Christian Sinn

Einführung als Übersetzung




  • Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung. 2. unveränd. Aufl. Hamburg: Junius 2004. 162 S. Kartoniert. EUR 11,50.
    ISBN: 3-88506-373-5.


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Gegenstand der Einführung:
Vier zentrale Arbeitsfelder Benjamins

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Sven Kramer stellt in seiner Einführung vier von der gegenwärtigen Diskursformation der Kulturwissenschaften aus gesehen recht unterschiedliche Arbeitsfelder Walter Benjamins vor:

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1. Die Sprachtheorie Benjamins (S. 13–40), in der, wie im Vorwort Die Aufgabe des Übersetzers (1923) zu den Baudelaire-Übertragungen der Tableaux parisiens, die Differenz zwischen Original und Übersetzung, Objekt- und Metasprache gelegentlich aufgehoben scheint. Sie stieß in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die Rezeption Paul de Mans auf ein reges Interesse in den literaturwissenschaftlichen Methodenreflexionen.

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2. Die Ästhetik Benjamins (S. 41–66), die sich als Auseinandersetzung mit dem Erhabenen deuten lässt, deren Rezeption aber durch ihre folgenreiche wie wirkungsgeschichtlich belastete Rehabilitierung der Allegorie gegenüber dem Symbol so sehr bestimmt wird, dass Benjamin unterstellt wird, er habe sich generell »vom Symbolischen« (S. 54) abgewendet.

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3. Die Medienpraxis und Medientheorie Benjamins (S. 67–102), die sich im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Diskursen in der »Zwickmühle zwischen intellektuellem Anspruch und populärer Aufbereitung« (S. 67) befindet und deren Leistung eben darin besteht, dass sie dennoch das »intellektuelle[n] Niveau« (S. 67) zu wahren weiß.

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4. Schließlich die Geschichtstheorie Benjamins (S. 103–135) mit ihrem nach wie vor ebenso faszinierenden wie enigmatischen Passagen-Werk (1927–1940), das durch sein »kombinatorisches Verfahren, das als prinzipiell offen und tendenziell unabschließbar gelten muss« (S. 105), sich von vornherein philosophischer Domestizierung entzieht, wie sie etwa Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Benjamin versuchte.

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Das Darstellungsproblem
einer Einführung in Benjamin

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In einer knappen Einleitung entwirft Kramer mit einer Notiz aus der Berliner Kindheit um 1900 (1934 / 38 posthum) seine eigene, paradox anmutende Darstellung, mit der er sich diesen vier Arbeitsfeldern und den in ihnen entstandenen Texten annähert: »›Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.‹ (VII, 393)« (S. 7). Die Einsicht, dass der Überblick gerade verloren gehen muss, sollen »Erfahrungen freigesetzt werden« (S. 7), verführt nun Kramer aber nicht zu einer Darstellung, die Benjamins ›Unordnung‹ erneut reproduzierte. Aus der Problemgeschichte der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen magischen Sprachtheorie Johann Georg Hamanns, ihrer Fortführung durch die Frühromantik und Rezeption durch Benjamin entwickelt er vielmehr ganz im Sinne dieser Tradition die These, dass »die Erfahrung einer Sprachdimension jenseits der prädikativen Mitteilung« (S. 16) sich zwar mit Mystik und Magie vergleichen lasse, die Rede über diesen Zusammenhang aber darum noch nicht selbst magisch werden müsse. Die Analyse der nicht-prädikativen Dimensionen der Sprache muss also keineswegs das nur rekapitulieren, was in ihr nicht darstellbar ist und unsagbar zu sein scheint. Es gibt auch unter Rekurs auf Benjamins Übersetzungsbegriff die Möglichkeit, im Konflikt zwischen prädikativen und nichtprädikativen Sprachdimensionen auf metatheoretische Fundierungsversuche von vornherein zu verzichten und statt dessen verschiedene Lösungsstrategien »je nach den Anforderungen konkret anliegender Projekte« (S. 22) zu entwickeln. Diese Lösungsstrategien stellt nun Kramer im folgenden vor.

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Sprachtheorie

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Zur Erschließung der Sprachtheorie Benjamins stellt Kramer im zweiten Kapitel seiner Einführung einen – letztlich für alle vier Arbeitsfelder maßgeblichen – Begriff der Übersetzung, der »weitgehend vom Gemeinten absieht und sich der Art des Meinens zuwendet« (S. 27). Die Anwendung dieses Übersetzungsbegriffes auf Benjamin selbst führt Kramer zunächst dazu, parallelisierende Interpretationen sehr unterschiedlicher Texte wie der Vorrede Die Aufgabe des Übersetzers (1923) und der Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) mit dem Ziel zu unternehmen, das Benjamins Werk zugrundeliegende sprachtheoretische Substrat zu entziffern:

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Allerdings kann keine Rede davon sein, dass er sich von seinen frühen [metaphysischen] Gedanken distanziert hätte; er transformierte sie nur. Dabei blieb das theologisch-messianische Moment untergründig bis ins Spätwerk hinein erhalten und trat in eine produktive Spannung zum materialistischen. (S. 27 f.)
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Unter dem Transformationsaspekt identifiziert Kramer auch die stark von einander differierenden ›Fassungen‹ Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen von 1933 als Verwandtschaftsstruktur, die durch eben jene »mimetische Begabung« (II, 209) organisiert wird, von der Benjamin in diesen Texten selbst spricht.

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Ausgehend von Winfried Menninghaus’ Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie 1 diagnostiziert Kramer, dass die Magie der Sprache, »zwar als eigenständiges Medium einer irrationalen Weltsicht ausgedient hat, aber als Transformierte in die Funktionsweise der Sprache selbst eingewandert ist. So haftet am Semiotischen der Sprache bis heute das Magische« (S. 34). Damit ist ein erstes verbindliches Resultat formuliert: Von Magie im Sinne einer Selbstrepräsentation der Sprache kann zwar nicht (mehr) gesprochen werden, dafür aber lassen sich die historischen Gründe analysieren, warum dem so ist und aufgrund dieser Historizität der Sprache ist auch weiter die Einsicht nachvollziehbar: »Sprache, die zu wesentlichen Teilen unsere Auffassung von der Welt mitproduziert, kann nicht in die Ratio aufgelöst, sondern muss in ihrer Medialität erfahren werden« (S. 34).

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Ästhetik

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Geht man von dieser Reflexion aus, dann scheint sie die folgenden Kapitel zu generieren, so dass dem Leser nicht nur vier verschiedene Aspekte Walter Benjamins offeriert werden, sondern ihm die Einheit eines Denkens erkennbar wird, das sich ausgehend von der grundlegenden Einsicht in die historische Medialität der Sprache der Ästhetik geradezu zuwenden muss, lassen sich doch hier die Gründe für diese Einsicht herausarbeiten: »Benjamin nimmt in Anspruch, dass ›die Allegorie, sowenig wie viele andere Ausdrucksformen [...] durch ›Veralten‹ nicht schlechtweg um ihre Bedeutung gekommen‹ (I, 337) sei« (S. 54). Den Beweis hierfür tritt er zwar laut Kramer »in der Folge überzeugend an« (S. 54). Da sich aber für Benjamin »die Erkenntnis eines Phänomens nicht von der Art der Reflexion auf es ablösen« (S. 60) lässt, erzeugt er ein Textgewebe, das dem Beweis gerade entgegengestellt wird, weil er auf die nichtprädikative Dimension der Sprache als Ausdruck im Jenseits des philosophisch dominierten Zeichensystems Sprache als Konvention verweist. Dieser Verweis kann also per definitionem kein Beweis sein, eine Differenz, die Kramer nicht weiter berücksichtigt, da sie vielleicht zu sehr an seinen eigenen perfomativen Widerspruch rührt, wie er in klaren und deutlichen Worten den eigentümlichen Sinn Benjamins übersetzen kann, der sich solcher Klarheit gerade zu entziehen versucht. Dieser Widerspruch scheint für jede Einführung zu Benjamin unumgänglich zu sein und ist daher auch nicht dem Verfasser anzulasten. Immerhin kann seine leserfreundliche Darstellung dem Leser einsichtig machen, wie Benjamin durch Verweisstrukturen die philosophische Diskursmacht wenn nicht usurpiert, so doch zumindest ihr Sprachsystem subvertiert.

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Medienpraxis, Medientheorie

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Sinnfälliger als in der Ästhetik wird dies im vierten Kapitel über Medienpraxis und Medientheorie, in dem Kramer selbst einen positiv zu verstehenden »Essayismus in Bildern« (S. 69) betreibt und die Umcodierung der Aura, die einst als Vorbild für das Heilige diente, in die Reproduzierbarkeit darstellt, wenn das Porträt der reproduzierbaren Fotografie »nicht in erster Linie als Artefakt, sondern gleichsam als beseelt wahrgenommen [wird], [...] So tauchen in der allerjüngsten, innovativsten Technik überwunden geglaubte, magische Anschauungsweisen wieder auf« (S. 88 f.).

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Sehr viel programmatischer als in den ersten beiden Kapiteln über Sprachtheorie und Ästhetik arbeitet Kramer in den letzten beiden mit dem Aspekt des Sozialen in seiner Bedeutung für Benjamins Schreiben. Das Resultat ist eine Art Angabe der Didaxe Benjamins, die ihre Überzeugungskraft durch Analysen jener Texte gewinnt, mit denen Benjamin den Glauben zerstört, es gebe eine inszenierungsfreie Wirklichkeit, deren Dokumentation sich zudem passiv konsumieren lasse. »Position und Gegenposition« (S. 84) prägen diese Didaxe, angefangen von der Form des Hörmodells für Erwachsene über Hörspiele bis hin zu medientheoretischen und mediengeschichtlichen Reflexionen. Diese Fortschreibungen liest Kramer auf den Begriff der »Montage« (S. 100) hin, der von Benjamin aus didaktischem Interesse heraus so emphatisch verwendet wird, dass er mitunter die Wahrnehmungsrestriktionen, die Montage durchaus auch erzeugen kann, nicht weiter reflektiert.

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Geschichtstheorie

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Von diesem emphatischen Montage-Verständnis aus zeigt sich aber auch noch das Passagen-Werk (1927–1940) als Inszenierung der Unmöglichkeit eines einsinnigen hermeneutischen Zugriffs, die den impliziten Rezipienten des Textes durch den gezielten Einsatz von Zitaten, Kommentaren, Gedankensplittern über jene Schwelle, die ihn auf das imaginäre Substrat, ›Erinnerung‹, zurückverweist, das im Zentrum der Geschichtstheorie Benjamins steht. Dieses Substrat wird in Benjamins medienästhetischer Praxis im Kontinuum von Traum und Erwachen positioniert und legitimiert: »Denn ohne das Interesse daran, dass das Zusammenleben der Menschen – um es ganz basal auszudrücken – glücklicher werden müsste, wäre die Beschäftigung mit der Vergangenheit Zeitvergeudung« (S. 122). Kramer liest die »umwertende Aneignung der Vergangenheiten im Erwachen« (S. 122), die Benjamin mit der Traumdeutung der Psychoanalyse parallelisiert als Auseinandersetzung vor allem mit Adorno und schaltet daher ein eigenes Unterkapitel, »Adorno und die Dialektik« (S. 124–130) ein, das zu den spannendsten und für eine Einführung in Benjamin auch aufschlussreichsten Passagen gehört. So schreibt Benjamin am 9.12.1938 an Adorno: »Wenn Sie von einer ›staunenden Darstellung der Faktizität‹ sprechen, so charakterisieren Sie die echt philologische Haltung [...]«(zit bei Kramer S. 126).

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Benjamins Ringen um eine »echt philologische Haltung« stellt Kramer Adornos philosophische Interpretation der Geschichte als jene Folie gegenüber, vor der diese Haltung in ihrer ganzen Problematik sichtbar wird: In Adornos Dialektik erkennt Kramer sowohl die Depotenzierung der Philologie als auch die autokratischen Elemente von Adornos theoretischem Selbstverständnis als Bestandteile einer Geschichtsauffassung, die sich nur noch aus ihrem theoretischen Selbstbezug und nicht mehr aus der »›staunenden Darstellung der Faktizität‹« (S. 126) speist.

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Aufbegehrend gegen diese philosophisch privilegierte Autonomie münde Benjamins Verfahren »nicht in ein Resultat der Theorie, sondern in eine Lektüre. Theorie produziert ein Wissen, Lektüre eine Erfahrung. In letzter Instanz geht es Benjamin weniger darum, Erkenntnisse zu vermitteln, als durch Texte Erfahrungen anzuregen« (S. 127). Benjamins Auseinandersetzung mit Marx, auf die Kramer anschließend verweist, zielt gegenüber der Deutung Adornos, die Marx’ Analyse als Konsumierung des Tauschwertes und das Verdrängen des Gebrauchswertes deutet, auf die Erkenntnis jener historisch gewordenen psychischen Dispositionen, aufgrund derer die Ware erst zum Fetisch wird. Statt der autoritär verfassten Theorie Adornos erlaubt sich Benjamin ein wahrhaft dialektisches Spiel mit der Geschichte, in dem er sich in seinem Passagen-Werk Rezipienten erzeugt, die imaginäre Mitspieler sind und denen ein Handeln zugemutet wird, »was dem Engel der Geschichte versagt bleibt: eine Unterbrechung des katastrophischen Geschichtsverlaufs« (S. 133). Statt zu einem stabilen philosophischen Begriffsgefüge zu gelangen, so fasst Kramer schließlich zusammen, gruppiert Benjamin »die gedankliche Konstellation in seinem letzten Text um die Extreme der überwältigenden Gefahr und des rettenden Handelns. Gezwungenermaßen polarisiert und radikalisiert er sein Denken« (S. 134).

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Frage nach der Vernetzung
der vier Arbeitsfelder im Werk Benjamins

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Benjamins »methodologisches Prinzip des Abschreitens der Extreme hat er im Trauerspiel-Buch sowie in zahlreichen seiner Essays selbst umgesetzt. Seine Arbeiten sind nicht deduktiv oder vergleichend aufgebaut. Sie verfolgen nicht eine Argumentation von A bis Z, sondern schreiten den Kreis der Besonderheiten ab und zeichnen auf diese Weise eine Figur nach« (S. 63), – mit diesem Satz gibt Kramer einen Ausgangspunkt an, der aus dem Kontrast der vier Diskurse zugleich ihre Verwandtschaft untereinander erweist. Ist die Lösungsstrategie, die Benjamin im Umgang mit der Geschichte wie in seiner Medientheorie für sein Schreiben entwickelt, eine andere – die Positivierung jener Differenz zwischen prädikativen und nicht-prädikativen Sprachdimensionen, denen sich seine Sprachtheorie und Ästhetik gerade zu entziehen versucht –, so ist die Problematik, mit dem Zwangscharakter dieser Differenz überhaupt umgehen zu müssen in allen vier Diskursen omnipräsent. Im Falle der Geschichtstheorie allerdings prägt sie sich von vornherein im Konflikt zwischen der philosophischen Dialektik, verkörpert durch Adorno, auf der einen und der »›staunenden Darstellung der Faktizität‹«, der »echt philologischen Haltung« (S. 126) aus, die so zu erinnern versucht, dass die »Durcharbeitung der Vergangenheit zur unendlichen Aufgabe erklärt« (S. 112) wird, denn: »›Das Vergessene [...] ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer neuen Ausgeburten ein [...]‹(II, 430)« (S. 112).

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Von hier aus ließe sich mit Kramer Benjamins Werk im weiteren Sinne als Lösung eines produktionsästhetischen Konflikts deuten, dessen latente Struktur in der Auseinandersetzung mit Adorno manifest wird: In dessen Texten wird die Geschichte der Philosophie verfügbar gemacht, gleichsam zugerichtet, systematisch unterjocht und damit um ihre eigene diskontinuierliche Identität gebracht, so dass Philosophie auch als negative Dialektik Geschichte als Herrschaftsgeschichte fortschreibt. So gelesen ist vor allem das Passagen-Werk die Geschichte eines letztlich sozialen Konflikts zwischen der paradoxen archäologischen Suche nach einem zukünftigen handelnden Kollektiv und der – diese Suche erst ermöglichenden – Usurpation der philosophischen Position. Diese Geschichte erzeugt sich erst ihren ›Autor‹ Benjamin als Hybrid aus dessen Dekonstruktion des philosophischen Fortschrittsdenkens und seiner eigenen Schwellenerfahrung zwischen Schlafen und Wachen. Dieser Hybrid ist zwar dem von Kramer eingangs genannten Bezug von prädikativen und nicht-prädikativen Sprachdimensionen strukturell analog, scheint aber doch von ungleich größerer Radikalität zu sein: Denn die von Benjamin anvisierte »echt philologische Haltung« (S. 126) lässt sich eben nicht wie noch in Sprachtheorie und Ästhetik als Leibnizianische »Monade« (S. 66) aktualisieren, sondern geht von einer grundsätzlichen Dualität aus, die immer wieder zur Sprache kommt, damit aber auch die Gestalt eines Werkes prägt, das der philosophischen Depotenzierung von Philologie und Geschichte Erinnerungen entgegenzusetzen versucht. Das »Abschreiten der Extreme« (S. 63) realisiert sich in Benjamins Produktionsästhetik daher nicht nur als verweisende Beschreibung des Unsagbaren, sondern auch als Auflösung etablierter philosophischer Konstruktionen und Evokation neuer Bilder. So erst erfüllte sich auch zu Anfang von Kramer zitierte Diktum Benjamins, wie man sich methodisch geschult verirren kann.

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Fazit und Kritik

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Kramers »Rundgang bis an diese Schwelle, an der die Forschung produktiv vergessen werden darf« (S. 7 f.), sein Versuch, der Paradoxie gerecht zu werden, verständlich zum Unverständlichen hinzuführen, kann als gelungen bezeichnet werden. Die Untiefen, in die seine paraphrasierende Sprache auf den ersten Blick hin abzudriften scheint, werden von ihm nicht so sehr vermieden als für Benjamin-Unkundige, zu denen sich auch der Rezensent zählen darf, produktiv genutzt: Provoziert die Gruppierung von vier heterogenen Diskursen allein schon dadurch, dass sie durch den Begriff eines auktorial zu verstehenden Autors zusammengehalten werden, den Benjamin (s.o.) selbst schon verabschiedet hatte, so beweist Kramers Einführung, dass diese Diskursgruppierung durch sachliche Gemeinsamkeiten gedeckt ist; droht ein Instrumentarium von Paraphrasen und allzu klaren systematischen Unterscheidungen gerade ins Gegenteil dessen umzuschlagen, was Benjamins Diktum eingangs versprach, methodisch gelenkte Verirrung, so gelingt es Kramer dieses Instrumentarium problemorientiert so einzusetzen, dass wenn nicht Erfahrungen, so doch Erkenntnisse freigesetzt werden. Scheint seine programmatische Engführung von semiotischen und magischen Elementen der Sprache die Interpretation in die erschreckende Nähe zu einer Mimesis an Benjamin rücken zu wollen, so liegt doch der unbestreitbare Vorzug dieser Einführung darin, dass sie nicht benjaminitisch über Benjamin spricht.

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Kritisch anzumerken ist allenfalls, dass der Zentralbegriff der Übersetzung zwar im Verlauf der Untersuchung durchaus überzeugend selbst eingelöst wird, am Anfang aber durch den Rekurs auf das missverständliche »›Ideal aller Übersetzung‹« (IV, 21), die Interlinearversion des heiligen Textes in seiner Ambiguität erst gar nicht erkennbar wird; hilfreich wäre dabei eine Einbindung (des im ausführlichen Literaturverzeichnis interessanterweise nicht angeführten Textes) von Jaques Derrida: Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, der sich im Sammelband Übersetzung und Dekonstruktion 2 von Alfred Hirsch findet (und im Literaturverzeichnis durchaus erscheint). Kramer (S. 26) weist nur auf den ebenfalls im Sammelband von Hirsch publizierten Text von Paul de Man Schlußfolgerungen: Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers« (S. 182–228), nicht aber auf Derridas These (v.a. S. 131) der performativ hergestellten Anweisung der Übersetzung und des Übersetzers auf einen Un-Ort. Hierdurch aber hätte sich der Verzicht Benjamins auf eine metatheoretische Fundierung noch schärfer pointieren und auch begründen lassen. In diesem Zusammenhang ist es auch ein wenig schade, dass Kramer das zumindest im Kapitel über die Medientheorie im Zusammenhang mit der Fotografie gebrachte Paradigma der Inszenierung (S. 89) nicht weiter thematisiert und auf die Medienpraxis Benjamins selbst zurückbezogen hat.

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Ebenfalls bedauerlich ist, dass jene intertextuellen Beziehungen vernachlässigt werden, die für Kramers eigene Argumentation und Darstellung relevant wären: Wenn etwa Siegfried Kracauer in seinen Rezensionen Benjamins das monadologische Verfahren Benjamins als Gegenposition zum philosophischen System herausstellt, so hätte dies im Kontext von Kramers interessanter Darstellung der Auseinandersetzung mit Adorno für die Reflexion der Vernetzung der vier Diskurse fruchtbar gemacht werden können. Denn da Kracauers Monadenbegriff nicht ›leibnizianisch‹ wie der Kramers (S. 66) operiert, ließe er sich auf die oben angedeutete dualistische Konzeption in der Geschichtstheorie Benjamins anwenden. Erst dann könnte man auch im Sinne der Kramerschen Argumentation von einer echten Transformation im Werk Benjamins sprechen.

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Diese ›Mängel‹ sind keine, denn sie scheinen konstitutiv für das Design einer bündigen Einführung zu sein und sollen daher auch nicht beckmesserisch eingeklagt werden; vielmehr überwiegen die Verdienste dieser Einführung bei weitem: Differenzierte Lektüre und argumentative Klarheit eröffnen dem Benjamin-Unkundigen einen gangbaren Weg – die Arbeit des Selbst-Lesens muss ein richtiger Leser ohnehin schon selbst auf sich nehmen: Denn erst die durch eigene Lektüre erzeugte Erfahrung »überschreitet das Kanonisierte und knüpft an die gelebte Wirklichkeit der Individuen an.« (S. 7). Es ist nicht das geringste Verdienst dieser Einführung, dass sie dem Leser nicht suggeriert, sie könne ihm dieses Überschreiten abnehmen.


Prof. Dr. Christian Sinn
Universität Konstanz
Geisteswissenschaftliche Sektion
Fachbereich Literaturwissenschaft
Universitätsstraße 10
DE - 78434 Konstanz

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Ins Netz gestellt am 02.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Uwe Steiner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Christian Sinn: Einführung als Übersetzung. (Rezension über: Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung. 2. unveränd. Aufl. Hamburg: Junius 2004.)
In: IASLonline [02.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1052>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt / M: Suhrkamp 1980.   zurück
Alfred Hirsch: Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt / M: Suhrkamp 1997, S. 119–165.   zurück