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Doppelrolle: Die »anthropologische Wende« der Aufklärung,
konstruktivistisch gewendet

  • Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24) Tübingen: Max Niemeyer 2004. 366 S. 4 s/w Abb. Kartoniert. EUR 96,00.
    ISBN: 3-484-81024-6.
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Der von Jörn Garber und Heinz Thoma herausgegebene Sammelband kann wohl als Programmschrift der seit 1998 bestehenden Hallenser Forschergruppe »Selbstaufklärung der Aufklärung. Individual-, Gesellschafts- und Menschheitsentwürfe in der anthropologischen Wende der Spätaufklärung« bezeichnet werden. Er geht zurück auf ein Kolloquium in Halle im September 2000 und enthält Beiträge aller sieben an der Forschergruppe beteiligten Wissenschaftler sowie acht weiterer Kolloquiumsteilnehmer. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt dabei auf der romanistischen und germanistischen Literaturwissenschaft, zu Wort kommen aber auch Philosophen, Historiker und Politikwissenschaftler.

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Das entspricht in etwa den bisherigen vater- und mutterschaftlichen Anteilen am Forschungsparadigma »Anthropologie der Aufklärung«, das von (germanistischen) Literaturwissenschaftlern nun schon vor einiger Zeit in die Welt gesetzt wurde und unter dem allgemeinen Obertitel »anthropologische Wende« vor einiger Zeit von der kulturwissenschaftlichen Bewegung adoptiert wurde. Immerhin noch rechtzeitig zum zehnjährigen Jubiläum des die Bewegung mit initiierenden Sammelbandes des DFG-Kolloquiums von Hans-Jürgen Schings zum Thema Der ganze Mensch 1 erscheint nun also der vorliegende Sammelband, der die Anthropologie der Aufklärung erstmals konstruktivistisch lesen will. »Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung«, so die Grundthese der Forschungsgruppe, sei selbige nämlich anzusiedeln – und nicht etwa nur in den inzwischen sattsam bekannten »Empirisierungs- und Naturalisierungsleistungen« der »Physischen Anthropologie« (S. VIII) à la Schings und Schüler. Es handelt sich also, etwas zugespitzt formuliert, um eine Art konstruktivistische Wende der »anthropologischen Wende« selbst.

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Wegen dieses programmatischen und – in durchaus akzeptablen Maßen – auch polemischen Charakters des Bandes mag es zu rechtfertigen sein, ihn probeweise einmal nicht als »Sammel«-Band (und im Modus der Buchbindersynthese mit den dazugehörigen Lizenzen), sondern als eigenständigen Forschungsbeitrag mit einer gewissen Konzentration auf eine Leithypothese (also sozusagen im Normalmodus »wissenschaftliche Monographie« und den dazugehörigen Konsistenzansprüchen) zu lesen. Ich werde dabei auf die für diese Leithypothese wichtigsten Beiträge ausführlicher eingehen und andere vernachlässigen müssen. Daß dabei im folgenden der eine oder andere Beitrag, für sich selbst genommen, vielleicht ungerecht behandelt wird, muß gegebenenfalls durch eine Einzel-Lektüre ausgeglichen werden, die auf jeden Fall neben der Gesamtlektüre zu empfehlen ist: Es handelt sich fast durchgängig um solide ausgearbeitete, interessante und anspruchsvolle Beiträge in ihrem jeweiligen disziplinären Kontext (mit deren eingehender fachdisziplinärer Beurteilung im übrigen die Rezensentin auch hier und da überfordert wäre).

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Programmpunkte: »ganze« Anthropologie
zwischen Physis und Norm;
Anthropologie als Integrationswissenschaft;
Anthropologie als Wissenschaft vom »Menschen«
oder vom »ganzen Menschen«?

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Zurück zur Leitthese: Wie wird nun die zentrale »konstruktivistische Wende« begründet? Jörn Garber und Heinz Thoma skizzieren im »Vorwort« zwei unterschiedliche Hauptrichtungen der bisherigen Forschung zur aufklärerischen Anthropologie. Die erste – paradigmatisch ist hier der schon erwähnte Schings-Band – orientiere sich stark an naturwissenschaftlich-empirischen Fragestellungen der »Physischen Anthropologie«. Dabei würden jedoch die normativen und sowohl kultur- als auch geschichtsphilosophischen Dimensionen der Anthropologie ab 1750 systematisch vernachlässigt. Als Zentralfigur für diesen kritischen Einwand dient Rousseau, dessen Reflexionen über den Naturbegriff zu einer ebensolchen stark normativ aufgeladenen und wirkungsmächtigen Anthropologiekonzeption geführt hätten. Daneben existiere ein zweiter Forschungsstrang, der die Anthropologie in größere Nähe zur allgemeinen Kulturtheorie gerückt hätte und damit in die Nähe geschichtsphilosophischer und / oder fortschrittsorientierter Denkmodelle. Die – nun sozusagen »ganze« – Anthropologie der Aufklärung ab 1750 habe sich demgemäß zwischen den Polen von »Physis und Norm« (S. VIII) zu bewegen. Etwas unklar bleibt dabei das Verhältnis dieser Spannung zu der im Titel postulierten zweiten Spannung zwischen »Empirie« und »Konstruktion«: Ist erstere eindeutig der »Physis« zuzuordnen, und letztere der »Norm«? Das wird zumindest im »Vorwort« nicht eindeutig geklärt; und die Einzelbeiträge geben durchaus unterschiedliche Antworten auf diese für die Neuformulierung des Forschungsparadigmas gewiß nicht ganz nebensächliche Frage.

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Ein weiteres Anliegen der Herausgeber sind die Aktualisierungsmöglichkeiten, die sich durch diese Neuformulierung ergeben könnten. Die Anthropologie figuriert dabei – das ist wohl common sense in der Forschung – als eine Art neuer Einheitswissenschaft für die Kulturwissenschaften, die die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft überwinden kann, indem sie die »Einheit von Gegenstand und ganzheitlichem wissenschaftlichen Zugang« (S. VII) wiederherstellt. Die Aufklärung insgesamt dient Garber / Thoma in diesem Zusammenhang als »›verlorenes‹ Paradigma« (ebd.), das diese Einheit noch voraussetzte – was wissenschaftsgeschichtlich eine etwas problematische Annahme ist, mit einiger Großzügigkeit und cum grano salis aber zugestanden werden kann. Das gegenwärtige Interesse an diesem Problemkomplex werde darüber hinaus durch die aktuelle Debatte des commercium-Problems im Kontext der Entdeckungen der Gehirnphysiologie und der Umetikettierung der Naturwissenschaften zu Lebenswissenschaften unter der disziplinären Hegemonie der Biologie noch forciert. An den sich daraus ergebenden – und meines Erachtens diskussionswürdigen – weitergehenden Aktualisierungsmöglichkeiten werden sich die Geister scheiden. Die Einzelbeiträge zeigen dementsprechend auch in unterschiedlichem Ausmaß Bereitschaft, dieser These zu folgen.

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Im Vorwort nicht direkt thematisiert wird eines der größten Probleme der bisherigen aufklärerischen Anthropologie-Forschung, nämlich eine konsensfähige Definition dessen, was denn nun eigentlich unter »Anthropologie« und unter »anthropologischer Wende« zu verstehen sei. Dabei konkurrieren in der Praxis bisher zwei Denkmodelle. Im ersten wird »Anthropologie« in einem sehr weiten Sinn als all das verstanden, was sich wissenschaftlich auf die Erforschung des Menschen in seinen natürlichen, sozialen, kulturellen, historischen Erscheinungsformen richtet. In diesem Denkmodell ließen sich verschiedene »anthropologische Wenden« an unterschiedlichen historischen Knotenpunkten festmachen: beginnend vom Hellenismus der Antike über Leonardos Idealmenschen in der Renaissance bis hin zum »cultural turn« in den neueren Kulturwissenschaften 2 . Das zweite Denkmodell bezieht sich historisch konkret auf die Anthropologie der Aufklärung; Kernkriterien sind hier die zentrale Rolle des commercium-Problems – wie läßt sich der Zusammenhang von Leib und Seele denken? – sowie die Forderung, den »ganzen Menschen« zu betrachten – und zwar im Zusammenspiel seiner einzelnen Teile. An den Einzelbeiträgen wird sich illustrieren lassen, welche fundamentalen Konsequenzen sich aus dem jeweils zugrunde gelegten Anthropologie-Begriff ergeben.

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1. Anthropologische Wende, physiologisch – Physiologisierung der Seele, influxus, ganzer Mensch

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Der Band wird mit grundlegenden Beiträgen zweier »Nestoren« der Anthropologieforschung eröffnet. Wolfgang Riedel beschäftigt sich mit dem »Ersten Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung« (1); Carsten Zelle untersucht »Johann August Unzers Gedanken von Träumen (1746) im Kontext der Anthropologie der ›vernünftigen Ärzte‹ in Halle« (2).

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Wolfgang Riedel knüpft seine Ausführungen zunächst explizit an die beiden Leitbegriffe der Programmschrift an. Unter der Kategorie der Empirisierung begreift er den Übergang von der rationalen zur empirischen Psychologie, den er historisch fundiert, knapp und belesen anhand bekannterer und unbekannterer Autoren (Wolff, Krüger, Sulzer, Flögel, Abel) skizziert. Als Konstruktionsleistung hingegen versteht er die Begründung eines neuen »Denkstils« (S. 2) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der sich aus der empiristischen Neuorientierung der Seelenlehre ergibt. Diesen neuen Denkstil exponiert er an zwei Beispielen, die das Argument der möglichen Aktualisierung aufnehmen und produktiv wenden.

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Das erste Denkmodell ist die Entstehung eines »erkenntnistheoretischen Phänomenalismus« (S. 12). Aus der Überzeugung, daß wir niemals die Dinge direkt wahrnehmen können, sondern immer nur ihre zeichenhaften Spuren und Abbilder in unserer Wahrnehmung, ergibt sich für Riedel eine frappierende Parallele zum modernen konstruktivistischen Weltbild:

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Nicht anders als im »Radikalen Konstruktivismus« der gegenwärtigen Neurobiologie [...] wird in dieser noch gänzlich spekulativen Frühphase des Nachdenkens über die Zusammenhänge von Gehirn und Bewußtsein das, was wir als »Wirklichkeit« erleben, begriffen als ein hirninternes figmentum, verwandelt sich die uns gegebene »Welt« in ein zerebrales, bzw. vermittelt darüber, ein seelisches Konstrukt. (S. 13)
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Zum zweiten sieht Riedel, vor allem in den religionspsychologischen Schriften Humes, Ansätze zu einer Theorie der Projektion: Nicht Gott schafft die Menschen nach seinem Bilde, sondern die Menschen erschaffen sich Götterbilder nach ihrem eigenen Bild; ein Vorgang, den Riedel mit einer bezeichnenden kulturwissenschaftlichen Metapher als einen »plötzlichen gestalt switch« (S. 14) bezeichnet.

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Beides zusammen, so Riedel, ermögliche erst jene folgenreiche »Physiologisierung der Seele« (S. 17), die er im strengen Sinne als »anthropologische Wende« bezeichnet wissen will. Die dadurch mögliche »Revolution der Denkart« (ebd.) gehe in ihren Anschlußmöglichkeiten für moderne Theorien des Gehirns und des Bewußtseins 3 möglicherweise noch über das historisch bisher ungleich erfolgreichere kantianische Folgeprojekt hinaus – eine gewagte Hypothese, an der sich die künftige Forschung abarbeiten kann.

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Carsten Zelle konzentriert sich in seiner Auseinandersetzung mit Unzers Traumtheorie auf ein Untersuchungsgebiet, das inzwischen zu einem Parade- und Lieblingsthema der Anthropologie-Forschung geworden ist. 4 In der Sache selbst kann Zelle daher wenig Neues präsentieren; im Kontext der Leitthese des Bandes ist allenfalls die Aufwertung des Traums durch die konstruktive Kraft der Einbildungskraft von Bedeutung. Daneben trägt Zelle jedoch – und das ist forschungsstrategisch wohl wichtiger – seine andernorts ausgeführte Forschungstheorie 5 zur Bedeutung speziell der Hallenser philosophischen Ärzte für die Entwicklung des Anthropologie-Diskurses noch einmal kompakt und übersichtlich vor. Grundlegend sind auch bei ihm die Aspekte des »ganzen Menschen« sowie die »Fassung des commercium mentis et corporis als Influxus« (S. 20). Die zwölf »Diskurselemente«, die er aus dem entsprechenden Textkorpus der Hallenser Autoren isoliert hat, könnten eine hinreichend differenzierte Definitionsbasis für die aufklärerische Anthropologie insgesamt bereitstellen, die ein echtes Forschungsdesiderat wäre.

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2. Anthropologische Wende, naturgeschichtlich – von Menschenaffen und vom aufrechten Gang

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Zwei weitere Beiträge befassen sich aus der Perspektive der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert mit dem Tagungsthema: Hans Werner Ingensiep untersucht den »Aufgeklärten Affen. Zur Wahrnehmung von Menschenaffen im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur« (1); Kurt Bayertz beschäftigt sich mit dem »Aufrechten Gang: Ursprung der Kultur und des Denkens? Eine anthropologische Debatte im Anschluß an Helvétius’ De l’esprit« (2).

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Ingensiep skizziert in seinem Beitrag den Diskurs um den Menschenaffen von der Antike an, durch das gesamte 18. Jahrhundert hindurch und mit einem Ausblick ins 19. Jahrhundert umfassend, kenntnisreich und mit aufschlußreichem visuellem Anschauungsmaterial. An diesem Beispiel läßt sich die von den Herausgebern postulierte Spannung zwischen einer nicht-normativen, empirisch orientierten Anthropologie und einer normativ aufgeladenen, konstruktivistisch verfahrenden Anthropologie besonders gut aufzeigen: Die empirisch gewonnenen Forschungsergebnisse zu den Menschenaffen dienen nach Ingensiep dazu, ältere symbolische Deutungskonstrukte zu korrigieren (z. B. der Affe als Bild des Sündenfalls); sie werden jedoch alsbald wieder in neue Deutungsmuster eingebunden (z. B. der Affe als »missing link« in der chain of being).

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Die Debatte um den aufrechten Gang, die Kurt Bayertz weniger umfangreich, aber ebenso kenntnisreich skizziert, schließt thematisch und auch argumentativ direkt an den vorhergehenden Affen-Beitrag an. Im Gegensatz zu Ingensiep weist Bayertz jedoch seine Untersuchung explizit als Beitrag ausschließlich zur Empirisierungstendenz auf: Zwar kann er auch bezüglich des aufrechten Ganges zeigen, daß die seit der Antike kursierenden symbolischen Deutungsmuster im 18. Jahrhundert empiristisch hinterfragt werden. Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse bringen es in diesem Fall allerdings noch nicht zu einer Re-Symbolisierung bzw. Re-Anthropomorphisierung. Bei Bonnet findet Bayertz immerhin erste Ansätze dafür, diesen Gedanken in ein Evolutionsmodell zu transformieren – das dann wiederum eine Konstruktionsleistung wäre. Dafür jedoch seien neue Denkfiguren erforderlich, die im 18. Jahrhundert noch nicht zur Verfügung stünden.

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Bezüglich beider Beiträge könnte man allerdings weiterhin die skeptische Frage stellen, was dadurch gewonnen ist, genuin naturgeschichtliche und naturphilosophische Diskurse nun durch die Volte der »anthropologischen Wende« für einen anthropologischen Super-Diskurs zu vereinnahmen. Kritisch zu erwägen bleibt darüber hinaus, ob die in dieser Studie damit verbundene Problematik anthropomorpher Darstellungsmuster und Ideologien nicht auf einer sehr viel tieferen, kulturwissenschaftlich zu erschließenden Argumentations- und Vorstellungsebene ansetzt.

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3. Anthropologische Wende, geschichtsphilosophisch –Narrativik und Geistgeschichte der Menschheit

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In zwei sehr ausführlichen Beiträgen wird das für die Leithypothese besonders wichtige Problem des Verhältnisses von Anthropologie und Geschichtsphilosophie bzw. Kulturgeschichte thematisiert: Johannes Rohbeck beschäftigt sich mit »Erklärender Historiographie und Teleologie der Geschichte« (1). Jörn Garber skizziert am Beispiel von Friedrich August Carus den Weg »Von der ›anthropologischen Geschichte des philosophierenden Geistes‹ zur ›Geschichte der Menschheit‹« (2).

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Johannes Rohbeck versteht seine Ausführungen zur Geschichtsphilosophie »in systematischer Perspektive« ‑ und in gut aufklärerischer Tradition ‑ als »rettende Kritik« (S. 78) vor dem schlechten Ruf der Disziplin in der Philosophiegeschichte. Den Rettungsanker bildet dabei ein aktualisierender Zugriff, nämlich das Verständnis der menschlichen Gattung als kultureller wie biologischer »Reproduktionszusammenhang« (S. 99). Deren Geschichte als »zeichenvermittelter Tradierungszusammenhang« (S. 98) erzähle die Geschichtsphilosophie. Sie befreit sich damit von der alten »teleologischen Überlagerung« (S. 97); an deren Stelle treten die Evolutionsbiologie (im biologischen Gattungskontext) und die »Selbstregulation sozialer Systeme« (im kulturellen Gattungskontext, S. 96).

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Bezüglich der Leithypothese des Bandes geht Rohbeck davon aus, daß in der Historiographie der Aufklärung selbst bereits die beiden Pole der Leithypothese – Physis vs. Norm, Empirie vs. Konstruktion – zu finden seien. Es existierten zwei Deutungsmuster von Geschichte: Zum ersten das einer »erklärenden Historiographie« – die an der Darstellung von empirischen Kausalzusammenhängen im Blick auf kulturellen Fortschritt interessiert ist –; zum zweiten das einer »Teleologie der Geschichte«, die dem Fortschritt auch ein nur spekulativ bestimmbares, konstruiertes und normativ aufgeladenes Ziel setzt. Dabei ist jedoch bezeichnenderweise von Anthropologie kaum die Rede. Allenfalls könnte die Reflexion auf die Menschheit als kulturell bestimmtes Gattungswesen und Subjekt von Geschichte am Schluß eine Art schwache »anthropologische Wende« darstellen. Es läge jedoch näher, hier den »cultural turn« (mit Hayden White im Hintergrund) als eigentlichen Urheber zu vermuten.

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Der Beitrag von Jörn Garber bewegt sich im gleichen diskursiven Feld, kann aber weit stärker noch programmatisch verstanden werden. Garber interpretiert die Geschichtsphilosophie als explizite Gegenbewegung zu den Naturalisierungs- und Empirisierungstendenzen in der aufklärerischen Anthropologie und Historiographie. Sie stelle der Körpergeschichte eine »Geistgeschichte der Menschheit« (S. 220) gegenüber, in der der »Geist« der »vermittelnde Begriff zwischen Anthropologie, Philosophie und Historie« sei (ebd.). Das Ergebnis sei eine »philosophische Anthropologie«, die sowohl die Kulturgeschichte wie auch die Naturgeschichte des Menschen zu integrieren vermöge (S. 260). Als deren Kronzeugen präsentiert Garber in sehr ausführlichen Textreferaten Friedrich August Carus mit seinen monumentalen Ideen zur Geschichte der Philosophie (1809) und seiner Geschichte der Psychologie (1808).

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Dagegen drängt sich als erstes der Einwand auf, daß die in den anderen Beiträgen häufig beschworene – und im Forschungsprogramm verankerte – zeitliche Konzentration der anthropologischen Wende auf die Zeit ab 1750 nun doch deutlich überschritten wird: Carus schreibt bereits die ersten Werke, die die Geschichte der Bewegung aufarbeiten, »Sekundärliteratur« sozusagen. Zum zweiten ist sowohl die Rezeption des Kantischen Denkens wie auch der Frühschriften des Idealismus bei Carus überdeutlich; was sich vielleicht ein wenig an einer weiteren These des Forschungsprogramms stößt, in der immer wieder die Ablösung der Anthropologie vom »Systemdenken« beschworen wird – welches aber nur bei den Rationalisten der Frühaufklärung verortet wird. Zum dritten ist die Betonung eines doch reichlich spekulativ aufgeladenen Geist-Poles ja gerade das, wogegen die aufklärerische Anthropologie mit ihrer Empirisierungsstrategie mühevoll angetreten war – um sich nun von Garber ins Stammbuch schreiben zu lassen:

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Da die Anthropologie der Spätaufklärung die Einheit von Soma und Pneuma betont, ist eine solche Geschichte des Geistes zugleich eine Geschichte des »ganzen Menschen« in seiner seelisch-körperlichen Verfaßtheit (S. 228).
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Unter dieser Perspektive ist zweifellos auch eine Physiologie-Schrift – als eine »Geschichte des Körpers« – eine Geschichte des »ganzen Menschen«. Um diese Absonderungen aber geht es der aufklärerischen Anthropologie gerade nicht, sondern um den Zusammenhang der Teile.

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Nun ist es nicht so, daß Carus – und mit ihm Garber – diesen Zusammenhang gar nicht herstellen. An die Stelle des aufklärerischen, physiologisch gedachten influxus physicus tritt hier die Natur- und Kulturgeschichte der Menschheit mit einer starken teleologischen Perspektive auf die schlußendlich vollständige Verwirklichung der »Idee des Menschen«:

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Nicht die Anthropologie als empirische Wissenschaft vom Menschen wird zur Norm der Geschichtsschreibung, sondern die »Idee des Menschen« (philosophische Anthropologie). [...] Die Menschheitsgeschichte berücksichtigt nur jene Entwicklungsfaktoren, die die Perfektibilisierung der Gattung konstituieren (S. 239)
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Etwas in den Hintergrund geraten dabei leider die Verdienste der aufklärerischen Vorgänger von Carus’ geschichtsphilosophischem Entwurf. Adelung wird als Vertreter einer »ethnologischen Menschheitsgeschichtsschreibung« immerhin in einem Nebensatz erwähnt. Der eigentliche Erfinder einer Denkfigur jedoch, die auch für Carus zentral ist – nämlich der Parallele zwischen den psychologischen Entwicklungsstadien eines Individuums und den kulturellen Entwicklungsperioden eines Kollektivs ‑, wird hingegen nicht als eigene Quelle erwähnt, sondern in einem Carus-Zitat versteckt: »Isaak Iselin führte (nach Carus) erstmals die Entwicklungspsychologie in die Menschheitsgeschichte ein« (S. 235). Die Schrift Iselins mit dem Titel Geschichte der Menschheit erschien im Jahre 1764, 6 also dem eigentlichen Kernbereich des Forschungsprojekts »Selbstaufklärung der Aufklärung«; Carus schreibt, wie schon bemerkt, bereits Sekundärliteratur über die Anthropologie der Aufklärung – die Garber selbst erst gar nicht zur Kenntnis nimmt.

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Die vorgetragene Kritik wird den vielen analytischen Vorzügen sowie den eigentlichen Entdeckungen des Beitrags im übrigen nicht gerecht: Als eine Rekonstruktion geschichtsphilosophischer und kulturgeschichtlicher Denkfiguren um 1800 sowie als Carus-Exegese gelesen ist er von fundamentaler Bedeutung. Nur zeigt er leider auch, als zentraler Text der Programmschrift gelesen, die Grenzen der Leithypothese: Wenn man den geschichtsphilosophischen samt dem natur- und kulturgeschichtlichen Diskurs der Aufklärung nun pauschal einem anthropologischen Superdiskurs zuschlagen will, verdeckt man mehr, als man sichtbar macht. Wenn man denn einen solchen gemeinsamen Diskurs modellieren will, würde sich unter Umständen eher das Kultur-Paradigma anbieten, das sowohl bei Carus wie auch bei Garber und Rohbeck letztlich das vermittelnde Glied zwischen Natur und Geist darstellt – und das, nebenbei bemerkt, die Spannungen zwischen Physis und Norm, Empirisierung und Konstruktion, ungleich eleganter vermitteln könnte.

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4. Anthropologische Wende, philosophisch – Erfahrung als Wahrnehmungskonstrukt

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Der Beitrag von Karl-Heinz Schwab –»Philosophie, ›science of man‹ und ›moral sciences‹ in der Schottischen Aufklärung« ‑ markiert, ein wenig polemisch formuliert, die verspätete Ankunft des anthropologischen Paradigmas in der deutschen Fachphilosophie. Schwab arbeitet dabei mit einem eher diffusen Begriff von Anthropologie – die er vor allem auf menschliche Vermögen und naturale Anlagen, aber auch auf die Einbeziehung der Lebenspraxis bezieht. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier die ausgesprochene Fruchtbarkeit des Anthropologie-Paradigmas auch für philosophische Texte; Untersuchungen zu weiteren, sowohl bekannten wie auch unbekannteren, philosophischen Autoren bleiben deshalb ein wichtiges Forschungsdesiderat.

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Zentral für die Leithypothese des Bandes ist vor allem die »Umformung« des Empirismus, die sich durch die Berücksichtigung der »anthropologischen Prämissen der aktiven, geselligen und sinnlich-aktiven Natur des Menschen und des Praxisbezugs der Philosophie« (S. 115) ergibt. Erfahrung entsteht danach in der aktiven Verknüpfung von Wahrnehmungen durch die Erinnerung und die Einbildungskraft als nicht nur rezeptiver, sondern aktiv-konstruktiver Prozeß. Hume erscheint dabei als so etwas wie ein »konstruktivistischer Empirist«: Nicht nur Erfahrungen werden auf diese Weise konstruiert, sondern auch das Gesetz der Kausalität (vgl. S. 124) oder die Meinungen des common sense. Hier trifft sich Schwab mit dem phänomenalistischen Deutungsmuster, das bereits Riedel in bezug auf die Wahrnehmungen vorgeschlagen hatte.

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5. Anthropologische Wende, im allgemeinen – Diskurs über das Fremde und konjekturales Denken im Mythos

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Zwei weitere Beiträge versuchen einen kulturwissenschaftlichen bzw. ideengeschichtlichen Zugriff auf die Problematik: Werner Nell analysiert »Konstruktionsformen und Reflexionsstufen des Fremden im Diskurs der Spätaufklärung bei Diderot und Forster« (1); Ulrich Gaier beschäftigt sich mit »Anthropologie und Neue Mythologie. Zu Funktion und Verfahren konjekturalen Denkens im 18. Jahrhundert« (2).

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Werner Nell untersucht Schriften von Diderot und Forster im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Fremden im 18. Jahrhundert – ein Thema, dessen Aktualisierungspotential offensichtlich ist. Als »eine Art mentaler, epistemologischer Kolonisation« (S. 178) präsentiere sich der Diskurs über das Fremde bereits im 18. Jahrhundert, so die These. Bemerkenswert daran sei vor allem, daß die Autoren selbst den kolonialen Gestus ihrer Konstruktionsversuche bereits reflexiv eingeholt hätten: Diderot und Forster würden »Konstruktionsformen des Fremden aufstellen und erproben, die zugleich das Prinzip oder die Prinzipien der Konstruktion zeigen« (S. 181). Womit nicht nur das konstruktivistische Paradigma über die Empirie obsiegen würde, sondern sogar dessen reflexive Problematisierung: Diderot und Forster werden damit letztendlich zu modernen Kulturwissenschaftlern erklärt.

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Das will bewiesen sein. Bei Forster beruft sich Nell zunächst auf eine metaphorische Formulierung im Vorwort der Reise um die Welt. Dort spricht Forster von einem »gefärbten Glas«, das seine Wahrnehmungen zwingend verfälsche und subjektiviere. Der gleiche Topos kehrt dann auch bei Diderot wieder. Nun ist das ein wenig originelles Bild, das von Autoren der Aufklärung (genannt seien nur Wieland oder Wezel 7 ) vielfach verwendet wird, um Skepsis an der Objektivität der eigenen Wahrnehmung anzukündigen. Ebenso wenig überzeugend ist die Interpretation von Forsters biographischem Selbstverständnis als identitätskritische Konstruktion: Wenn Forster sich in einem Briefzitat »als Mensch, als Weltbürger, als Europäer, als Deutscher, als Franke« (S. 188) präsentiert, nimmt er gerade nicht eine »nicht weiter hierarchisierte Zuschreibung« (S. 187) aus unterschiedlichen Rollenmustern vor, sondern folgt in der Aufklärung weit verbreiteten, und in diesem Falle sogar deutlich hierarchischen (vom Allgemeinsten zum Speziellen hinabsteigend) Selbstdeutungsmustern.

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Eine starke These vertritt auch der Beitrag von Ulrich Gaier zur Neuen Mythologie: Diese sei nämlich, so entgegen der opinio communis, nicht erst in der Frühromantik, sondern bereits »im Zentrum der Aufklärung« (S. 193) entstanden; hier liegt also eine weitere Variante der Vordatierungsthese vor. Ebenso überraschend ist auch Gaiers »denkstrukturelle« Definition des Mythos als »bestmögliche Konjektur über eine unerkennbare Macht oder Wirkungskraft« (S. 194). Im Unterschied zur alten Mythologie verfahre sie reflexiv; ihre Erscheinungsformen seien beispielsweise wissenschaftliche Annahmen, moralische und ästhetische »Ideen« sowie poetische Erdichtungen. Ihre besondere Leistung im 18. Jahrhundert bestehe darin, in der konjekturalen Methode eine vermittelnde Denkform gefunden zu haben, die transdisziplinäre Erkenntnis dort ermögliche, wo die Einzeldisziplinen nicht weiter wissen.

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Dies ist nun zweifellos ein sehr weiter Begriff von Mythologie, unter den beispielsweise bei Gaier explizit auch die Vorstellungen vom »ganzen Menschen« oder vom Rousseauschen »Naturmenschen« fallen – anthropologische Kernmythen des 18. Jahrhunderts, sozusagen. Die Anthropologie selbst taucht im übrigen mit einer stehenden Wendung als »anthropologische Problematik und Not« (S. 193) auf und wird –»natürlich immer ganz pauschal genommen« (S. 198) – als die Zerrissenheit des Menschen zwischen Empirie und Vernunft bestimmt, sei es in der Geologie, der Biologie, der Theologie, der Philosophie usw.; das commercium-Problem ist nur ein Beispiel unter vielen.

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Angesichts dieser – nicht nur im 18. Jahrhundert – allgegenwärtigen Dualismen entwickelt die Aufklärung nun nach Gaier eine »Anthropologie der vermittelnden Mythen« (S. 199); einige wenige Beispiele nur: Kosmologisch wird »die Natur« als Mythos zwischen Gott und Mensch installiert; politisch tritt das Bild vom »aufgeklärten Monarchen« zwischen die absolute Staatsmacht und die Ansprüche des Individuums; philosophisch schiebt sich die »Idee« als regulatives Prinzip zwischen Vernunft und Erfahrung. All dies bewirkt schließlich, angesichts der geschilderten allgegenwärtigen anthropologischen Not, eine »die Not wendende und heilende Transzendenz« (S. 206). Der Verdacht drängt sich auf, daß man spätestens mit einer solchen Formulierung die Aufklärung dann doch zugunsten einer zeitenthobenen transzendentalen Heils- und Ideengeschichte hinter sich gelassen hat.

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Insofern fallen Nell und Gaier der Leitthese des Bandes sozusagen von zwei Seiten in den Rücken: Ersterer, indem er in der Aufklärung bereits eine reflexiv gewendete, genuin moderne Kulturwissenschaft auffinden will; letzterer, indem er sie auf eine epochenübergreifende, transzendentale Denkfigur verpflichtet. Über so viel Konstruktion jedoch geht der historisch sehr konkreten Anthropologie der Aufklärung endgültig der durchaus empirische Sitz im Leben verloren.

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6. Anthropologische Wende, literarisch und utopisch – Diderot, Wieland und andere

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Einen deutlichen Schwerpunkt bilden die literaturwissenschaftlichen Beiträge: Heinz Thoma beschäftigt sich mit »Anthropologischer Konstruktion, Wissenschaft, Ethik und Fiktion bei Diderot« (1). Manfred Beetz und Martin Disselkamp untersuchen Texte von Wieland (»Wunschdenken und Realitätsprinzip. Zur Vorurteilsanalyse in Wielands Agathon«, (2); »Ohnmacht und Selbstbehauptung der Vernunft. Zu Christoph Martin Wielands Goldnem Spiegel, (3)). Richard Saage schließlich analysiert »die ›anthropologische Wende‹ im utopischen Diskurs der Aufklärung« (4).

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Heinz Thoma zeichnet in einem groß angelegten Überblick die Entwicklung von anthropologischen Themen und diesen entsprechenden Erzählstrukturen in Diderots literarischen und philosophischen Schriften nach. Dabei unterscheidet er drei »Denkstile« bei Diderot, die dazu beitragen, daß sich in seinem Werk »Physische und sittliche Anthropologie« (S. 147) besonders eng verknüpfen: zum ersten eine Nähe zu naturwissenschaftlicher Betrachtung und naturphilosophischer Verallgemeinerung; zum zweiten die ethisch-anthropologische Reflexion mit Elementen der Sozialpsychologie und der Geschichtsphilosophie; und zum dritten die spezifisch literarischen Darstellungsformen.

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Diese diskursive Differenzierung widerstrebt zwar der Leitthese des Bandes, erweist sich aber ebenso wie die Konzentration auf die Texte und ihre verschiedenen narrativen Verfahren als äußerst instruktiv. Thoma gelingt es, die durchaus anders geartete französische Entwicklung der Anthropologie-Debatte im Werk Diderots eindrucksvoll sichtbar zu machen. Ihren Höhepunkt findet die Darstellung in der Interpretation von Jacques le fataliste et son maître sowohl als »Summe des Diderotischen Werkes« (S. 169) wie auch als erbarmungslose Abrechnung des materialistischen Determinismus mit der normativen Anthropologie-Variante Rousseaus.

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Ähnlich wie bei Diderot spielt auch bei Wieland die bereits sehr hohe anthropologische Reflexionsstufe sowie der genuin transdisziplinäre Anspruch des Autors selbst den Interpreten sozusagen in die Hände. So hat Manfred Beetz leichtes Spiel, wenn er summarisch die Vorurteils-Diskussion in Wielands Agathon vor dem Hintergrund der anthropologischen, philosophischen und poetologischen Reflexionen Wielands in seinen Zeitschriftenbeiträgen aufarbeitet. Der Leser erfährt zwar wenig Neues über den Wielandschen Roman; auch die Bedeutung des Gesprächs in diesem Zusammenhang ist in der Wieland-Forschung bereits ausführlich dargestellt worden. Einige weitergehende Hypothesen der Forschungsliteratur können auf diesem Wege aber immerhin untermauert oder in Zweifel gezogen werden. Neu in der Formulierung und im Kontext der Leithypothese des Bandes einsichtig ist am ehesten die Einschätzung Wielands als Autor mit einer konstruktivistischen Grundhaltung (vgl. S. 273f.), die ähnlich wie bei Riedel mit dem Konzept der »dunklen Vorstellungen« in Zusammenhang gebracht wird.

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Zentral für Martin Disselkamps Auseinandersetzung mit Wielands Goldnem Spiegel ist der Widerspruch zwischen einem negativ-satirischen und einem positiv-normativen Potential der Utopie, die Disselkamp beide in den utopischen Partien von Wielands Roman ausgeprägt findet. Dabei unterminiert nach Disselkamp im Goldnen Spiegel die Aufdeckung von Triebfedern des menschlichen Handelns nach dem Muster der materialistischen Anthropologie den moralischen Allgemeinheitsanspruch der Prinzipien, die der »Weise« – sei es als Philosoph, als Fürstenerzieher oder, modern gesprochen, als »Intellektueller mit öffentlicher Verantwortung« (S. 305) – zu Erziehungszwecken beanspruchen muß. Für den »Weisen« selbst, der von der Unmöglichkeit, jemals zu einer allgemeinverbindlichen Wahrheit für alle vorzudringen, weiß, gilt das Gespräch mit anderen »Weisen« als unentbehrliches Korrektiv der eigenen Positionen.

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Im Roman selbst, so Disselkamp, werde dieses Gespräch durch die vielfachen Perspektivierungen der fingierten komplizierten Überlieferungsgeschichte und Quellenkritik ersetzt. Diese lassen auch die Tifan-Utopie als nur ein Modell eines idealen Staates deutlich werden, das durch die Erzählung bereits in seinem Wahrheitsanspruch in Frage gestellt wird ‑ eine zwar, so Disselkamp, durchaus resignative Position im Widerstreit zwischen Physis und Norm, die aber gerade durch das bewußte Aufrechterhalten der Spannung zwischen beiden Polen als besonders modern angesehen werden könne.

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Richard Saage exponiert in seinem Beitrag zunächst als zentrale Bestandteile der aufklärerischen Anthropologie – streng nach Schings – die Tendenzen zur Empirisierung, Naturalisierung und Rehabilitierung der Sinne. Diese Kriterien werden an einem beeindruckenden Textkorpus sogenannter »archistischer« und »anarchistischer Utopien« aus der deutschen und französischen Literatur zwischen 1675 und 1781 abgearbeitet. Das Verfahren ist ein wenig schematisch, nichtsdestotrotz aber durch die Vielfalt und Vielzahl der untersuchten Texte aufschlußreich. Als Ergebnis zeichnet sich eine Entwicklung von einer an der Geometrie als Leitwissenschaft orientierten, cartesianisch-rationalistischen Utopie gegen Ende des 17. Jahrhunderts über verschiedenste Mischformen in der Jahrhundertmitte bis hin zur stärker biologisch-anthropologisch beeinflußten Utopie bei Mercier und Retif de la Bretonne (bezüglich des archistischen Modells) sowie in Diderots Nachtrag zu ›Bougainvilles Reise‹ (bezüglich des anarchistischen Modells) am Ende des 18. Jahrhunderts ab. Besonders eindrucksvoll zeigt sich in diesem Genre das Wechselspiel von Physis und Norm; ob das jedoch im Falle der Utopien vordringlich auf den anthropologischen Diskurs zurückzuführen ist, erscheint mir zweifelhaft.

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Sowohl bei den Utopien wie auch bei den untersuchten Texten von Diderot und Wieland tritt im übrigen die Leitfrage nach dem Verhältnis von Empirisierung und Konstruktionsleistung in den Hintergrund – was, in Maßen, für die literarische Umsetzung des anthropologischen Paradigmas insgesamt gilt: Jede Fiktion ist naturgemäß eine Konstruktionsleistung; und die besondere Bedeutung der aufklärerischen Anthropologie für die Literaturwissenschaft resultiert gerade umgekehrt aus dem Empirisierungsschub für die Literatur. Die Pole von Physis und Norm hingegen werden in fiktionalen Texten – das zeigen sowohl die Beispiele von Wieland wie von Diderot – vor allem formal bzw. narrativ vermittelt.

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7. Anthropologische Wende, praktisch – Profiling bei den Illuminaten und »innere Gastlichkeit« bei Rousseau

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Der Band wird mit zwei Beiträgen beschlossen, die die »anthropologische Wende« in praktischen Zusammenhängen ausloten: Monika Neugebauer-Wölk untersucht unter dem Obertitel »Praktische Anthropologie für ein utopisches Ziel« »Menschenbeobachtung und Menschenbildung im Geheimbund der Illuminaten« (2); Alain Montandon analysiert »Konversation und Gastlichkeit in der französischen Aufklärung. Zur Konzeptualisierung sozialer Interaktion zwischen Kontinuität und Umbruch« (2).

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Monika Neugebauer-Wölk beschreibt anhand eines umfangreichen Textkorpus von Ordenskorrespondenzen und Berichtspapieren des Illuminaten-Ordens das Verhältnis von Utopie, Anthropologie und Geheimbundpolitik. Erklärtes Ziel ist dabei, die praktische Umsetzung anthropologischer Konzepte in der Ordensrealität zu erforschen. Nach Neugebauer-Wölk wird das zeitgeschichtliche anthropologische Wissen den Illuminaten vor allem über philanthropische Debatten zugänglich, die anthropologische Erkenntnisse in konkrete Bildungsstrategien umsetzen. Das wird am Beispiel pädagogischer Texte von Johann Karl Wezel, bekanntermaßen Vertreter einer sehr physiologisch orientierten Anthropologie, demonstriert, der energisch zur Empirisierung pädagogischer Konzepte aufruft. Dem Konstruktions-Pol hingegen ordnet Neugebauer-Wölk die utopischen Leitvorstellungen einer idealen Gesellschaft zu, die beispielsweise in der Ordenskorrespondenz aufgebaut werden. Der empirischen Erfahrung wird damit eine utopisch-konstruierte Erwartung kontrastiert. Das ist lebensweltlich und psychologisch durchaus nachvollziehbar; aber ob es darüber hinaus spezifisch genug ist, um eine »anthropologische Wende« auch im Illuminaten-Orden zu konstatieren, werden erst weitere Forschungsergebnisse zeigen müssen.

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Dem von weit her gereisten Gast kann es wohl verziehen werden, daß er in seinem abschließenden Beitrag auch die maximale Entfernung zu Thema und These des Bandes erreicht. Alain Montandon skizziert in seinem Beitrag in bewährt ideengeschichtlicher Tradition die Entwicklung des Höflichkeitsdiskurses am Leitfaden der Konversation und der Gastlichkeit in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Er zeigt dabei, wie die traditionellen Zivilisationstraktate zunehmend durch die libertine Literatur und deren Pervertierung der Konversationsmuster und -themen unterwandert werden. Gegenläufig dazu entwickelt sich nach Montandon ein neuer Diskurs der Gastlichkeit bei Rousseau, in gezielter Antithese zum Pariser Modell. Gastlichkeit wird nun im Namen der Natur und nach dem Muster des Spaziergangs neu definiert und vor allem verinnerlicht: Es entsteht das »Paradox einer inneren Gastlichkeit«, deren literarisches Paradigma folgerichtig die Autobiographie ist. Damit, so die Schlußwendung mit dann doch noch einer letzten höflichen Verbeugung gegenüber dem Leitthema, erscheint Rousseau als Vertreter einer »pessimistischen, desillusionierten Anthropologie« (S. 362).

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Resümee

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Die »ganze Anthropologie«?

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Ob die Notwendigkeit zur Konstruktion eines anthropologischen Superdiskurses in der Aufklärung unter Einbeziehung normativer und teleologischer Modelle wie der Geschichtsphilosophie und der Kulturgeschichte damit hinreichend bewiesen ist, erscheint mir zweifelhaft. Hier würde ich eher für die Einhaltung möglichst genau gezogener diskursiver Grenzen plädieren, die dann ja auch in beide Richtungen überschritten werden können. Daß hingegen von einer »anthropologischen Wende« in einem weiteren, allgemeinen Sinne auch bezüglich eines größeren Textkorpus (unter Einbeziehung utopischer, historiographischer oder philosophischer Texte) gesprochen werden kann, ist hinreichend demonstriert worden ‑ aber leider auch von geringerer Tragweite in der konkret damit verbundenen Erkenntnisleistung. Unter dieser zweiten Perspektive sind zweifellos die Aktualisierungsgewinne größer; und insofern muß wohl jeder selbst entscheiden, ob er sich auf die Seite historistischen Detailwissens oder kulturwissenschaftlichen Überblickswissens schlägt (oder gar dann und wann die Seiten wechselt).

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Die konstruktivistische Wende?

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Auf jeden Fall sinnvoll und erhellend scheint mir die Hervorhebung eines bisher unterschätzten konstruktivistischen Potentials der aufklärerischen Anthropologie, wie es vor allem Wolfgang Riedel in seinem einleitenden Aufsatz skizziert hat. Dieses ist natürlich wiederum je nach diskursivem Zusammenhang unterschiedlich ausgeprägt und findet sich stärker in geschichtsphilosophischen Rahmenkonstrukten als in naturgeschichtlichen Beschreibungsmodellen; für avancierte literarische Texte mit einem gewissen Reflexionsniveau ist es geradezu eine Selbstverständlichkeit. Zudem können konstruktivistische Tendenzen durchaus auch an physiologische Anthropologie-Konzepte gekoppelt werden – wohingegen geschichtsphilosophische oder kulturgeschichtliche Anthropologie-Konzepte notwendig mit Konstruktionen arbeiten müssen. Insofern ist der eigentlich problematische Begriff nicht so sehr der der Konstruktion als der der Normativität: Eine normative Anthropologie ist wohl zumindest für die Mehrheit der Aufklärer ein Widerspruch in sich selbst.



Anmerkungen

Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994.    zurück
Vgl. zum kulturwissenschaftlichen Begriffsgebrauch beispielsweise Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt / M.: Fischer 1996.   zurück
Hervorzuheben sind die gründlichen, sehr hilfreichen Literaturangaben zu diesem Thema, die belegen, daß Riedel die vorgenommene Aktualisierung mit entsprechenden Forschungsergebnissen begründen kann.    zurück
Hier macht sich deshalb auch das verspätete Erscheinen des Bandes, wie Zelle selbst zugibt, besonders schmerzhaft bemerkbar   zurück
Vgl. Carsten Zelle (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen: Niemeyer 2001.    zurück
Es mag der Rezensentin verziehen sein, wenigstens an dieser Stelle auf die im vorliegenden Sammelband beinahe zur Gänze ignorierte, eigene umfangreiche Monographie zur Anthropologie der Aufklärung und dem aufklärerischen Roman hinzuweisen: Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Berlin, New York: de Gruyter 1996, hier: S. 106 f. Das gleiche gilt im übrigen für eine ganze Reihe weiterer Monographien der letzten Jahre zur aufklärerischen Anthropologie, die von den meisten Autoren des Sammelbandes kaum zur Kenntnis genommen worden sind; vgl. z.B. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen: Niemeyer 1988; Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York: de Gruyter 2003; sowie die herausragenden Kommentare von Wolfgang Proß zu Herders anthropologischem Werk und den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Hanser-Werkausgabe Bd. 2 und 3).   zurück
Und im übrigen auch im Band selbst, nämlich im Beitrag von Manfred Beetz, der die Metapher bei Lessing und Adam Bernd nachweist (vgl. S. 273).   zurück