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Die Finalchiffre des deutschen Musenhofs?

Neues zu Anna-Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach

  • Joachim Berger: Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739-1807). Denk- und Handlungsräume einer »aufgeklärten« Herzogin. (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschung 4) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003. 679 S. 16 s/w Abb. Gebunden. EUR 65,00.
    ISBN: 3-8253-1516-9.
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Jahrzehntelang umkreiste die Frauenforschung die von Silvia Bovenschen formulierte »imaginierte Weiblichkeit« 1 vor dem Hintergrund einer Diskrepanz zwischen dem Selbst- und Fremdbild aufgeklärter Bürgerlichkeit. Fürstinnenforschung wiederum, so Wilhelms Haefs und Holger Zaunstöck in ihrem überzeugenden Forschungsüberblick Hof, Geschlecht und Kultur, blieb allzu lange eine Domäne der »Mediävistik und Frühneuzeitforschung« 2 , Neuansätze in der Literaturwissenschaft zur Perspektive auf das 18. Jahrhundert lieferten erst Studien und Monographien von Jörg-Jochen Berns, Anette Froesch, Helga Meise oder Bärbel Raschke. 3

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Die 2003 erschienene Untersuchung von Joachim Berger (eine in Jena im SFB 482 »Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800« bei dem Historiker Georg Schmidt entstandene Dissertation) versucht, den offenkundigen Forschungsdefiziten mit einem breiten interdisziplinären Konzept zu begegnen. Sie verknüpft, über eine Synthese vorliegender Forschungsergebnisse hinaus, grundlegende Fragestellungen der Kulturgeschichte zur Weimarer Klassik mit der Hofforschung und der Geschlechtergeschichte der Aufklärung an der ebenso exemplarischen wie prominenten Vita der Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach.

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Bergers Erkenntnisinteresse zielt darauf ab, die historiographische Panegyrik, die eine populäre Mythisierung und Verklärung der Regentin im 19. und 20. Jahrhundert nach sich zog, ebenso zu problematisieren wie die zähen »Klischees« von der Verbürgerlichung »hochadliger Frauen« (S. 34). In Abgrenzung zum »kulturalistischen Relativismus« der Postmoderne will Berger in seiner Studie »zentrale Denk- und Handlungsspielräume Anna Amalias beschreiben, ohne damit das gesamte Leben abzubilden« (S. 22). Im Zentrum steht neben der standesspezifischen Sozialisation von Anna Amalia und ihrer Rolle als Regentin jedoch die Frage nach der Funktion und Relevanz der selbst gewählten Rolle als Förderin der Künste, als engagierter Dilettantin und als aufgeklärter Landesmutter. Dabei geht es vor allem auch um die Spezifik einer Geselligkeitskultur, die seit jeher mit der im Bild überlieferten Tafelrunde gleichsam identifiziert wird und als Exempel aufgeklärter Differenzqualität ins Feld geführt wurde und immer noch wird. Ob ihre Affinität zur Empfindsamkeit allerdings mit dem »Modebewußtsein der Herzogin« (S. 601) identifiziert werden kann, müsste wohl noch sehr viel eingehender, vor allem im Vergleich zu anderen literaturbegeisterten Frauen des Hochadels im 18. Jahrhundert, analysiert werden. Signifikant ist zum Beispiel, dass sie ähnlich wie die empfindsame Charlotte Friederike Christiane zu Stolberg standesübergreifende Taufpatenschaften zu renommierten Autoren und ihren Familien befürwortet. Bewusst werden Werte wie Gleichberechtigung in den Konventionen, Moralität, Bildungsstreben und (individuelle) Glückseligkeit als Mittel der Selbstdarstellung und Distinktion funktionalisiert. Es kann keinen Zweifel geben, dass Anna Amalia das von der zeitgenössischen Publizistik stilisiert gezeichnete Bild der aufgeklärten Mäzenatin begrüßte und selbst auch gezielt förderte. Dabei wurde Gleichheit nicht im sozialen Sinn, sondern als gerechte Behandlung durch die Obrigkeit verstanden. Dieser Standesgrenzen relativierende, gewissermaßen leutselige Habitus basierte auf einer Identifizierung mit dem Wert- und Normenkodex des Hochadels, nicht auf einem durch egalitäre Ideen provozierten Rollenkonflikt. Wiederholt betont Berger, dass eine Verbürgerlichung der Lebensformen und der Weltdeutungsmuster im politisch relevanten Handeln und im gesellschaftlichen Bewusstsein und Selbstbild der Herzogin nur im Ansatz zu erkennen ist.

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Bergers magistrale Studie stützt sich auf eine ungewöhnlich breite Materialbasis, die erschlossen wird. Bereits das Verzeichnis der ungedruckten Quellen ist bemerkenswert lang; es listet knapp 30 Archive, Sammlungen und Bibliotheken auf, darunter auch ausländische Institutionen wie das Archivio Segreto Vaticano, das Archivio di Stato Napoli oder das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Die gesichteten und ausgewerteten Quellen sind zum Teil äußerst umfangreich, schon allein deshalb kann man von einer grundlegenden Untersuchung sprechen, der man den Rang eines Standardwerks zum Thema zusprechen muss, auch wenn, angesichts der Fülle des konsultierten Materials, es nicht ausbleiben konnte, dass die Autorschaft einzelner Autographen, etwa aus dem Niedersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel oder dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, nicht eindeutig zu klären war.

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Unter der Perspektive einer quellenorientierten, differenziert argumentierenden historischen Kulturwissenschaft bietet die Studie Bergers eine Fülle neuer Einsichten. Sie vermag das im Zuge jahrzehntelanger Klassikerverehrung stilisierte Bild Weimars als so genannter Finalchiffre des deutschen Musenhofs zu korrigieren. Auch wenn man sich partiell eine schärfere methodische Konturierung gewünscht hätte, ist die wissenschaftliche Relevanz dieser Untersuchung unbestreitbar: Jedes Forschungsvorhaben zum Thema wird in Zukunft von Joachim Bergers Buch über Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach ausgehen müssen.

 
 

Anmerkungen

Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt / M. 1979.   zurück
Vgl. Wilhelm Haefs, Holger Zaunstöck: Hof, Geschlecht und Kultur – Luise von Anhalt-Dessau und die Fürstinnen ihrer Zeit. Ein Forschungsaufriß. In: Das achtzehnte Jahrhundert 28, 2 (2004), S. 158.   zurück
Vgl. u.a. Jörg-Jochen Berns: Zur Frühgeschichte des deutschen Musenhofes oder Duodezabsolutismus als kulturelle Chance. In: Ders., Detlef Ignasiak (Hg.): Frühneuzeitliche Hofkultur in Hessen und Thüringen. Erlangen 1993. – Anette Froesch: Das Luisium bei Dessau. Gestalt und Funktion eines fürstlichen Landsitzes im Zeitalter der Empfindsamkeit. München, Berlin 2002. – Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624–1790. Darmstadt 2002. – Bärbel Raschke: Fürstinnenreisen im 18. Jahrhundert. Ein Problemaufriß am Beispiel der Rußlandreise Karolines von Hessen-Darmstadt. In: Joachim Rees, Winfried Siebers, Hilmar Tilgner (Hg.): Europareisen politisch-sozialer Eliten im 18. Jahrhundert. Theoretische Neuorientierung – kommunikative Praxis – Kultur- und Wissenstransfer. Berlin 2002, S. 183–207.   zurück