Peter Heßelmann

Herzog Anton Ulrichs Roman
Römische Octavia in neuer Perspektive




  • Stephan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der »Römischen Octavia« von Herzog Anton Ulrich. »Der roman macht die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt«. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 483) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 214 S. Kartoniert. EUR 36,00.
    ISBN: 3-8260-2655-1.


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Das im Titel der Monographie von Stephan Kraft plazierte programmatische Zitat–»der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt« – stammt aus einem Brief Liselottes von der Pfalz an Sophie von Hannover vom 23. September 1706 und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers sogleich auf ein zentrales strukturelles Problem des 1673 begonnenen monumentalen höfisch-historischen Romans von Herzog Anton Ulrich. Denn das Werk, dessen erster Band 1677 veröffentlicht wurde, war 1714, im Todesjahr des Autors, in seiner Konzeption keineswegs abgeschlossen. Es gelingt Kraft in seiner Bonner Dissertation (2002), den Entwicklungsprozeß einer verwickelten Textgenese nachzuzeichnen, die auch nahezu vierzig Jahre nach ihrem Beginn nicht in ein Finale des Großromans einmünden sollte. Bis zu seinem »vorläufigen« Ende wurden dem permanent wachsenden literarischen Projekt neue Elemente und Konzeptionsänderungen integriert, bis es schließlich in einer Reihe von Aporien zum Abschluß kam. Kraft führt strukturelle Gründe und die damit eng verknüpfte und dem Roman zugrunde liegende Welt- und Geschichtskonzeption dafür an, daß das Werk nicht befriedigend beendet werden konnte.

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Drei Textschichten

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Die erste Fassung des vielsträngigen Romans, die in den Jahren 1677–1707 erschienen ist, umfaßt in sechs Bänden gut 6900 Druckseiten, die unvollendete zweite Version, die zwischen 1710 und dem Todesjahr Anton Ulrichs 1714 entstanden ist, umspannt in sieben Bänden über 7000 Seiten, gefolgt noch von umfangreichen Manuskripten zu Teilen eines unveröffentlichten achten Bandes. Das Textdickicht folgt gattungsgemäß der Heliodiorschen Romanstruktur, die aber die vorgegebene, auf den ersten Blick verworren anmutende Vielsträngigkeit der Handlungsfäden und der komplexen Verflechtungen der Romanfiguren potenziert und damit zugleich kompliziert. Anton Ulrich hat seinen unvollendeten Roman nicht allein geschrieben, sondern mit Sigmund von Birken, Christian Flemmer und Gottfried Alberti mehrere Mitarbeiter zur Bewältigung des gewaltigen Textmassivs in Anspruch genommen.

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Die Forschung unterscheidet eine erste Textschicht (Bd. 1–3 der Erstausgabe von 1677–1679, Teile des ersten Teildrucks der Erstausgabe von Bd. 4 von 1703), eine zweite Textschicht (Teile des ersten Teildrucks der Erstausgabe von Bd. 4 von 1703 und der zweite Teildruck von 1704, Bd. 5 und 6 der Erstausgabe von 1706 und 1707) und eine dritte Textschicht (überarbeitete und erweiterte Ausgabe von 1712–1714, Druck des siebten Bandes von 1762, Handexemplar Gottfried Albertis des siebten Bandes, Handschriften zum siebten und zum unvollendeten und nie publizierten achten Band). 1

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Grundzüge der Forschung
und Forschungskritik

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Die relativ überschaubare Forschung zur Römischen Octavia hat sich vornehmlich den ersten drei Bänden aus der Zeit von 1677–1679 gewidmet, seltener wandte man sich den zwischen 1703 und 1707 veröffentlichten Bänden zu. Die ab 1712 publizierte zweite Fassung des Romans geriet noch weniger in den Blick, nicht zuletzt wohl wegen der Seltenheit der Drucke, von denen keine Nachdrucke existieren. Auch die in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel befindlichen Manuskripte zu einem achten Band haben bislang kaum das Interesse der Forscher gefunden. In Anbetracht dieser unbefriedigenden Situation ist es ohne Zweifel als verdienstvoll einzuschätzen, wenn sich Kraft nun an die bisher nicht annähernd bewältigten Textmassen herangewagt und sie einer genetisch orientierten Analyse unterzogen hat.

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Die bisherige Forschung zur Römischen Octavia, die neben der Aramena Anton Ulrichs und Lohensteins Arminius zu den Prototypen der Gattung des höfisch-historischen Romans zählt, hat die These von einer geschlossenen, kunstvoll komponierten inneren Ordnung, einem hohen Grad an epischer Integration aller Textelemente und einer auf Finalität ausgerichteten raffinierten Erzählstruktur, die dem Modell einer narrativen Theodizee folge, vertreten. 2 Das Romangeschehen und die Romanstruktur seien Abbild der göttlichen Weltordnung und Providenz und der Roman sei als dichterische Theodizee konstruiert, verbunden mit der Darstellung von Tugendlohn und Sündenstrafe im Sinne der Moraldidaxe.

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Die Konsistenz dieser Argumentation funktioniere, so Krafts Kritik, weil die Forschung sich auf eine Analyse der ersten Bände der Römischen Octavia konzentriert und die sich in den Folgebänden und in der späteren Textfassung abzeichnende Abkehr von der anfangs geschlossenen Konzeption des Romans ignoriert habe. Vielmehr geht es Kraft nun darum, Brüche und Ambivalenzen, mehrfach erfolgte Konzeptionsmodifikationen und Umarbeitungen, mithin die steigende Tendenz zur »Unordnung« in der gesamten Erzählorganisation genauer zu untersuchen. Damit ist klar, daß der Schwerpunkt der Interpretationen auf der zweiten und vor allem auf der dritten Textschicht liegt. Nach Kraft gelangte der Autor von einer geschlossenen zu einer zunehmend offeneren Romanpoetik, die allerdings keineswegs in ihrer Entfaltung konsequent verlaufe und nicht frei von Widersprüchen und Gegenbewegungen sei. Somit gebe es wie in der zeitlichen Parallelerscheinung der eklektischen Philosophie ein spannungsreiches Neben- und Gegeneinander von beharrenden und innovativen, also divergierenden Elementen. »Geschlossenheit« und »Offenheit« werden in den Textanalysen zu einer grundlegenden Leitdifferenz. Beide Begriffe umfassen formale, inhaltliche, ästhetische und weltanschauliche Komponenten.

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Sechs thematische Längsschnitte

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Anhand der diachronen Untersuchung von sechs ausgewählten Themenbereichen – Komik und Lachen, Religion, Politik, Verschlüsselungen und Erzählerposition, Affektdarstellung sowie Finalität des Erzählens – wird versucht, die These zu belegen, daß sich die ursprünglich geschlossene Textorganisation der Römischen Octavia im Verlauf des langen Schreibprozesses immer weiter aufgelöst habe. Nach Auffassung von Kraft erweist sich der Roman geradezu als ein »Seismograph« für die spezifische Entfaltung eines neuartigen literarischen Feldes um 1700, das – an der epochalen Grenzscheide zwischen (Spät-)Barock und (Früh-)Aufklärung situiert – durch eine überraschende Modernität und Offenheit charakterisierbar sei. Dies zeige sich beispielsweise in der sich erhöhenden Individualisierung und Psychologisierung der Romanfiguren und dem Verlust der Verbindlichkeit des traditionellen providentialistischen Bezugsrahmens bei gleichzeitiger Zunahme von Säkularisierungsphänomenen. Kraft diagnostiziert im Textverlauf darüberhinaus ein Changieren zwischen Sinnsetzung und einem In-Frage-Stellen von Sinnorientierung und entdeckt eine für das Werk typische »Gleichzeitigkeit von Bruch und Kontinuität« (S. 154), die eine neue große Synthese etwa im Horizont einer finalen Utopie verhindern mußte. Der Terminologie Michail M. Bachtins folgend, liege zunächst ein eher »monologischer« Text aus der Krisen- und Umbruchszeit um 1700 vor, der sukzessive in einen eher »dialogischen« Text transformiert worden sei.

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Fazit

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Kraft versucht eine Mode gewordene, sogenannte »Lektüre gegen den Strich« (S. 24) und unterstellt unausgesprochen, alle früheren Interpreten hätten den Text »mit dem Strich« gelesen, was wohl letztlich unkritisch bedeuten soll. Brüche und Ambivalenzen in der Romankonzeption sind zuvor keineswegs übersehen worden, doch hat man diesen Befund anders gewichtet und interpretiert. Manche Deutungen Krafts bedürfen einer intensiveren kritischen Diskussion. So scheint es beispielsweise fraglich, ob sich tatsächlich eine zunehmende »ideologische Desintegration« und »Verunsicherung« (S. 47) im Roman des Herzogs und Staatsoberhaupts widerspiegelt. Auch die konstatierte allmähliche »Erosion christlicher Dogmen« (S. 49), die sich zeige, ohne eine als verbindlich geltende religiöse und weltanschauliche Leitnorm aus einer Zentralperspektive vorzugeben, dürfte in Anbetracht der ideologischen und sozialen Position des Romanautors und absolutistischen Herrschers strittig sein. Zwar ist die Nähe zu Paradigmen der frühen Aufklärung in manchen im Roman offen dargestellten und »polyphonisch«-diskursiv problematisierten Themenbereichen nicht von der Hand zu weisen, doch wurzelt das Werk letztlich doch unzweifelhaft in der religiös fundierten Weltanschauung der Barockepoche.

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Zu bedenken bleibt, daß der Text nicht zuletzt Standeskunst ist, idealisierte Selbstdarstellung der fürstlich-absolutistischen Welt. Er fungiert auch als Staatslehrschrift, als Adels- und Fürstenschule, in der man unter anderem politisch richtiges Verhalten auf der Basis politischer Klugheit lernen sollte. In dieser Hinsicht dürfte von einer »ideologischen Desintegration« wohl nicht die Rede sein.

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Die Einwände mindern indes kaum die Verdienste der Studie, durch die der Roman Anton Ulrichs in einer neuen Perspektive erscheint. Die Ergebnisse der anregenden Untersuchung Krafts stellen in jedem Fall einen wichtigen Diskussionsbeitrag zur Anton-Ulrich-Forschung dar. Die Arbeit wird, so bleibt zu hoffen, der Forschung neue Impulse geben und eine intensive Lektüre und Diskussion des vernachlässigten Monumentalromans provozieren.

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Das Quellen- und Literaturverzeichnis bietet eine Übersicht über die erhaltenen Handschriften zur Römischen Octavia, über die in der Studie herangezogenen und nach den Handschriften zitierten Briefe, über die Drucke der Römischen Octavia, über Editionen und weitere Werke Anton Ulrichs, über von Kraft genutzte Schriften anderer Verfasser und über die Forschungsliteratur.

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Den Abschluß bilden Register der Personen und – besonders hilfreich – der Romanfiguren. Wenn man berücksichtigt, daß sich die Anzahl der in der Römischen Octavia namentlich erwähnten Figuren auf etwa 1800 beläuft, dann wird die Relevanz dieses Verzeichnisses sofort ersichtlich. Es bleibt allerdings verständlicherweise auf diejenigen Romanfiguren limitiert, die in der Monographie Krafts erwähnt werden. Der Index enthält immerhin 155 Eintragungen. Kurzcharakterisierungen der Figuren ermöglichen ihre Positionierung im hochkomplexen Beziehungsgeflecht der Romanfiktion und erleichtern zudem den Nachvollzug des Argumentationsganges.


PD Dr. Peter Heßelmann
Universität Münster
Institut für deutsche Philologie II
Domplatz 23
DE - 48143 Münster

Ins Netz gestellt am 05.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Dietmar Till. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Peter Heßelmann: Herzog Anton Ulrichs Roman Römische Octavia in neuer Perspektive. (Rezension über: Stephan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der »Römischen Octavia« von Herzog Anton Ulrich. »Der roman macht die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.)
In: IASLonline [05.11.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1029>
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Anmerkungen

Zur komplexen Entstehungsgeschichte des Romans vgl. die Arbeiten von Maria Munding: Zur Entstehung der »Römischen Octavia«. Diss. Masch. München 1974; Étienne Mazingue: Anton Ulrich Duc de Braunschweig-Wolfenbüttel (1633–1714). Un Prince Romancier au XVIIème Siècle (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur. 257) 2 Bde. Bern, Frankfurt / M., Las Vegas 1978.   zurück
Verwiesen sei auf Günther Müller: Barockromane und Barockroman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 4 (1929), S. 1–29; Wolfgang Bender: Verwirrung und Entwirrung in der »Octavia / Römische Geschichte« Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel. Diss. Köln 1964; Adolf Haslinger: Epische Formen im höfischen Barockroman. Anton Ulrichs Romane als Modell. München 1970.   zurück