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Im Jahr 2008 kann die Bayerische Staatsbibliothek München das 450-jährige Jubiläum ihrer Gründung durch Herzog Albrecht V. feiern. Mit dem Ankauf der Büchersammlung des herzoglichen Rats und österreichischen Kanzlers Johann Albrecht Widmanstetter wurde 1558 der Grundstock einer breit ausgerichteten wissenschaftlichen Bibliothek gelegt. Ihre »zweite Gründung« erfolgte dann 245 Jahre später: die Übernahme der altbayerischen Klosterbibliotheken nach der Säkularisation 1803 machte die Hofbibliothek zur reichsten Büchersammlung im deutschen Sprachgebiet. An die Folgen dieser politischen Umwälzungen für die Bibliothekslandschaft in Bayern und für die quellenbasierte Arbeit in den aufblühenden Geisteswissenschaften erinnerte die Bibliothek 2003 mit der Ausstellung »Lebendiges Büchererbe«.
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Welche Bedeutung sie der Erforschung ihrer eigenen Geschichte zumißt, verdeutlicht sie zudem durch eine Schriftenreihe, die rechtzeitig vor diesem Gedächtnisjahr ins Leben gerufen wurde. Die Reihe eröffnet nämlich ein Sammelband, der (programmatisch?) den Blick zurückwendet: auf die Geschichte der Bibliothek selbst, deren wichtigste Phasen in den einzelnen Beiträgen beleuchtet werden, aber auch auf eminente Bibliothekshistoriker, durch deren archivalische Kleinarbeit die Erinnerung an die Leistungen und Schwierigkeiten vergangener Jahrhunderte lebendig erhalten wurde.
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Die vierzehn Aufsätze, die von Rupert Hacker herausgegeben und zum Teil von ihm selbst verfaßt wurden, haben trotz ihres teilweise erheblichen Alters (der älteste Beitrag datiert von 1914) kaum etwas an Gültigkeit eingebüßt; manche Fragestellungen sind bis heute sogar von erschreckender Aktualität geblieben. Thematisch konzentrieren sich die Studien auf diejenigen Epochen, die für das heutige Erscheinungsbild der Bibliothek am prägendsten waren. Im Zentrum steht »Die Säkularisation und ihre Folgen« (S. 117–262): die Zeit von 1803 bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, in der die Bibliothek vor bisher unvorstellbare methodische und organisatorische Probleme bei der Bewältigung des Säkularisationsgutes gestellt wurde, behandeln fünf Beiträge. Die Vorgeschichte, also die beiden Jahrhunderte der Bibliothek seit ihrer ersten Gründung, wird in drei Aufsätzen erörtert; ebenso viele Beiträge gelten der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Bibliothek vor existentiellen Problemen stand: im Inneren zerrissen sie politischer Zwiespalt und Konkurrenzdenken, von außen bedrohten sie Bombenangriffe. Die letzten drei Aufsätze weiten schließlich den Blick auf den Wiederaufbau des Bibliotheksgebäudes und -betriebs sowie die Bestandserweiterung der Nachkriegszeit. Nur indirekt wird deutlich, daß der Neuanfang der fünfziger und sechziger Jahre auch dem Interesse an der eigenen Geschichte neue Impulse verlieh: jede zweite der hier abgedruckten Studien wurde in diesem Zeitraum erstmals publiziert.
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Die Anfänge der Bibliothek – Bestandsaufbau und Benutzung
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In den beiden ersten Jahrhunderten des Bestehens stand im Mittelpunkt der bibliothekarischen Arbeit das Bemühen zunächst um substantielle, dann um kontinuierliche Bucherwerbung; sodann waren zentrale Fragen der Entscheidungsbefugnis und Zugänglichkeit zu regeln. Otto Hartig kommt das Verdienst zu, erstmals den Nachweis erbracht zu haben, daß (neben der Sammlung Widmanstetter) die Fuggersche Bibliothek mit der in ihr aufgegangenen Sammlung Hartmann Schedels den bedeutendsten Gründungsbestand der (vorher eher unbedeutenden) Münchener Hofbibliothek darstellt. Bis heute bietet Hartigs Artikel über »Die Gründung der Münchener Hofbibliothek durch Albrecht V. und Johann Jakob Fugger« (S. 13–52) noch immer den besten Überblick über die ältesten Bestände der Hofbibliothek; im vorliegenden Band ist er jedoch leicht gekürzt
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und ohne die Anmerkungen abgedruckt, was die Nutzbarkeit und Zitierfähigkeit des Nachdrucks leider einschränkt.
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Schon 1561 waren bei der Bestallung des ersten Bibliothekars Aegidius Oertel dessen Aufgaben definiert und Grundprinzipien der Erwerbung und Benutzung formuliert worden (S. 28 ff.). Von Bedeutung auch über die Geschichte der Hofbibliothek hinaus ist die Bibliotheksinstruktion von 1607, die Hacker in seinem Beitrag zur Bibliotheksverwaltung unter dem Herzog und ersten Kurfürsten Maximilian behandelt (S. 53–71, hier S. 57 ff.). Ihre detaillierteren Anweisungen spiegeln die Meinungsunterschiede, die zwischen dem Besitzer der Bibliothek und ihrem Verwalter hinsichtlich des Zugangs zu den Beständen bestanden. Da er Verluste fürchtete, plädierte der Herzog immer wieder für eine restriktive Handhabung der Ausleihe, wohingegen der 1602 publizierte Katalog der griechischen Handschriften – einer der ersten gedruckten Kataloge einer wissenschaftlichen Bibliothek in Europa
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– die Aufmerksamkeit der »res publica litteraria« auf die wertvollen Unikate im Bestand lenkte. So öffnete sich die Hofbibliothek noch vor den international bedeutendsten Universitätsbibliotheken der Zeit
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einem wissenschaftlichen Publikum – auch über Konfessionsgrenzen hinweg. Der Aufschwung währte allerdings nur kurz: obwohl der Dreißigjährige Krieg für die Bibliothek gewisse Bereicherungen brachte, entgingen die Münchener Sammlungen ihrerseits der Beraubung nicht.
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Die Säkularisation als zweite Gründung
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Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts rückte die Hofbibliothek mit dem Amtsantritt des im vorliegenden Band nur am Rande erwähnten Historikers Felix Andreas von Oefele (1706–1780, tätig seit 1746)
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und der Übernahme der bayerischen Kurwürde durch Karl Theodor von der Pfalz (1777–1799) dann wieder stärker in das Blickfeld der Wissenschaft. Durch die Zuordnung der Hofbibliothek zur Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Wolf Bachmann, S. 75–116) erhoffte man sich eine bessere Literaturversorgung der Gelehrten und zugleich qualifiziertere Mitarbeiter. Als nachteilig erwiesen sich allerdings die langwierigen Entscheidungs- und Reorganisationsprozesse, vor allem in der Säkularisationszeit, als schnelle und weitreichende Entscheidungen getroffen werden mußten. Dennoch gelang es dem Oberhofbibliothekar und wohl prominentesten »Säkularisierer« Johann Christoph von Aretin nicht, den Einfluß der Akademie zurückzudrängen; zudem verzettelte er sich in Kompetenzstreitigkeiten mit dem »Nordlicht« Julius Wilhelm Hamberger, der ihm seit 1808 in einer funktionsunfähigen »Doppelspitze« zur Seite gestellt war.
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Erst im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts erlebte die Bibliothek eine unvergleichliche Blütezeit. Zur Unterbringung der klösterlichen Büchermassen (zum Ablauf der Säkularisation vgl. Paul Ruf, S. 119–125) wurde ein Neubau an der Ludwigstraße errichtet, wodurch auch eine räumliche Trennung von der Akademie vollzogen war. Aretins Nachfolger hatten praktikable Lösungen für eine dauerhafte Ordnung und Erschließung der enorm angewachsenen Sammlungen gefunden. Die Leistungen von Martin Schrettinger und Johann Andreas Schmeller sind in Aufsätzen von Adolf Hilsenbeck (S. 127–151), Hans Striedl (S. 153–176) und Paul Ruf (S. 177–252) detailliert gewürdigt. Nur kurz skizziert wird dagegen die weitere Entwicklung unter dem Altphilologen Karl Halm (1809–1882, tätig seit 1856)
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im recht unkritischen und teilweise auf Fehlinformationen (vgl. S. 285 Anm. 1) basierenden Handbuchartikel von Georg Leyh (S. 253–262). Halms Verdienste um die Erwerbung von herausragenden Sammlungen und Einzelstücken und um die Publikation der (auf Schmellers Vorarbeiten basierenden) Handschriftenkataloge sind unbestritten. Der Preis dafür war jedoch die zumindest teilweise Zerschlagung gewachsener Bestandskomplexe durch die Aussonderung von Dubletten und das dafür erforderliche Zerschneiden von Sammelbänden – obwohl dieses Verfahren damals weithin geübter bibliothekarischer Praxis entsprach und den finanziellen Handlungsspielraum der Bibliothek erheblich erweiterte, wurde es schon von zeitgenössischen Buchhistorikern mit großer (nach Leyh »maßloser« [S. 261]) Schärfe verurteilt. Die Position der Gegner Halms wurde insbesondere durch den Würzburger Universitätsbibliothekar Anton Ruland
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vertreten; seine Argumente sind bis heute gültig geblieben und hätten eine stärkere Berücksichtigung im vorliegenden Sammelband verdient.
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Der Weg in die Katastrophe
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Nach dem Verebben der Kontroverse um die Dublettenverkäufe von 1858 / 1859 konnte sich die Bibliothek einer langen Phase der kontinuierlichen Entwicklung erfreuen, die allenfalls durch das langsame Fortschreiten der Katalogisierungsarbeiten und die unzureichende finanzielle und personelle Ausstattung beeinträchtigt wurde. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts kamen die anwachsende Buchproduktion sowie eine ansteigende Benutzung der nunmehrigen Staatsbibliothek (seit 1918) durch Studenten und Wissenschaftler erschwerend hinzu (Hacker, S. 265–284). Durch diese Belastungen wurde auch eine angemessene Positionierung der nunmehr zweitgrößten deutschen Bibliothek innerhalb des bayerischen und deutschen Bibliothekswesens verhindert: innerhalb Bayerns wurde zwar eine stärkere Zentralisierung angestrebt, innerhalb Deutschlands aber dem Dominanzstreben der Preußischen Staatsbibliothek unter Adolf von Harnack entgegengewirkt – beides mit geringem Erfolg. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten (Dressler, S. 285–308) brachen dann schwelende innere Konflikte auf, und die Anhänger des neuen Regimes nutzten ihre Chance, mißliebige Konkurrenten auszuschalten. Obwohl ein altgedientes Parteimitglied, bemühte sich der seit 1935 amtierende Generaldirektor Rudolf Buttmann um eine Fortsetzung der Modernisierungsmaßnahmen seines Vorgängers Georg Reismüller. Schon bald machte aber der Kriegsausbruch jeden Ansatz zur Reorganisation zunichte; vordringlicher war der Schutz des Bibliotheksbaus und der Bestände. Während das Gebäude fast genau 100 Jahre nach seinem Bezug weitgehend zerstört wurde und in ihm auch ein Viertel des Bibliotheksbestands unterging, konnten die wertvollen Altbestände dank der durch den weitsichtigen Paul Ruf veranlaßten Auslagerung weitgehend gerettet werden (Hans Halm, S. 309–314).
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Der Blick in die Vergangenheit – ein Blick in die Zukunft?
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Bis in die 1960er Jahre war die Arbeit der Bibliothek demgemäß vorrangig vom Bemühen um Rekonstruktion und Zusammenführung bestimmt (Heinrich Middendorf, S. 317–359). Erst allmählich weitete sich der Blick für neue Aufgaben und Methoden. Die damaligen Neuansätze stellen bis heute Schwerpunkte der bibliothekarischen Arbeit dar, wenn auch erneut unter schwierigen finanziellen und personellen Rahmenbedingungen. Die Klage über unzureichende Mittel, überlastetes Personal und die kaum zu bewältigende Zahl der Bücher und Vorhaben durchzieht als Leitthema den gesamten Band. Bedingt ist dies sicher auch durch die Faszination, die gerade von Umbruchs- und Krisenzeiten ausgeht: so konzentriert sich der Rückblick auf die jahrhundertelange Geschichte der Institution fast zwangsläufig auf einige wenige Kernphasen, die (auch in den beiden abschließenden Überblicksartikeln von Pointner und Hacker) schlaglichtartig beleuchtet werden.
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Der vorliegende Sammelband macht die bisherigen Erkenntnisse der Bibliotheksgeschichte in geschickter Auswahl bequem zugänglich. Dadurch verdeutlicht er zugleich die noch ausstehenden Desiderate: auch die vergleichsweise ereignisarmen Perioden der Kurfürstenzeit und des ausgehenden 19. Jahrhunderts würden eine quellenbasierte Aufarbeitung verdienen; eine umfassende und aktualisierte Bibliographie
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wäre ebenso hilfreich wie eine Übersicht über die Folge der Bibliothekare mit biographischen Notizen. Besonders wünschenswert wäre jedoch, wenn das bibliotheksgeschichtliche Mosaik aus Steinen unterschiedlichen Alters und mit gelegentlichen Fehlstellen in nicht allzu ferner Zukunft durch ein vielfarbiges Historiengemälde ersetzt werden könnte, in dem die Bayerische Staatsbibliothek vor dem Panorama der gesamten deutschen und europäischen Bibliothekslandschaft dargestellt wird. Eine Aufgabe, die angesichts der Materialfülle und der Knappheit der Kräfte wohl nicht von einem einzelnen allein, sondern allenfalls als Gemeinschaftsprojekt bewältigt werden kann. Auch dafür setzen die Beiträge des vorliegenden Bandes Maßstäbe.
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