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»The useful work that realism can do«

Jeffrey Sammons' exemplarische Untersuchung
zur literarischen Kultur des Kaiserreichs

  • Jeffrey Sammons: Friedrich Spielhagen. Novelist of Germany's False Dawn. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 117) Tübingen: Max Niemeyer 2004. XVIII, 340 S. Kartoniert. EUR (D) 66,00.
    ISBN: 3-484-32117-2.
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Der Gegenstand verlangt ein klares Urteil, denn wer den Leser auffordert, sich auf 340 eng bedruckten Seiten einem Autor des programmatischen Realismus zu widmen, der in Person wie Werk unproblematisch erscheint (im Gegensatz zu seinem Pendant Gustav Freytag) und dessen starres poetologisches Konzept eher berüchtigt als berühmt ist, braucht gute Gründe. Jeffrey L. Sammons, Levenworth-Professor of German an der Yale University, hat sie: Dies ist ein notwendiges Buch!

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Die Untersuchung bildet den Abschlussband einer vierteiligen Reihe zur Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, mit der sich Sammons – neben zahlreichen Aufsätzen – als einer der führenden Wissenschaftler im Bereich der Realismusforschung erwiesen hat. Darunter sind in diesem Zusammenhang besonders zwei Arbeiten zur Poetik Wilhelm Raabes und – von Sammons zunächst unerwähnt – zur Raabe-Rezeption bedeutsam. 1

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(De)Kanonisierung
als kulturelles Symptom

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Am Beispiel Raabes beschrieb Sammons das Phänomen der späten (und lange problematischen) Kanonisierung eines vordem wenig beachteten Autors; jetzt widmet er sich dem gegenläufigen Prozess einer bemerkenswerten ›Dekanonisierung‹ (vgl. S. 43): Friedrich Spielhagen, einst neben Freytag der Erfolgsautor der Jahrhundertmitte, wurde nach der Reichsgründung zunehmend marginalisiert und spätestens von den Kritikern des Frühnaturalismus in die »decanonized outer darkness« (S. 68) der Literaturgeschichte verwiesen, obwohl, vielleicht aber auch: weil seine Produktivität bis ins hohe Alter ungeschmälert und er in seinen Themen aktuell geblieben war. (Und er ist weitgehend dort geblieben.)

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Spielhagens Exkommunikation ist zeitgenössisch und in der Folge immer wieder mit ästhetischen Defiziten seiner Literatur begründet worden, die wiederum als Folge seines Festhaltens an einer dogmatischen Romanpoetik verstanden wurden. Eine gewisse Starre des programmatischen Realismus Spielhagens räumt Sammons ein, aber er verweigert die voreilige Identifizierung der Programmatik mit der Literatur seines Autors.

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In akribischen Analysen weist Sammons vielmehr eine kontinuierliche Auseinandersetzung Spielhagens mit zeitgenössischen literarischen Strömungen, insbesondere mit dem Naturalismus, nach und zeigt die stilistische wie inhaltliche Weiterentwicklung seines Werkes. Die Verdrängung Spielhagens aus dem Kanon ist mit ästhetischen Gründen allein nicht zu erklären; sie erweist sich vielmehr als zeitgeschichtlich symptomatischer Vorgang – mit Auswirkungen noch auf heutige Untersuchungen. Obwohl Sammons gesteht, im Laufe seiner Studien zunehmend von Spielhagen gefesselt worden zu sein (vgl. S. XI), bewahrt er kritische Äquidistanz. Die ›Rettung‹ Spielhagens wird zum Nebenprodukt einer weitergehenden »inquiry into German literary life in the age of realism« (S. 317) und der Analyse seiner »literary culture« (ebd.).

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Literatur als Diagnostik

Schon die Tatsache, dass das Spätwerk Spielhagens für den Untergang der liberalen bürgerlichen Hoffnungen im Wilhelminismus (»Humanitarian liberalism has become impotent in the Reich, ...« [S. 301]) stehen kann, macht das anhaltende Desinteresse an »one of the most democratic writers in German literature of the nineteenth century« (S. 69) für Sammons fragwürdig – und die Erklärung, die er zwischen den Zeilen anbietet, fällt wenig schmeichelhaft aus:

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All canonization involves discriminatory selection and is necessary, for there is a great deal more literature in the world than can be stored in the cultural memory, but the efficiency with which German canonization can turn once prominent writers into nonpersons is particularly startling. (S. XI f.)
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Doch könnte die gegebene Charakteristik des Textes leicht ein falsches Bild seiner Faktur vermitteln: Sammons formuliert weder mit dogmatischem Furor noch mit erhobenem Zeigefinger. Die Untersuchung bleibt nahe bei ihrem Gegenstand und beschreibt ihn in Primär- wie Sekundärliteratur materialgesättigt, während weitergehende Schlussfolgerungen mit jenem understatement vorgebracht werden, das den flüchtigen (deutschen?) Rezipienten leicht zum Überlesen verleitet.

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Das Buch gliedert sich in drei Kapitel, gefolgt von einem Epilog. Im ersten zeichnet Sammons den Aufstieg Spielhagens biographisch und werkbiographisch nach, beschreibt dann den langen Niedergang seines Ansehens und umreißt schließlich die ›berüchtigte‹ Romankonzeption. Spielhagen, so Sammons in der Einleitung, »was his own worst enemy« (S. XIII): »[H]is theory of the novel and his practice of literary criticism constitute a disaster area; …« (ebd.).

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(Hier hätte der Rezensent einzuwenden, dass Spielhagens poetologische und kritische Position flexibler erscheint, wenn man die Fixierung auf die Romanpoetik aufgibt und den Blick auf ›Nebengattungen‹ wie Erzählung und Novelle lenkt. Allerdings ist dieser Einwand für Sammons folgenlos, da er einerseits die zeitgenössische, bis heute wirkmächtig das Spielhagen-Bild prägende Rezeption der Romantheorie in den Mittelpunkt stellt und andererseits die Primordialität und Eigengesetzlichkeit des literarischen gegenüber dem kritischen Werk betont 2 – und beides schlüssig nachweisen kann.)

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War das erste Kapitel chronologisch strukturiert, so folgt das zweite einer primär topischen Logik. Von der Auseinandersetzung mit der Aristokratie über sein politisches Selbstverständnis, die Duellfrage, die Stereotypen jüdischer Identität, das Amerika-Bild und die Frauenfrage bis zur Rezeption des französischen Naturalismus exponiert Sammons durchgängige Themen des Spielhagen’schen Werkes, die zeigen, wie zunächst selbstsichere liberale Muster angesichts der historischen Entwicklung problematisch werden und schließlich Korrektur erfahren.

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Damit ist der Grund gelegt für die chronologische Lektüre der im Kaiserreich entstandenen Werke im dritten Kapitel. Von der leicht skeptischen Apologie des Reiches im 1872 erschienenen Roman Allzeit voran bis hin zur »[f]inal Melancholy« (S. 270) in den letzten Romanen Opfer und Frei geboren zeichnet Sammons das Bild eines zunehmend kritischeren, pessimistischeren und auch sarkastischeren Autors, der sich immer mehr von seiner politischen Heimat entfernt und der Sozialdemokratie nähert, der sich dabei zunehmend gezwungen sieht, seiner eigenen Romantheorie zu ›widerschreiben‹.

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Dass dieser Teil mit dem Vergleich der literarischen Bearbeitungen des Ardenne-Falles bei Fontane und Spielhagen abgeschlossen wird, mag zunächst als bloßes Ornament erscheinen. Und Sammons lässt zudem keinen Zweifel daran, dass Effi Briest Spielhagens Novelle Zum Zeitvertreib literarästhetisch weit überlegen ist. Doch verbirgt sich hier die zentrale Frage der Untersuchung.

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Was ist, was war das ›poetisch angemessene‹ Verhalten angesichts jener neuen Wirklichkeit des Wilhelminischen Reiches, die, wie wir wissen, nicht die erhoffte Morgendämmerung einer besseren Zeit darstellte, sondern eine ›false dawn‹ war, die Ouvertüre der Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts: Fontanes ›milde‹ Kritik der Gesellschaft in ihren sprachlichen Konventionalismen mit ihrem »aesthetic tragic tone« oder Spielhagens »punishing satire (....) of a dangerous environment in which comical and stupid events are potentially lethal« (beide S. 304)?

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Im historischen Rückblick scheint die Frage rhetorisch, die Antwort moralisch und politisch simpel. Doch Sammons stellt sie (zunächst) nicht moralisch, sondern ästhetisch, fragt nach der Tragweite und den Konsequenzen des idealistischen liberalen Realismus mit seinen Werten und nach seiner Kompetenz und seinen Beschränkungen in der Darstellung zeitgenössischer Wirklichkeit. Ohne es mit diesem naturalistisch reservierten Begriff zu etikettieren, versteht Sammons das realistische Verfahren als ›Versuchsanordnung‹, die gegebene, hier: idealistische und in der klassischen Tradition gegründete Prämissen in zeitgenössischen Szenarien erprobt. Am deutlichsten ist dies zum Ende seiner Erörterung der Faszination von Duellen in der Gesellschaft und Literatur des späten neunzehnten Jahrhunderts formuliert:

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Impelled in part by personal, ›subjective‹ experience, he [Spielhagen] developed a hypothesis that a certain type of military officer could evolve into an effective defender of the human virtues and enlightened politics that alone could embody value in the German Reich. As he tests this hypothesis in the logic of his fiction, it is shown to be illusory. This, it would seem to me [Sammons], is an example of the useful work that realism can do. (S. 107)
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Realismus als Problem

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Durch sein realistisches Programm mit seiner Insistenz auf Zeitbezogenheit und strikter Objektivität, seiner Forderung nach realen Modellen für fiktionale Figuren und seiner Dialektik von Finden und Erfinden verpflichtet sich Spielhagen der unmittelbaren Wirklichkeit einer Gegenwart, die sich immer weniger in ein Handlungs- und Figurengerüst fügen lässt, dessen Erzählperspektive der idealistischen Subjektivität seines Helden folgt (vgl. S. 267). Sammons diagnostiziert bei Spielhagen »continuing uneasiness about the relationship of poesy and reality« (S. 242, vgl. 231, 237) und »[a] rising level of scepticism« (S. 165), bemerkt im Werk schließlich einen »breakdown of poetic justice« (S. 228, vgl. 261) und eine Verfinsterung des Tons bis hin zum »deepened cynicism« (S. 209, vgl. 230).

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Die Diagnose, dass die optimistische Weltanschauung des idealistischen Liberalismus an der Wirklichkeit der Wilhelminischen Gesellschaft zerschellt, ist wenig überraschend. Doch die Erträge der Untersuchung liegen auf anderem Feld: Sammons zeigt, wie gerade das hartnäckige Festhalten an den Prämissen und Prinzipien seiner einmal geschaffenen Poetik Spielhagen zu diagnostischer Klarheit befähigt. Damit wird Spielhagens Werk für eine kulturwissenschaftliche Lektüre interessant.

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Sammons zeigt aber auch, wie die Insistenz auf realistischer Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit den Autoren zur Lockerung seiner poetologischen Konzeption zwingt. Durch jene spannungsvolle Dialektik zwischen konzeptuellem Gerüst und referentieller Intention, die prinzipiell jeder Literatur eignet, jedoch in Realismen in besonderer Weise thematisch wird, sobald man auf die sprachphilosophischen Banalitäten konstruktivistischer Reduktion verzichtet, bietet sich Spielhagens Werk einer Untersuchung an, die nach der deskriptiven Kompetenz literarischer Formen, nach ihren systematischen und historischen Möglichkeiten und Schranken, fragt.

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Weil der engagierte Liberalismus Spielhagens nicht nur den Inhalt seiner Werke, sondern zugleich dessen Erzählperspektive bestimmt, kommt gegen Ende des Jahrhunderts auch sein poetisches Konzept in die Krise. Sammons sieht drei historische ›Lösungswege‹: Zunächst den Übergang vom programmatischen zum poetischen Realismus, den Sammons in zwei Formen, der artistischen Relativierung der Erzählerposition im Werk Wilhelm Raabes und der ästhetischen Resignation Fontanes mit ihrer Konzentration auf die diskursive Oberfläche, als intellektuelles Degagement interpretiert. Dem dritten, wie Sammons suggeriert: für engagierte Literatur einzig zukunftsträchtigen Weg, der naturalistischen Poetik, nähert sich Spielhagen zwar, aber er kann ihn nicht beschreiten, da ihn sein »idealistic baggage of the Goethezeit« (S. 168) daran hindert.

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Wenn Sammons schließlich im Epilog Spielhagen und Raabe gegenüberstellt, markiert er eine letzte Ebene der Untersuchung: 1992 hatte er ein wichtiges Movens der Kanonisierung Raabes darin gesehen, dass es seinen Erzählern durch den Kunstgriff der artistischen Subjektivierung ihrer Perspektive möglich blieb, noch unter extremen Bedingungen ›ihren Humor‹ zu wahren, 3 auch jetzt beschreibt er Raabes Poetik als Elimination des dialektischen Verhältnisses von ›Finden und Erfinden‹ durch den Rückzug auf die Imagination und kommentiert dies mit »one of Raabe’s most often cited slogans: ›Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute!‹« (S. 311). Irritierender als die konstatierte zeitgenössische Affirmation des Wirklichkeitsverlusts bleibt für Sammons jedoch die Tatsache, dass die Literaturwissenschaft diesen Wertungen auch heute noch größtenteils folgt, dass sie häufig dazu tendiert, formale gegen inhaltliche Kriterien auszuspielen und lieber kritische Urteile als die literarischen Texte zu konsultieren.

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Konsequenterweise beschreibt Sammons zunächst die Romane und Erzählungen seines Autors, während die systematischen und historischen Interpretationen tief in die narrative Oberfläche der Untersuchung eingelassen bleiben. Sie finden sich meist in scheinbar beiläufigen, als personal markierten Bemerkungen von lakonischem und bisweilen bärbeißigem Charme, die dann allerdings keinen Zweifel über den Standpunkt des Autors und seine Position mehr zulassen. Flüchtigem ›Querlesen‹ steht dieser Stil im Wege – aber er bietet unvergleichlich mehr Genuss in entspannter (bürgerlicher?) Lektüre.



Anmerkungen

Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe. The Fiction of the Alternative Community. Princeton: Princeton UP 1987; J. L. S.: The Shifting Fortunes of Wilhelm Raabe. A History of Criticism as a Cautionary Tale. Columbia: Camden House 1992.   zurück
»In fact, it may be Spielhagen’s very violations of strict objectivity that rescue a degree of literary quality that the theory seems determined to strangle.« (S. 67)   zurück
»Once again humor is found where one least would expect it, in the bleakest of the novels with its victory of evil over good, in terms how urgent it was to find in literature a magic spell that would make the class conflict appear unreal.« (Sammons: The Shifting Fortunes, S. 11)   zurück