Mark Emanuel Amtstätter: Die Partitur der weiblichen Sprache. Sprachästhetik aus der Differenz der Kulturen bei Mechthild von Magdeburg. (ZeitStimmen 3) Berlin: trafo 2003. 160 S. Kartoniert. EUR 19,80. ISBN: 3-89626-253-X.
[1]
Die vorliegende Untersuchung geht auf die Münchner Magisterarbeit des Autors Mark Emanuel Amtstätter aus dem Jahre 1997 zurück. Mehr als der des Buches verrät der Titel der Magisterarbeit das eigentliche Anliegen, »Formen, Aufbau und Gesamtkonzeption des ersten Buches aus dem ›Fließenden Licht der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg« zum Inhalt der Untersuchungen zu machen. 1 Im Mittelpunkt des Interesses steht also jenes erste Buch, das von allem Anfang an, das heißt seit der Entdeckung des Werkes im 19. Jahrhundert, Aufmerksamkeit erregte und Mechthilds Reputation als schreibende Mystikerin und begnadete Autorin speziell in der literaturgeschichtlichen Forschung begründete. Im Unterschied zu seinen Vorgängern, die Mechthilds poetische Virtuosität an einzelnen, aus dem Gesamtkontext des ersten Buches herausgegriffenen Kapiteln zu zeigen versuchten, ist Amtstätter am ersten Buch in seiner Gesamtheit interessiert: Es soll sich um ein vom Aufbau und Inhalt her hochkomplexes Textgefüge, eine polyphon erklingende und kontrapunktisch aufgebaute ›Partitur‹ handeln. Zum alten Ehrentitel ›begnadete Autorin‹ gesellt sich damit die Vorstellung, Mechthild sei eine geniale ›Komponistin‹ gewesen, deren Kompetenz sich nicht nur auf die Schöpfung, sondern auch auf die Gestaltung, das Arrangement des Textmaterials zu einem kleinen sprachlichen Meisterwerk erstreckte. Es geht also darum, Mechthilds kompositorische Verfahrensweise anhand des ersten, aller Wahrscheinlichkeit nach am frühesten entstandenen Buches des Fließenden Lichts zu erläutern.
[2]
Entstehungsgeschichtliche Überlegungen
[3]
Der Untersuchung zum formal-kompositorischen Aufbau des ersten Buches schickt der Autor Überlegungen voraus, die die Abgeschlossenheit des ersten Teils des Fließenden Lichts von der Entstehungsgeschichte des Werkes her sichern sollen (S. 14–20). Seit der Akademie-Abhandlung von Hans Neumann aus dem Jahre 1954 gilt als Grundkonsens der Mechthild-Forschung, dass der einzig vollständige Textzeuge des Textes, die Einsiedler Handschrift (E), Mechthilds Aufzeichnungen weitgehend in jener chronologischen Reihenfolge überliefert, wie »sie nach und nach die Pergamentlagen auf Mechthilds Tisch gefüllt haben.« 2 Diesen Eindruck scheint die Folge von nur lose aneinander gereihten, sowohl formal als auch inhaltlich stark divergierenden Einzelabschnitten hervorgerufen zu haben, was zur Etablierung der Vorstellung von einem »sehr fraulich unsystematische[n] Werk« 3 geführt hat. Dieser Position hält Amtstätter seinen Ansatz entgegen:
[4]
Eine Untersuchung über den formal-kompositorischen Aufbau eines Werkes unterstellt ein intendiertes Gewachsen-Sein dieses Werkes und ist nicht vereinbar mit der Vorstellung einer mehr oder weniger planlosen Text-Sammlung. (S. 15)
[5]
Das Diktum, es handle sich um ein formal kunstvoll komponiertes und handlungslogisch schlüssig aufgebautes Textkorpus, gilt für Amtstätter eigentlich nur für das erste Buch des Fließenden Lichts. Diese Beobachtung, die erst im weiteren Verlauf der Untersuchungen begründet wird, veranlasst den Autor, die Möglichkeit einer alten, ja sogar der ältesten Teilveröffentlichung des Gesamtwerkes in Erwägung zu ziehen (S. 20). Was das Arrangement des zur Publikation bestimmten Textmaterials betrifft, wird Mechthild eine weitaus größere Kompetenz zugemessen, als dies in der bisherigen Forschung der Fall war: Man hat behauptet, Mechthild hätte sich um die Sammlung und Ordnung ihrer Schriften nicht bemüht, sondern dieses eher »Beiläufige« 4 wie die Aufteilung des Textbestandes in sechs Bücher und Kapitel Heinrich von Halle, dem angeblichen Beichtvater und Redaktor ihrer Schriften, überlassen. Dagegen ist Amtstätter der Meinung, die innere Kohärenz des ersten Buches sei mit einer auf Mechthild selbst zurückgehenden Folge der Kapitel am besten zu erklären.
[6]
Überlieferungsgeschichtliche Überlegungen
[7]
Um die inhaltlich-thematische Zusammengehörigkeit des ersten Teils zu zeigen, bringt Amtstätter auch überlieferungs- und rezeptionsgeschichtliche Argumente. Untersucht werden die außer E erhaltenen Textzeugen, die größere zusammenhängende Korpora aus dem ersten Buch enthalten (S. 48–57). Während bei der Colmarer Handschrift ziemlich lapidar nur eine blockhafte Teilüberlieferung der Kapitel I.7–21 konstatiert wird, werden die Tiefenstrukturen der beiden Kodizes der lateinischen Übersetzung (Ra und Rb) und der Würzburger Teilüberlieferung des deutschen Textes näher untersucht.
[8]
Im vierten Buch der Lux divinitatis findet man die dialogisch angelegten Kleinkapitel des ersten Buches zu einem größeren Textkomplex zusammengezogen. Der Entwicklungsgang bleibt dabei »im wesentlichen sinngemäß so erhalten, wie er auch in der Hs. E verläuft, das heißt am Ende steht I,44 als Zielpunkt, worauf die dialogische Entwicklung der vorausgehenden Kapitel gleichsam zuzulaufen scheint« (S. 50). Die in I.44 gipfelnde innere Dramaturgie der sich zwischen Gott und der menschlichen Seele abspielenden Liebesgeschichte scheinen demnach die Übersetzer erkannt zu haben, doch bieten sie die ›Kinofassung‹ der von E erzählten geistlichen ›love story‹, indem sie den Vorlagetext verkürzen und eine Reihe von Kapiteln lehrhaften Charakters ausschneiden. Dagegen lassen sich die ausgestoßenen Kapitel in der von E gebotenen ›extended edition‹ dieser Liebesgeschichte durchaus als integrale Bestandteile des dieser Handschrift inhärenten Gesamtkonzeptes definieren. Im Unterschied zu den lateinischen Textzeugen kann im Fall der Würzburger Teilüberlieferung von einer linearen Hinführung zu I.44 nicht die Rede sein: Die Kapitelauswahl scheint hier eher die Tendenz zu motivischer Vernetzung zu belegen.
[9]
Der Konzeptcharakter des ersten Buches: Theoretische Voraussetzungen
[10]
Vor der eingehenden Analyse von I.44, welches die ganze Vielfalt an Gedanken, Motiven und Formen des ersten Buches in nuce enthalten und den Gipfelpunkt desselben darstellen soll, klärt Amtstätter, auf den Schultern welcher Riesen er sich bewegt (S. 21–47). Angesichts der immer noch nicht geklärten Frage nach der gattungstypologischen Einordnung des Fließenden Lichts als Summe einer Vielzahl von divergenten Einzelstücken und sich nicht zu Gattungen verfestigenden Formen rekurriert der Autor auf die von Wolfgang Mohr vorgeschlagenen Kategorien des Lyrischen, Epischen, Dramatischen und Gedanklichen. 5 Sie sollen einen Eindruck über einige formale Elemente des ersten Buches vermitteln, wobei »Lyrisches, Dramatisches und Episches mehr in ihrem funktionalen Sinn für den Text denn als ›Gattungsbegriff‹« (S. 27) eingesetzt werden.
[11]
Die Mohr’schen Ordnungskategorien werden in einem zweiten Schritt mit den von Walter Haug eruierten vier Sprecher- oder Zeitebenen der Darstellung des mystischen Prozesses in Verbindung gesetzt. 6 Das Lyrische verbindet sich demnach mit der überzeitlichen, das Dramatische mit der jederzeitlichen Sprechweise. Das Epische kann de facto auf allen Zeitebenen des Haug’schen Schemas außer der überzeitlichen auftreten. Konstitutiv ist dabei für das Fließende Licht im Allgemeinen und das erste Buch im Besonderen, dass sich die Stil- und Zeitebenen nicht auseinander dividieren lassen. Sie fließen ständig ineinander. An diesem Punkt greift der Autor auf die Forschungen von Klaus Grubmüller und sein Diktum von der »Simultanität unterschiedlicher Formen, Inhalte und Sprechhaltungen« zurück. 7 Die »Dynamik vermischter Formen« (Kapiteltitel), den Übergang des Epischen ins Lyrische zeigt der Autor am Beispiel von Kapitel 22 des ersten Buches (S. 42 ff.).
[12]
I.44 – Höhepunkt und Summe des ersten Buches
[13]
Vor dem Hintergrund dieser poetologischen Überlegungen wird nun Mechthilds dichterische Verfahrensweise anhand des Kapitels I.44 dargestellt, welches einen paradigmatischen Charakter für das ganze erste Buch haben soll. Symmetrisch positionierte Motivrepetitionen, gedankliche Querverbindungen, die einen assoziativen Bogen zu den Inhalten vorangehender Abschnitte herstellen, sowie die Großkonzeption der fünf, die Trinität abschreitenden Teile, die sich den Stationen des Brautwerbungsschemas im Zueinanderfinden von Braut und Bräutigam zuordnen lassen, machen dieses Kapitel zu einem hochkomplexen Textgefüge und erwecken den Eindruck einer bewusst komponierten Sprachpartitur (S. 58–78).
[14]
Die innere Kohärenz des Kapitels I.44 und des gesamten ersten Buches garantiert die imaginäre Szenerie des Hohen Liedes, das Scheiden und Wiederfinden der Liebenden (S. 89–103). Der Leser wird – nicht zuletzt durch die überzeitliche Sprechweise der sich im Laufe des Buches kontinuierlich häufenden lyrischen Dialoge – in diese Szenerie gleichsam mit einbezogen, so dass er den gezeichneten Minneweg quasi experimentell miterleben kann.
[15]
Der Minneweg wird nach dem Prinzip des Dreischritts gestaltet. Die einzelnen Stufen werden in I.21 namentlich angeführt: minne, bekantnisse und gebruchunge. Dieses Dreierschema kommt bereits im Eröffnungsdialog zwischen minne und kúneginne (I.1) zum Tragen; es wird in I.21 gnomisch verdichtet und in I.44 szenisch ausgestaltet. I.21 erweist sich dabei für die Gestaltung sowohl des Kapitels 44 als auch des ganzen ersten Buches als »formkonstituierende[r] Schlüssel« (S. 56). So gesehen dürfte es wohl kein Zufall sein, dass diese »gnomische Miniatur« (S. 56) in der Würzburger Handschrift unmittelbar nach I.44 positioniert wird.
[16]
Amtstätter bringt nun den Nachweis, dass die genannten Stufen des geistlichen Minneweges den Bauplan des ersten Buches bestimmen. Zunächst werden größere Abschnitte im Kontinuum der Einzelkapitel nach formalen Gesichtspunkten voneinander isoliert. Demzufolge umfasst die Exposition die ersten fünf Kapitel und ist vorwiegend szenisch-narrativ gestaltet. Von I.6 an meldet sich das Dialogische zu Wort und erlangt bis I.21 in Form von Wechselgesängen die Oberhand. Der »in Maria präfigurierte unio-Traum« (S. 98) von I.22 nimmt die Vereinigung der Seele mit dem göttlichen Partner in I.44 voraus und leitet die Reihe jener Kapitel ein, die in I.44 ihren Höhepunkt erreichen. Ist die minne vom Eröffnungsdialog an präsent, so lässt sich die Entwicklung bis I.22 als Weg in die bekantnisse bezeichnen. Von I.23 spannt sich der Bogen bis I.44 und führt von der bekantnisse in die gebruchunge. Dieses Struktur gebende Grundschema des ersten Buches wird in I.44 noch einmal aufgegriffen, und die wesentlichen Motive und Formen der vorangehenden Kapitel werden zu einem Sprachgewebe höchster Komplexität verwoben. Biblisch-patristisch-liturgische und profanliterarische, ja vorliterarische Inhalte und Formen verbinden sich, Weltliches und Geistliches gehen ineinander. Amtstätter spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen »Kulturwelten« (S. 77), die sich in I.44 – wie auch im gesamten ersten Buch – motivisch, gedanklich und strukturell überlagern und dem Text seinen unvergleichlichen Duktus verleihen.
[17]
Vergleich mit der lateinischen Übersetzung und Textabdruck
[18]
Dass diese aus der volkssprachlichen Existenz resultierende Komplexität des Fließenden Lichts nicht ohne Verlust ins Lateinische übertragen werden kann, beweist ein flüchtiger Blick auf die Lux divinitatis. Hier kommt es unter anderem zu einer Nivellierung der verschiedenen »Kulturwelten« zugunsten des geistlichen Bereichs und einer Vereinheitlichung der sich im Schweben befindenden Zeitebenen und Sprecherrollen (S. 79–88).
[19]
Die speziell in formaler Hinsicht bestehenden Unterschiede zwischen deutschem und lateinischem Text sollen auch die Transkriptionen veranschaulichen, welche der Untersuchung angehängt wurden. Anhang I (S. 111–119) bietet eine »Leseversion der lateinischen (im Zusammenhang überlieferten) Mechthild-Kapitel der ersten Buches« (Überschrift). Sie folgt angeblich nicht der in vielerlei Hinsicht unzuverlässigen Edition, 8 sondern bietet eine vom Autor selbst angefertigte Transkription nach dem einzig vollständigen Textzeugen der Lux divinitatis, der Handschrift Rb, wobei auch Ra »beratend« (S. 111) hinzugezogen wurde. Auf einen Lesartenapparat wird verzichtet. Deshalb ist im Einzelnen nicht ersichtlich, wann der Text der Lesart der Edition folgt und in welchem Fall Amtstätter nach Ra vorgeht. Beispielsweise wird infernalibus (Rev. IV.4, 11) gegen die handschriftlichen Varianten eciam infernali Rb 72rb beziehungsweise et infernali Ra 173r eingesetzt (vgl. S. 112). Statt Domini vere diligit Rb 72rb steht Deum vere diligit nach Ra 173r im Textabdruck (S. 113). Randglossen von Rb werden in den Fließtext integriert, ohne sie als solche kenntlich zu machen: So steht nullum potent [eigentlich poterit] interuenire (S. 118) in Rb 73rb in Fortführung der Zeile am rechten Rand der Handschrift.
[20]
Darüber hinaus sind es kleine Druckfehler (gehäuft ab S. 117 ff.) und infolge von Zeilensprung aufgetretene Auslassungen (Quamuis non sapiatis, uirtus eius adurit uehementer et [Rb 73rb: refrigerat suauiter. Ne turbemini vestra adhuc doctrina egeo postquam ab] hiis ad uos rediero, vgl. S. 118), die die Lektüre erschweren und die Zuverlässigkeit des vorgelegten Textabdrucks in Frage stellen. Drucktechnisch werden die in Rb ohne graphische Zäsur aneinander gereihten und zu einem ›Superkapitel‹ umgeformten Einzelabschnitte des deutschen Textes voneinander optisch abgesetzt. Dasselbe gilt auch für die dialogischen Sequenzen und eingefügten Sprecherrollen.
[21]
Eine weitaus größere Formenvielfalt bietet dagegen das erste Buch aus dem Fließenden Licht, welches im Anhang II formanalytisch aufbereitet wird (S. 121–157). Die Textgrundlage bildet die kritische Ausgabe von Hans Neumann. 9 Angestrebt wird eine Edition, die die formalen Gegebenheiten des Textes (zum Beispiel Dialoge, Aufzählungen, anaphorische Reihen, Reime) ins Visuelle überträgt. Vorteil dieses Editionsverfahrens soll sein, dass es das Formenspektrum des Textes aus dem Kontinuum zu lösen vermag und ermöglicht, das Moment des »langsamen Aufknospens lyrischer Formungen« (S. 62), das heißt den Übergang des Dramatischen und Epischen ins Lyrische – wie dies am anschaulichsten am Beginn von I.22 und 44 stattfindet – optisch darzustellen.
[22]
Würdigung und kritische Einwände
[23]
Es gab zwar schon früher Ansätze, eine verborgene Struktur hinter der scheinbar zusammenhangslosen Reihenfolge der Kapitel und Bücher des Fließenden Lichts zu entdecken, 10 doch ist Amtstätter der erste, der ein solches Strukturierungsprinzip zumindest für das erste Buch plausibel nachweisen kann und die Konsequenzen mitbedenkt, die sich aus dieser Beobachtung für die Entstehungsgeschichte des Werkes ergeben. Demnach ist der eruierte Konzeptcharakter des ersten Buches mit der Ansicht nicht vereinbar, die heutige Reihenfolge der Kapitel entspreche der Chronologie der ursprünglichen Aufzeichnungen.
[24]
Es ist allerdings mehr als irreführend, wenn an einer Stelle des Buches in Bezug auf die Einsiedler Handschrift festgestellt wird, sie weise eine als »authentisch angenommene« (S. 49) Kapitelfolge auf. Authentisch ist die Folge der Kapitel sicherlich nicht etwa in dem Sinne, dass sie den Prozess widerspiegelt, wie sich die einzelnen, vor Mechthild liegenden Pergamentlagen nach und nach gefüllt haben (siehe oben). Authentizität versteht Amtstätter eher dahingehend, dass er Mechthilds Gestaltungswillen für den Aufbau des ersten Buches verantwortlich macht, »es sei denn, Heinrich von Halle war ein genialer Ordnungsstifter scheinbar zusammenhangslosen Textmaterials« (S. 12). Diese letzte Möglichkeit lässt der Autor zwar nicht gelten, auszuschließen ist sie jedoch nicht. Unabhängig von dieser Problematik stellt sich folgende Frage: Ist es berechtigt, die ganze Verantwortung für das buoch an Mechthild allein zu delegieren und die Möglichkeit anderer relevanter Konstellationen sowohl für die Textgenese als auch für unseren Autorbegriff (wie die des literarischen Zusammenwirkens von Schwester und Beichtvater) zu ignorieren beziehungsweise – wie es anderswo geschieht – ins Reich der Mythen zu verbannen?
[25]
Dass gewisse Textmutationen auch im Laufe der Überlieferung erfolgt sein könnten, hätte Amtstätter in Erwägung ziehen müssen. Solche Veränderungen wären zum Beispiel auf der Ebene der Kapitelfolge zu vermuten. Ähnlich wie VI.22 erst in einer späteren Phase der Überlieferung aus dem siebten Buch ins sechste gelangt ist – es ist nämlich in der lateinischen Übersetzung der ersten sechs Bücher des Fließenden Lichts nicht enthalten –, könnten auch V.6 (und V.7?) – zwei Kapitel, die dem für das fünfte Buch untypischen Modell der wechselseitigen Anrufung folgen – ursprünglich Teil des ersten Buches gewesen sein. 11 In der Übersetzung wurden V.6 und V.7 zu einem einzigen Kapitel zusammengezogen (Rev. IV.8, S. 553 f.). Zu beachten ist dabei die Überschrift in Rb, in welcher auf die Kapitelzählung der deutschen Vorlagehandschrift der Übersetzer verwiesen wird: Dieser Angabe zufolge stellte das heutige Kapitel V.6 prima parte 2 c (Rb 73vb) der Übersetzungsvorlage dar! 12
[26]
Aus den genannten Gründen darf die Struktur des einzig vollständigen Textzeugen des Fließenden Lichts nicht ohne weiteres als authentisch, das heißt mechthildisch, angesehen werden. Es gibt ausreichend Faktoren wie überlieferungsgeschichtliche Umstände und die geistig-literarische Interaktion von Personen (Mystikerinnen, Beichtvätern, Mitschwestern) aus dem unmittelbaren Umfeld der Textgenese, die die heutige Gestalt des Textes beeinflusst haben könnten. Aus diesem Grund erscheint eine formanalytische Edition, die den Anspruch erhebt, die »in der Handschrift oft verstellte dichterische Kunstgestalt eines Textes [...] gegen alle Überlieferung ans Licht zu bringen«, um die vom Autor intendierte, von späteren Rezipienten jedoch ignorierte Kunstgestalt durch eine formkritische Darbietung des Textes wieder zu inthronisieren, 13 mehr als fragwürdig.
[27]
Überhaupt ist die Art und Weise problematisch, ja widersprüchlich, wie mit der Einsiedler Handschrift umgegangen wird. Einerseits behauptet Amtstätter, dass »zunächst immer die Gestaltung in der Hs. E im Zentrum des Interesses stehen [soll], wie auch immer diese letztendlich nach allen Vor- und Zwischenstufen zustande gekommen sein mag« (S. 45, Anm. 86). Andererseits wird das von Neumann in »kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung« 14 erstellte Korpus – d. i. ein ahistorischer, weder in der Überlieferungs- noch in der Rezeptionsgeschichte wirksam gewordener Text – zum Ausgangspunkt der formkritischen Edition sowie der Beschäftigung des Autors mit dem Fließenden Licht erklärt (vgl. S. 61, Anm. 104; S. 62, Anm. 106 und S. 66, Anm. 113). Ich bin der Meinung, dass die Vor- und Zwischenstufen eines Textes durchaus beachtet werden müssen, wenn man der Gefahr entgehen will, einen Textzeugen, der in beachtlichem zeitlichen und räumlichen Abstand zum angenommenen Ort und Zeitpunkt der Entstehung steht, vorschnell zum ›Autortext‹ zu deklarieren, und wenn man den Anspruch hat, differenzierte Aussagen über die überlieferte Handschrift des Textes zu treffen. So dürfte die sich von seiner textlichen Umgebung formal deutlich absetzende, aus anaphorischen Reihungen bestehende unio-Darstellung aus I.22, 7–34 (nach der Neumann-Ausgabe) als sekundärer Einschub gewertet werden, 15 der als Beleg für Mechthilds Vorliebe für »vermischte Formen« (S. 42 ff.) nur bedingt herangezogen werden kann. Ist es nur ein Zufall, dass ausgerechnet diese Passage – und nicht I.22 in seiner Gesamtheit! – Eingang in die spätere, unabhängig von E verlaufende Überlieferung gefunden hat? 16
[28]
Ansonsten ist es zu begrüßen, dass auch die über E hinausgehende restliche Überlieferung (C, W), ihr Konzeptcharakter beziehungsweise ihre innere Kohärenz ins Blickfeld des Autors geraten sind. Angesichts der Tatsache, dass die späteren Überlieferungsträger – alle fragmentarischen Charakters – von der bisherigen Forschung fast immer nur von ihrem textkritischen Ertrag her bewertet wurden, ist eine Untersuchung, die sich den in der Textauswahl manifest werdenden Leserinteressen und der Dynamik der Textgeschichte in der Überlieferung widmet, mehr als nötig. 17 Unklar ist allerdings, warum die Budapester Teilüberlieferung aus der Untersuchung der Überlieferungsträger ausgeklammert wurde, obwohl sie das für das erste Buch als konstitutiv geltende Kapitel 44 enthält. Dieses Kapitel spielt im Aufbau der Budapester Exzerpthandschrift insofern eine wichtige Rolle, als es den ersten Höhepunkt der von szenischen Darstellungen und Gesprächssituationen geprägten ersten Hälfte darstellt, welche – im Unterschied zur zweiten, von deskriptiven Textpartien und einem Interesse am Lehrhaften dominierten Hälfte der Handschrift – die Minnethematik umkreist. 18
Dr. Balázs J. Nemes Universität Freiburg Deutsches Seminar Platz der Universität 3 DE - 79098 Freiburg i. Br
Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.
Empfohlene Zitierweise:
Balázs J. Nemes:
Mechthilds von Magdeburg »Frühwerk«.
Buch I des Fließenden Lichts der Gottheit. (Rezension über: Mark Emanuel Amtstätter: Die Partitur der weiblichen Sprache. Sprachästhetik aus der Differenz der Kulturen bei Mechthild von Magdeburg. Berlin: trafo 2003.) In: IASLonline [30.10.2004] URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1084> Datum des Zugriffs:
Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.
Mark Emanuel Amtstätter: »ein hovereise der minnenden sele«. Bemerkungen zu Formen, Aufbau und Gesamtkonzeption des ersten Buches aus dem »Fließenden Licht der Gottheit« Mechthilds von Magdeburg. Magisterarbeit München 1997. zurück
Hans Neumann: Beiträge zur Textgeschichte des »Fließenden Lichts der Gottheit« und zur Lebensgeschichte Mechthilds von Magdeburg. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen I. Phil.-Hist. Kl. 3 (1954), S. 27–80, hier S. 61. zurück
Wolfgang Mohr: Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg. In: Hugo Kuhn (Hg.): Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift Friedrich von den Leyens. München 1963, S. 375–399. zurück
Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: Karlheinz Stierle u.a. (Hg.): Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik 11) München 1984, S. 251–279. zurück
Klaus Grubmüller: Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechthild von Magdeburg. In: Johannes Janota u.a. (Hg.): Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 335–348, hier S. 347. zurück
Sanctae Mechtildis virginis ordinis Sancti Benedicti Liber Specialis Gratiae accedit Sororis Mechtildis ejusdem Ordinis Lux Divinitatis. Opus ad codicum fidem nunc primum integre editum Solesmensium O.S.B. Monachorum cura et opera [L. Paquelin] (Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae II) Paris-Poitiers 1877, hier Rev. IV.4–6 (2) [S. 546–552]. Die Neuausgabe der Lux divinitatis wird im Rahmen des DFG-Projektes »Texteditionen lateinischer Mystik aus dem Kloster Helfta« von Ernst Hellgardt (München) unter Mitarbeit von Elke Senne (Berlin) vorbereitet. zurück
Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hg. von Hans Neumann. Bd. I: Text, besorgt von Gisella Vollmann-Profe. München u.a. 1990 – Bd. II: Untersuchungen, ergänzt und zum Druck eingerichtet von Gisella Vollmann-Profe. München u.a. 1993. zurück
Hans-Georg Kemper: Allegorische Allegorese. Zur Bildlichkeit und Struktur mystischer Literatur (Mechthild von Magdeburg und Angelus Silesius). In: Walter Haug (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1979, S. 90–125. zurück
Gisela Vollmann-Profe äußert die Vermutung, dass V.6 versehentlich an diese Stelle gelangt ist, vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Hg. von G. V.-P. (Bibliothek des Mittelalters 19) Frankfurt / Main 2003, S. 795: 334,1–22. zurück
Dass die tituli von Rb eine in manchen Zügen von E abweichende Kapitelreihenfolge der deutschen Vorlagehandschrift bieten, wurde bis dato nicht registriert. zurück
Vgl. Mark Emanuel Amtstätter: Die kühnste erotische Dichtung des Mittelalters in einer neuen Edition. Die neue Mechthild-Ära. (Rezension über: Gisela Vollmann-Profe (Hg.): Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Bibliothek des Mittelalters Bd. 19) Frankfurt / Main: Deutscher Klassiker Verlag 2003.) In: IASLonline [02.01.2004]. URL: http://www.iaslonline.de Datum des Zugriffs: 09.07.2004. zurück
Außer L, Mü1, Ka und M2 (vgl. Neumann / Vollmann-Profe [Anm. 9], Bd. 2, S. 294) sollten folgende Handschriften genannt werden: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 116, Bl. 67v-68v (Mü2); Cgm 172, Bl. 40v-41r (Mü3); Cgm 411, Bl. 127vb-128ra (Mü4); Salzburg, St. Peter, b III 30, Bl. 50r (Sa) und möglicherweise auch Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 418 (H). Welche Teile des Fließenden Lichts die neulich entdeckte Handschrift Ms. 7 der Bibliotheca Ceylanica-Kessler in Bonn enthält, ist noch unbekannt. Die Publikation des Neufundes wird in der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur stattfinden. zurück
Um entstehungs- und überlieferungsgeschichtliche Fragen, die sich im Zusammenhang des Fließenden Lichts stellen, soll es in meiner Freiburger Dissertation gehen. zurück
Siehe dazu Márta Nagy: »Jch mues fliegen mit Tawbenfederen ...« Mechthilds von Magdeburg ›Fließendes Licht der Gottheit‹ als Modell gottgefälliger Lebensführung in der Budapester Teilüberlieferung. In: Márta Nagy u.a. (Hg.): »swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch« Festschrift für András Vizkelety (Abrogans 1 / Budapester Beiträge zur Germanistik 37) Piliscsaba u.a. 2001, S. 133–141 bzw. meine Magisterarbeit: Die Budapester Handschrift von Mechthild von Magdeburg »Fließendes Licht der Gottheit«. Überlieferungskontext und Funktion. Freie Universität Berlin 2003, S. 52 ff. zurück