bereits der Schrifttyp benannt ist. Dieses Verfahren lässt den Leser unverkennbar darüber im Zweifel, welche Schrift tatsächlich in einer bestimmten Handschrift zu finden ist, da bekanntlich unterschiedliche Schriften zeitgleich koexistieren können (vgl. [Bibliothèque nationale de France] / Marie-Pierre Laffitte / Jacqueline Sclafer: Catalogue général des manuscrits latins nos 8823–8921. Paris: Bibliothèque nationale de France 1997, S. 122–125). In der Biblioteca Apostolica Vaticana oder in Kraków wird der Verzicht auf die Schriftbenennung konsequent durchgehalten (Kraków, s. Maria Kowalczyk: Les Problèmes de l’identification de l’écriture dans les manuscrits du XVe siècle de la Bibliothèque Jagellone. In: Probleme der Bearbeitung mittelalterlicher Handschriften (Wolfenbütteler Forschungen 30) Wiesbaden: O. Harrassowitz 1986, S. 16). Zu den Gründen dieser Zurückhaltung vgl. Eef Overgaauw: Die Nomenklatur der gotischen Schriftarten bei der Katalogisierung von spätmittelalterlichen Handschriften. In: Codices manuscripti 15 (1994), S. 100–106, hier S. 101.   zurück
In Deutschland ist neben der Kennerschaft eines Bernhard Bischoff, der eine Schrift übrigens nicht nur nach Gutdünken beurteilt, wie Derolez unterstellt, auch eine Tradition der Schriftbezeichnung nach exakten Merkmalen fest geankert. Derolez selbst führt in seiner Bibliographie die Dissertation von Carl (i.e. Karl) Wehmer: Die Namen der »Gotischen« Buchschriften. Ein Beitrag zur Geschichte der lateinischen Paläographie. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 49 (1932) S. 11–34, 169–176, 222–234 (S. 195). Die französische Schule des Lesens statt des Benennens wird auch in der École nationale des Chartes nicht mehr vertreten, vgl. École nationale des Chartes: Theleme. Dossier documentaire n° 7 (o. D.) http://theleme.enc.sorbonne.fr/dossiers/paleographie7-1.php (28.02.2005).   zurück
Vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, Ergänzungsreihe 8) Tübingen: Max Niemeyer 1999, S. 59–65.   zurück
Dieser Titel bezieht sich auf die Untersuchung von T. J. Brown: Names of Scripts. A Plea to all Medievalists. In: Janet Bately / Michelle P. Brown / Jane Roberts (Hg.): A Palaeographer’s View. The selected Writings of Julian Brown. London: Harvey Miller 1993, S. 39–45.   zurück
10 
Vgl. Johanne Autenrieth. Paläographische Nomenklatur im Rahmen der Handschriftenkatalogisierung. In: C. Köttelwesch (Hg.): Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderheft 1) Frankfurt / Main: V. Klostermann 1963, S. 98–104, hier S. 103–104. Richtlinien und Terminologie für die Handschriftenbeschreibung. In: Otto Mazal (Hg.): Handschriftenbeschreibung in Österreich. Referate, Beratungen und Ergebnisse der Arbeitstagungen in Kremsmünster (1973) und Zwettl (1974) (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Denkschriften 122) Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1975, S. 133–172, hier S. 143. A. Derolez verabscheut die historisch belegten Termini (S. 131: »happily replaced by a […] non-historical term).   zurück
11 
Eef Overgaauw (Anm. 6), S. 103–105, mit Zusammenfassung der Grundlagen des Systems und Besprechung der Vor- und Nachteile.   zurück
12 
Martin Steinmann: Textualis formata. In: Archiv für Diplomatik 25, 1979, S. 301–327.   zurück
13 
Karin Schneider (Anm. 8), S. 59.   zurück
14 
Die Fülle der französischen, von Gasparri eingeführten Bezeichnungen beweist, wie schwierig es ist, mehrere Schriften zu unterscheiden. Auch ihr Versuch, außerpaläographische Kriterien in die Schriftnomenklatur einzuführen, führt in die Irre, so beispielsweise wenn sie die runderen Textualis-Schriften von Frühhumanisten wie Jean Gerson und Nicolas de Clamanges als Gothico-humanistique bezeichnet, vgl. Françoise Gasparri: Introduction à l’histoire de l’écriture. Turnhout: Brepols 1994, Abb. 62–63.   zurück
15 
Die Bedeutung des Neigungsgrades sollte man nicht unterschätzen.   zurück
16 
Vgl. Françoise Gasparri (Anm. 14), Abb. 24, 27 ; Hans Foerster: Abriss der lateinischen Paläographie. Stuttgart: Anton Hiersemann 1963, Abb. 37.   zurück
17 
Vgl. Gerhardt Powitz: Datieren und Lokalisieren nach der Schrift. In: Bibliothek und Wissenschaft 10 (1976), S. 124–139, hier S. 136.   zurück
18 
Albert Derolez: Possibilités et limites d’une paléographie quantitative. In: Pol Defosse (Hg.): Hommages à Carl Deroux. [Bd. 5] Christianisme et Moyen Âge, néo-latin et survivance de la latinité (Latomus 279) Bruxelles: Latomus 2003, S. 98–102.   zurück
19 
Vgl. Bernhard Bischoff; Paleografia latina antichità e medioevo. Edizione italiana a cura di Gilda P. Mantovani e Stafano Zamponi (Medioevo e umanesimo 81) Padova: Ed. Antenore 1992 (nur die italienische Fassung hat Tafeln). Michelle P. Brown: A Guide to Western Historical Scripts from Antiquity to 1600. London: British Library 1990. Ernst Crous / Joachim Kirchner: Die gotischen Schriftarten. Braunschweig: Klinkhardt & Biermann 1970. École nationale des chartes (Anm. 7). Hans Foerster (Anm. 16). Françoise Gasparri (Anm. 14). Albert Kapr: Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben. München u.a.: K. G. Saur 1971. Kirchner1 = Joachim Kirchner: Scriptura gothica libraria a saeculo XII usque ad finem medii aevi. München u.a.: R. Oldenbourg 1966. Kirchner2 = Joachim Kirchner: Scriptura latina libraria a saeculo primo usque ad finem medii aevi. München: R. Oldenbourg 1970. Stan Knight: Historical Scripts. A handbook for calligraphers. London: A. & C. Black 1984. Fernando de Lasala: Esercizi di paleografia latina. Trascrizioni, commenti e tavole. Roma: Ed. Pontificia università Gregoriana 1999. E. A. Lowe: Handwriting. Our medieval Legacy. Rome: Ed. di storia e letteratura 1969. Malcolm B. Parkes: English Cursive Book Hands 1250–1500. Oxford: Oxford University Press 1969. Karin Schneider (Anm. 8). Heribert Sturm: Unsere Schrift. Einführung in die Entwicklung ihrer Stilformen. Neustadt a.d. Aisch: Degener 1961. Der Rezensent ist sich bewusst, dass die angeführten Werke von sehr unterschiedlichem wissenschaftlichem Niveau sind. Einige wichtige Werke werden wegen des Fehlens von Tafeln oder Schriftbenennungen hier nicht ausgewertet: Giogio Cencetti: Lineamenti di storia della scrittura latina. Bologna: R. Patron 1954; Hermann Degering: Die Schrift. Atlas der Schriftformen des Abendlandes vom Altertum bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Tübingen: E. Wasmuth 1952. Die Benennungen werden entsprechend ihrer lexikalischen Verwandtschaft innerhalb einer jeder Zelle angeordnet; die Ähnlichkeit der Schriften wird dabei nicht berücksichtigt (eine englische »Bastarda« von Kirchner – Abb. 59 – wird also nicht neben der »Secretary« aufgeführt).   zurück
20 
Beispiele finden sich auch bei Martin Steinmann: Die lateinische Schrift zwischen Mittelalter und Humanismus. In: Gabriel Silagi (Hg.): Paläographie 1981. Colloquium des Comité International de Paléographie München, 15.–18. September 1981 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 32) München: Arbeo-Gesellschaft 1982, S. 193–199 und Taf. XXVI-XXVII.   zurück