Michaela Schwegler

Frühneuzeitliche Flugblätter als Medien der Wissensvermittlung




  • Wolfgang Harms / Alfred Messerli: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700). Hg. in Verbindung mit Frieder von Ammon und Nikola von Merveldt. Basel: Schwabe & Co. 2002. 512 S. 56 s/w, 19 farb. Abb. Leinen. EUR 68,50.
    ISBN: 3-7965-1935-0.


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Ausgaben illustrierter Flugblätter
und ihre Bedeutung für die Forschung

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Nachdem bereits in den 1970er Jahren in New York zwei mehrbändige Ausgaben deutscher illustrierter Flugblätter, herausgegeben von Dorothy Alexander und Walter L. Strauss, erschienen sind, 1 begann Wolfgang Harms 1980 mit seiner kommentierten Publikation von Flugblättern. Zunächst erschienen drei Bände mit Beständen der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel sowie zwei Bände mit den Sammlungen der hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt. 1997 wurde dann der erste Band mit Flugblättern der Wickiana-Sammlung der Zentralbibliothek Zürich veröffentlicht.

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Während in den amerikanischen Ausgaben die Abbildungen der Flugblätter lediglich mit kurzen Bildunterschriften versehen sind, liefert Wolfgang Harms zu jedem Blatt eine ausführliche Beschreibung und historische Einbettung. Diese Kommentare sowie die Vollständigkeit der aufgenommenen Bestände machen den eigentlichen Mehrwert seiner Ausgabe gegenüber früheren Publikationen aus. Mit Hilfe seiner Erläuterungen erschließen sich dem Rezipienten die Bilder, und er erkennt deren historische Bedeutung.

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Doch nicht nur die Kommentare, sondern auch die Veröffentlichung der illustrierten Flugblätter selbst stellt für die Forschung eine wichtige Leistung dar. Denn da Flugblätter nur aus einzelnen Blättern bestehen, sind sie in Bibliotheken oft schlecht erschlossen und deshalb für den Wissenschaftler nur schwer aufzufinden. Solche Ausgaben wie die von Wolfgang Harms ermöglichen es dagegen, sich auf einfache Weise einen Überblick über den Flugblattbestand der jeweiligen Bibliothek beschaffen und diese in Reproduktion des Originals ansehen zu können.

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Aufgrund der besseren Erschließung der Flugblätter in den letzten Jahren ist auch die Forschung in diesem Bereich weit vorangeschritten. Es fanden bereits zahlreiche Tagungen zu dem Themengebiet statt, unter anderem eine 1999 im Centro Stefano Franscini bei Ascona, die sich vor allem der Bedeutung frühneuzeitlicher Flugblätter für die Wissens- und Wahrnehmungsgeschichte widmete. Der vorliegende Band faßt die wichtigsten Beiträge dieser Tagung zusammen, zu der die Initiative von Zürich ausging. Da erst kurz vorher der Wickiana-Band erschienen war, lag eine Zusammenarbeit mit den Herausgebern der Flugblattbände nahe. Neben den auf diesem Gebiet bereits renommierten Schweizer und deutschen Wissenschaftlern kommen in dem Band jedoch auch Nachwuchswissenschaftler zu Wort.

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Die Bedeutung des illustrierten Flugblatts
für die frühneuzeitliche Gesellschaft

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Die Beiträge der beiden Herausgeber, die den Anfang des Bandes bilden, führen allgemein in die Thematik ein. Wolfgang Harms untersucht in seinem Aufsatz (S. 11–21) die Bedeutung des illustrierten Flugblatts in Verständigungsprozessen innerhalb der frühneuzeitlichen Kultur. Am Beispiel von Wicks Nachrichtensammlung zeigt Harms auf, daß in der Frühen Neuzeit durchaus unterschiedliche Gattungen und Medien zum Einsatz kamen: »Die Affinität der Medien und bildlichen und verbalen Gattungen« könne »als ein unauflösliches Gewebe innerkultureller Verständigungen« betrachtet werden (S. 12). Thema der Tagung sei es deshalb gewesen, »über die Gegenstände der Wickiana hinaus zu fragen, wieweit das illustrierte Flugblatt an übergreifenden, das Interesse unterschiedlicher Schichten umfassenden Vorgängen einer Epoche teilhat« (S. 12). Das Besondere des illustrierten Flugblatts sei es, unterschiedliche Wissens- und Handlungsbereiche, verschiedene Bild- und Textgattungen sowie die unterschiedlichsten Deutungsmöglichkeiten zu kombinieren. Zugleich beschränke sich das Flugblatt in seiner Wahrnehmung jedoch auf einen konkreten Einzelfall.

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Die seit 1980 anlaufende kommentierende Erschließung der frühneuzeitlichen Flugblätter könne einen Beitrag dazu leisten, »Phänomene einer Kultur als eine vielschichtige Vernetzung von Bedeutungen zu verstehen« (S. 18), so Harms. Im Sinne von Cliffort Geertz’ »Dichter Beschreibung« ließen sich Flugblätter »als Träger und Zeugnisse der Kultursemiotik oder der Bedeutungsstruktur ihrer Epoche ansehen« (S. 19). Ihre Erforschung sei deshalb vorrangig Aufgabe der Kulturwissenschaft.

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Mit der Frage »War das illustrierte Flugblatt ein Massenlesestoff?« überschreibt Alfred Messerli seine Einführung in den Sammelband (S. 23–31). Während man früher der Auffassung gewesen sei, es handle sich beim Flugblatt um ein populäres Medium für untere Volksschichten, sei man dank der kommentierten Editionen, welche die gesamte Bandbreite des Mediums offenlegten, zu neuen Erkenntnissen gelangt. So müsse man laut Messerli auch die Bedeutung der Bilder auf den Flugblättern neu definieren. Ihre Funktion »war die eines Lesestimulus, einer zusätzlichen Lesemotivierung und Einstimmung auf den Text, einer auch inhaltlichen Akzentuierung und einer Gedächtnisstütze« (S. 28), nicht einfach eines Analogons zum Text für Analphabeten. Die Bilder waren mehrdeutig und lenkten bewußt den Blick des Betrachters.

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Die Vorstellung vom Flugblatt als populärem Medium sei jedoch nicht nur hinsichtlich der Rezeption, sondern auch der Produktion zu revidieren. Die Bilder »setzen ein hohes Maß von Vertrautheit der Rezipienten mit diesem Medium voraus« (S. 31), waren also eng mit der Lesekompetenz verknüpft. Deshalb sei »die Kommunikation gedruckter Lesestoffe [...] in den größeren kommunikativen Kontext von mündlicher Kommunikation, visueller Kommunikation und Aktion als Kommunikation zu stellen« (S. 31).

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Wissens- und Wahrnehmungsdiskurs
im frühneuzeitlichen Flugblatt

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Diesen beiden einführenden Beiträgen zur Bedeutung des Flugblatts in der Frühen Neuzeit im allgemeinen folgen 15 kleinere Aufsätze zu speziellen Einzelaspekten. Nach jedem Beitrag ist ein kurzes Protokoll der Diskussion, die sich an den jeweiligen Vortrag angeschlossen hat, abgedruckt. Innerhalb der meisten Texte finden sich Abbildungen einzelner besprochener Flugblätter.

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Die Aufsätze behandeln folgende Themen: Flugblätter in Krisenzeiten, das Zusammenwirken von Bild und Text, Landsknechtflugblätter, Karikaturen, Fremdheitsstereotypen, das Verhältnis von Franzosen und Türken, Wicks Chronik, das Nordlicht vom 28.12.1560, botanische Flugblätter, Beglaubigung außergewöhnlicher Nachrichten, Textelemente des Briefes, der Mordfall Diaz von 1546, die Popularisierung des schweizerischen Vaterlandgedankens, Flugblätter aus dem Dreißigjährigen Krieg sowie die Darstellung von Straftaten auf Flugblättern.

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Alle Autoren legten ihren Untersuchungen ein kleines Quellenkorpus frühneuzeitlicher illustrierter Flugblätter zugrunde, die sich speziell mit dem ausgewählten Thema beschäftigen. Diese werden jeweils eindrücklich vorgestellt, in Text und Bild eingehend analysiert und miteinander verglichen. Schließlich werden Folgerungen abgeleitet, die neue Aspekte in die Erforschung der Flugblätter einbringen und zugleich weitere Forschungsdesiderate aufwerfen.

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So kommt beispielsweise Michael Schilling zu dem Schluß, »dass Flugschriften und -blätter ein frühneuzeitliches Krisengefühl nicht nur indizierten, sondern wesentlich auch auslösten und trugen. Es bleibt aber zu untersuchen, in welchem Verhältnis das Tagesschrifttum zu historisch verifizierbaren Krisen stand« (S. 45). 2

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Horst Wenzel bezeichnet in seinem Beitrag »das Zusammenwirken von Text und Bild im illustrierten Flugblatt als die Vorgeschichte audiovisueller Medien«, wobei »die Zahl als grundlegende Matrix für das Zusammenwirken von Text und Bild fungiert« (S. 77).

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Und Barbara Bauer resümiert bezüglich Wicks Sammlung himmelskundlicher Flugblätter: Diese erweise sich »als Spiegel einer Verunsicherung, die durch die unübersichtliche konfessionelle und politische Lage bedingt war« (S. 234).

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Wick und seine Korrespondenten präsentieren sich im Spiegel ihrer Wunderzeichenberichte als Leser, die ziemlich genau dem Bild des Rezipienten entsprechen, welchen die Einblattdrucke ansprechen. Untypisch ist allerdings ihre Ablehnung astrologisch begründeter Prognosen, mit denen sich die Kalenderautoren in lutherischen Territorien unter Berufung auf Melanchthons theologische Deutungstheorie hervortaten. (S. 236)
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Fazit und Bewertung

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Mit dieser Untersuchung zu Wicks Nachrichtensammlung schließt sich – auch wenn es sich hier nicht um den letzten Beitrag des Bandes, sondern einen zufällig herausgegriffenen handelt – der Kreis zu der anfangs erwähnten großen Bedeutung, welche den kommentierten Editionen frühneuzeitlicher Flugblätter zukommt. Denn diese erleichtern es, die Quellenlage von Flugblättern zu bestimmten Themenbereichen, wie beispielsweise im vorliegenden Fall den Himmelserscheinungen auf Flugblättern aus Wicks Sammlung, zu überblicken und Untersuchungen zu konkreten Einzelthemen vorzunehmen, wie dies im vorliegenden Band geschieht.

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Die Beiträge des Bandes sind ein sehr gutes Beispiel dafür, wie vielfältig das Medium Flugblatt in der Frühen Neuzeit war. Sie verdeutlichen, daß noch viele Aspekte bisher von der Forschung zu wenig berücksichtigt wurden und daß das Flugblatt eine ganz wesentliche Quelle für die Erforschung der Frühen Neuzeit darstellt. Es kann Einblicke in die unterschiedlichsten Bereiche der frühneuzeitlichen Gesellschaft geben: in Religion und Aberglaube, in Politik und Wirtschaft, in Gesellschaft und Kultur.

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Bemerkenswert ist, daß in dem Tagungsband die renommiertesten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Flugblattforschung zu Wort kommen, aber auch Nachwuchswissenschaftler miteinbezogen wurden. Abgerundet werden die durchwegs gut zu lesenden Beiträge durch Abbildungen einzelner Flugblätter, Diskussionsprotokolle sowie ein ausführliches Personen- und Sachregister am Ende des Bandes.


Dr. Michaela Schwegler
Bayerische Staatsbibliothek
Ludwigstr. 16
DE - 80539 München

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Ins Netz gestellt am 30.10.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Michaela Schwegler: Frühneuzeitliche Flugblätter als Medien der Wissensvermittlung. (Rezension über: Wolfgang Harms / Alfred Messerli: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700). Hg. in Verbindung mit Frieder von Ammon und Nikola von Merveldt. Basel: Schwabe & Co. 2002.)
In: IASLonline [30.10.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1041>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Alexander, Dorothy (Hg.): The German Single-Leaf Woodcut. 1600–1700. 2 Bände. In Zusammenarbeit mit Walter L. Strauss. New York 1972; Strauss, Walter L. (Hg.): The German Single-Leaf Woodcut. 1550–1600. 3 Bände. New York 1975.   zurück
Die frühneuzeitliche Krisenforschung gewann in den letzten Jahren verstärkt an Interesse. Beispiel dafür ist eine Tagung, deren Vorträge 2003 in einem Band veröffentlicht wurden (Manfred Jakobowski-Tiessen / Hartmut Lehmann (Hg.): Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 2003).   zurück