Sylvia Mieszkowski

Barocker Wi(e)der-Sinn der zeitgenössischen Kunst




  • Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History. Chicago, London: The University of Chicago Press 2001. 328 S. 62 farb. Abb. Kartoniert. EUR 25,50.
    ISBN: 0-226-03557-3.


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Kunst denkt

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Mieke Bal hat nicht nur eine Theorie der ›wandernden Begriffe‹ vorgelegt, sondern sie bewegt sich seit Jahren auch selbst – ständig, lustvoll und aus Überzeugung – zwischen verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Mit Quoting Caravaggio ist sie, aus Anlaß der im wahrsten Sinne des Wortes viel-fältigen postmodernen Begeisterung für den Barock, in Sachen Kunst unterwegs. Die Hauptthese, die in acht Kapiteln immer wieder, dabei aber immer anders entfaltet wird, ist einfach, aber tiefgreifend: »Art thinks« (S. 9).

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Einer der zentralen Ankertexte für Quoting Caravaggio ist Gilles Deleuzes Die Falte. In diesem Buch zu Philosophie und Ästhetik des Barock wird das von G.W. Leibniz nicht-oppositiv gedachte Verhältnis des ›Klaren‹ zum ›Dunklen‹ mit dem Begriff des ›Helldunkel‹ gefaßt. 1 Analog hierzu hebt Bals Formel ›Kunst denkt‹ die Opposition zwischen theory einerseits und kreativer Praxis andererseits kategorisch auf. Künstlerische Arbeiten werden so zu Objekten erhoben, die Kulturgeschichte theoretisieren. Kunst selbst ist damit zu einer Form der Kulturphilosophie ausgerufen, die dort greift, wo sich die traditionelle Philosophie nicht (mehr) zuständig fühlt. Dieser Punkt ist erreicht, wenn Gemälde, Projektionen, Skulpturen, Photographien oder Installationen an Stelle von philosophischen Texten als Medien für den Ideentransport fungieren. Er ist auch erreicht, wenn es um Ideen geht, »whose context or frame, or basic presuppositions and premises, have long been obsolete« (S. 22). So ›denkt‹ Kunst laut Bal dort, wo Ideen trotz ihrer Unhaltbarkeit im Faktischen – vergleichbar mit Leibniz’ möglichen Welten – weiterhin, und zwar in der künstlerischen Arbeit, insistieren.

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Visuelle Intertextualität
als ›Wi(e)dersinnige Geschichte‹

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Als Terminus taucht »preposterous history« zum ersten Mal im Untertitel von Quoting Caravaggio auf und bedarf einer kurzen Erklärung. »Preposterous«, verrät das Wörterbuch, heißt soviel wie ›absurd‹ oder ›unsinnig‹. Bal aber bezeichnet mit »preposterous history« eine Denkbewegung der Umkehrung, die das chronologisch Frühere (›pre‹) als einen Effekt des zeitlich Späteren (›post‹) betrachtet. Um diese beiden Bedeutungen wenigstens ansatzweise zu transportieren, möchte ich eine Übersetzung dieses als »way of doing history« (S. 7) zu verstehenden Konzepts als ›wi(e)dersinnige Geschichte‹ vorschlagen. Denn es geht hier um eine Wiederholung, die auch eine Form der Sinnproduktion ist, der eine temporale und gleichzeitig eine semantische Gegenläufigkeit innewohnt.

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Das Ganze beruht auf einem Begriffsimport aus der Literaturwissenschaft in die semiotisch orientierte, d.h. an der Zeichenhaftigkeit von Bildern interessierte, Kunstgeschichte. Quoting Caravaggio ist eine Umsetzung jener Implikationen, die Intertextualität in ihrer radikalen, nicht-verflachten Variante mit sich bringt. Der ›Feind‹ wird klar markiert: Es geht gegen jene Vertreter der Kunstgeschichte, die entweder ältere Werke als bloße ›Quellen‹ für neuere Arbeiten sehen oder die die in umgekehrter Richtung verlaufende Transformation früherer Arbeiten durch spätere leugnen. Dabei sollten, so der Appell, Kunstwerke gleichzeitig als Verkörperungen von historisch spezifischen Einstellungen (›attitudes‹) und als »theoretical objects« ernstgenommen werden. Als Objekte also, die Ideen – über Raumkomposition, über Farbe, Licht, die Darstellung von Zeitlichkeit oder die Formung von Identität unter dem Einfluß kultureller Diskurse – Ausdruck verleihen.

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Barock im postmodernen Zitat

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Wenn in diesem Buch das Adjektiv ›barock‹ auftaucht, dann ist weniger ein bestimmter Stil gemeint als vielmehr eine Perspektive, nämlich die der ambivalenten Relationalität. Denn das zeitgenössische Interesse an der historischen Epoche des Barock und an ›barocken‹ Darstellungstechniken, so Bals These, bezieht sich vor allem auf eine spezifische Form des Sehens (»vision«) beziehungsweise des Denkens: eine Oszillation zwischen Subjekt und Objekt des Betrachtens, die den Status beider entscheidend verändert.

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Exemplifiziert wird das an Strukturen wie der Falte oder dem Labyrinth, an Phänomenen wie dem Wechsel zwischen mikroskopischer und makroskopischer Perspektive, an Effekten wie der Auflösung der Grenze zwischen Visuellem und Verbalem, an Kuriosita wie dem optischen Kippen von Zwei- in Dreidimensionalität oder dem ›ungezogenen‹ Detail, das, einmal wahrgenommen, das ganze Bild auf unheimliche Weise dominiert. Diese Beispiele werden einerseits als barocke Motive, andererseits aber auch als Elemente visueller Diskurse vorgestellt, in denen sich das ›Denken‹ der künstlerischen Arbeiten manifestiert.

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Die visuellen, über Zitation organisierten Dialoge, auf die Bal sich konzentriert, finden zwischen elf Caravaggio-Gemälden und verschiedenen Arbeiten von Ken Aptekar, Jeanette Christensen, Mona Hatoum, Ana Mendieta, Andres Serrano, Dotty Attie, Jackie Brookner, Ann Veronika Janssens, Lili Dujourie, David Reed, Stijn Peeters, Carrie Mae Weems, Amalia Mesa-Bains und J. George Deem statt. Dabei geht es in keinem der Fälle um eine erschöpfende Lektüre der einzelnen Bilder, Skulpturen und Installationen. Vielmehr kommt es darauf an, in welcher Form – durch Fragmentierung, Montage, Überschreibung, Verzerrung, Kopie, Spiegelung etc. – und mit welchen Konsequenzen jeweils das »critical engagement« (S. 5) zwischen diesen Werken beziehungsweise das ereignishafte »shared entanglement« (S. 30) der Arbeiten mit der Betrachterin stattfindet.

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Der angereicherte Blick

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Später entstandene (vielleicht früher gesehene) Kunst schiebt sich wie ein Filter, wie ein lacanscher Schirm 2 zwischen den Betrachter und ältere Arbeiten. In der Tat, diese Idee ist nicht neu. Doch solange solch eine Beeinflussung des Blicks noch von vielen als Trübung verstanden, als bedauerlich empfunden oder nur unter Zähneknirschen als unvermeidlich akzeptiert wird, wohnt einer Position, die, im Gegensatz dazu, die ›Medialisierung‹ des Blicks als kulturelle Bereicherung propagiert, nach wie vor ein innovatives Potential inne. Bal macht diese Umwertung zur Basis ihrer Studie. Darin werden Fragen erforscht, die die (historisch) barocken Techniken der Repräsentation zwar bereits in sich tragen, die aber nur auf dem Umweg über Gegenwartskunst und Theorie, die das entsprechende Vokabular zur Verfügung stellt, wahrnehmbar werden. Auf dem Umweg über den Betrachter übt das Zitat so Einfluß auf das Zitierte wie auf das Zitierende aus.

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Ein Bild vergißt nicht,
wo es gewesen ist

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In jedem Abschnitt von Quoting Caravaggio werden die zentralen Themen unter dreifacher Perspektive verhandelt: »Each issue is simultaneously a feature of the Baroque, a problem of knowing the Baroque, and a response of contemporary art that addresses itself to the art of the past« (S. 7). Immer werden sowohl Fragen der Repräsentation als auch der Epistemologie und der Ästhetik an die Objekte und deren Verfahren herangetragen.

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Das Kapitel »Space, Inc.« eignet sich gut als Beispiel für Bals Vorgehen. Auf einen kurzen Abriß verschiedener Theoretisierungen des semiotischen Prozesses und der Beziehung von Körper und Raum für ›barocke‹ Kunst folgt die Lektüre eines Caravaggio-Gemäldes. Das Haupt der Medusa wird als Selbstporträt des männlichen Künstlers ›als weibliches Monster‹ vorgestellt. Im Zentrum steht die besondere mediale Qualität der Oberfläche, auf die das Bild gemalt wurde. Die leicht konvexe Krümmung des runden Holzschildes hat Konsequenzen: für die Raumkonzeption, die Blickführung der Betrachterin, die Dekonstruktion der Grenze zwischen Zwei- und Dreidimensionalität; allesamt Faktoren, die »implications of mastery« (S. 133) transportieren. Sie sind es vor allem – und hier kommt die politische Dimension der Lektüre ins Spiel –, durch die verschiedene zeitgenössische Arbeiten, die in »Space, Inc.« als ›Gesprächspartner‹ für Medusa geladen sind, im Sinne der wi(e)dersinnigen Geschichte ausgeleuchtet werden.

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So veranschaulicht Mona Hatoums Performance The Negotiating Table die Implikationen des (geschlechtlich markierten) bedrohlichen Blicks zwischen Objekt und Subjekt: »looking touches« (S. 137). So erkundet Ann Veronica Janssens Skulptur Le corps noir das visuelle Hin- und Herkippen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen konvexer und konkaver Oberfläche, zwischen Abstoßen und Verschlingen des Betrachters. So reflektieren Dotty Atties manipulierte Zitat-Serien Strategien der Mythisierungen und die daraus abgeleiteten »systematic consequences of a structure of mastery and authority« (S. 147) für Medusa und andere Caravaggio-Bilder.

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Appetithappen

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Quoting Caravaggio ist eine großzügig bebilderte Publikation im Kunstbuch-Format. Es ist aber auch ein im besten Sinne theoriegesättigter Text, der sich nicht nur durch mutige Thesen und überzeugende close readings, sondern auch durch einen hervorragenden Index auszeichnet. Neben Namen und Titeln werden die für Bals interdisziplinäres Denken so entscheidenden Konzepte und Begriffe ausführlich aufgelistet. So fällt es leicht, nachzuschlagen, was noch gleich unter »paronthocentrism« oder unter »navel signs« zu verstehen ist, welche Konzepte sich hinter Termini wie »autotopography« oder »coevalness« verbergen, was es mit der These auf sich hat, die Farbe Weiß sei eine konzeptuelle Metapher für die barocke Sehweise, warum es sich lohnt, an der Unterscheidung von »representing space« und »representational space« festzuhalten, was dagegen der Begriff des »recoiling space« leistet oder worin die »deiktische Arbeit« eines Bildes besteht.

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Gilles Deleuzes Aufforderung an das Denken gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde folgendermaßen beschrieben: »It is not a matter of reconciling the sides of the fold. One must work with the fold, and work with that which in the fold forms a simple but incontestable incompatibility.« 3 Dieser Aufforderung wird mit Quoting Caravaggio Folge geleistet. Hier wird inspiriert an der künstlerischen und an der theoretischen Seite jeder Falte gearbeitet, die sowohl das ›Barocke‹ der zeitgenössischen Kunst als auch die Kontemporaneität Caravaggios in ganzer Wi(e)dersinnigkeit charakterisiert.


PD Dr. Sylvia Mieszkowski
Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt
Institut für England- und Amerikastudien
Grüneburgplatz 1
DE - 60323 Frankfurt/Main

Ins Netz gestellt am 04.11.2005

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Ralph J. Poole. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Sylvia Mieszkowski: Barocker Wi(e)der-Sinn der zeitgenössischen Kunst. (Rezension über: Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History. Chicago, London: The University of Chicago Press 2001.)
In: IASLonline [04.11.2005]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1072>
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Anmerkungen

»Denn bei Leibniz geht das Klare aus dem Dunklen hervor und fällt unablässig in es zurück.« Zitat aus: Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt / Main: Suhrkamp 2000, S. 146–147.   zurück
Kaja Silverman liefert eine wunderbar kompakte Definition. Ein Schirm (›screen‹) ist demnach »[a] repertoire of representations by means of which our culture figures out all those many varieties of ›difference‹ through which social identity is inscribed«. Zitat aus: Kaja Silverman: The Threshold of the Visible World. New York: Routledge 1996, S. 19.   zurück
Zitat aus: Jean-Luc Nancy: The Deleuzian Fold of Thought. In: Paul Patton (Hg.): Deleuze – A Critical Reader. Malden (Mass.) / Oxford: Blackwell 1996, S. 109.   zurück