Klaus Bartels

Erzählmodelle der Devianz.

Der Fall Peter Kürten - neu aufgerollt




  • Karl Berg: Der Sadist. Gerichtsärztliches und Kriminalpsychologisches zu den Taten des Düsseldorfer Mörders Peter Kürten. Mit zwei Artikelserien des Kriminal-Polizeirats Ernst Gennat und der Verteidigungsrede von Dr. Alex Wehner, hg. von Michael Farin. München: belleville 2004. 251 S. 39 Abb. Broschiert. EUR 20,00.
    ISBN: 3-923646-12-7.


[1] 

Das meiste, was wir über den Serienmörder Peter Kürten wissen, wissen wir aus dem psychiatrischen Gutachten des Gerichtsmediziners Karl Berg. Es erschien unter dem Titel Der Sadist recht zügig nach der Hinrichtung des »Vampirs von Düsseldorf« durch das Fallbeil am 2. Juli 1931 noch im selben Jahr im 17. Band der Deutschen Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin: Daß, wie, wann, wo und warum der »König der Sexualverbrecher« insgesamt neun Menschen (Kinder, Frauen und Männer) ermordete, außerdem siebzig weitere Straftaten (vor allem Brandstiftung und Körperverletzung) beging, einen Großteil seines Lebens mit kurzen Unterbrechungen in Haft verbrachte und seinen Gutachter fragte, ob sein abgeschlagener Kopf wohl noch das eigene Blut könne rauschen hören, was gegebenenfalls für ihn der letzte Genuß aller Genüsse sei, alles das kann man nun selbst in der von Michael Farin besorgten Neuherausgabe des Sadisten nachlesen.

[2] 

Eingerahmt hat Farin das Gutachten Bergs mit einer zweiteiligen Artikelserie des Berliner Kriminal-Polizeirats Ernst Gennat. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine Art Gutachten, und zwar um eine kriminalpolizeiliche Bewertung der zum Teil von der Presse höhnisch kommentierten Ermittlungsarbeit der Düsseldorfer Mordkommission. 1 Unter dem Titel »Die Düsseldorfer Sexualverbrechen« befaßte sich Gennat im ersten Teil der Serie mit der Fahndung nach dem Täter vor der Ergreifung Kürtens. Dieser Text erschien 1930 in den Kriminalistischen Monatsheften. Ebendort publizierte er 1931 den zweiten Teil mit dem Titel »Der Kürtenprozeß«, worin er die Geschehnisse nach der Ergreifung Kürtens aus der Sicht der Polizei schilderte.

[3] 

Den Abschluß des Textteils bildet das Plädoyer des Kürten-Verteidigers Alex Wehner. Der Herausgeber hat seiner Edition eine Auswahlbibliographie beigefügt. Sie verzeichnet deutsche und internationale Veröffentlichungen über den Fall Peter Kürten von 1929 bis 2003, inklusive einiger Medienprodukte (S. 238–251).

[4] 

Der Herausgeber
verschweigt die Gründe seines Tuns

[5] 

Da die Texte eigentlich alle relativ leicht zugänglich sind (dies gilt vor allem für Bergs Studie, die mehrfach nachgedruckt und 1932 ins Englische übersetzt wurde), drängt sich die Frage auf, warum sie noch einmal veröffentlicht werden. Leider begründet der Herausgeber Auswahl und Edition der Texte überhaupt nicht. Auch Änderungen an der Textgestalt werden stillschweigend vorgenommen. Zum Beispiel korrigiert der Herausgeber Bergs falsche Schreibung »Monalescu« (gemeint ist der seinerzeit international bekannte rumänische Hochstapler Manulescu) in »Manulesco« (S. 170). Oder er unterlegt die in der Erstveröffentlichung des Gutachtens kleingedruckten Passagen grau, wodurch sie eine unangemessene typografische Signifikanz erhalten. Die wenigen Erläuterungen des Herausgebers beschränken sich auf die Ankündigung eines zweiten Bandes (S. 237).

[6] 

Das Arrangement der Texte deutet darauf hin, daß der Herausgeber sich eigentlich als Autor versteht, der eine spannende Geschichte aus dem Genre der ›Wahren Verbrechen‹ präsentiert. Insbesondere die Artikelserie Gennats liest sich stellenweise wie ein Krimi und vermittelt einen Eindruck in die durch Kürten ausgelöste und über die Grenzen Deutschlands hinausreichende zeitgenössische Serienmordpsychose.

[7] 

Serienmordpsychose in den
1930er Jahren

[8] 

Die den Düsseldorfer Serienmorden gezollte internationale Aufmerksamkeit datiert zurück auf die außerordentlich medienwirksame Versendung zweier sogenannter Mörderbriefe (S. 58). Tatsächlich schrieb und verschickte Kürten deren drei (S. 211), aber die Kenntnis des dritten Briefs gelangte nicht an die Öffentlichkeit, weil die Polizei die in der Bevölkerung ausgebrochene Panik nicht weiter anheizen wollte. Kürten wählte diese Form des öffentlichen Terrors in bewußter Anlehnung an die berühmt-berüchtigten Briefe, die der Frauenmörder Jack the Ripper im Laufe des Jahres 1888 (und, falls es derselbe Schreiber war, auch noch später) an die Londoner Presse geschrieben hatte.

[9] 

Im ersten Teil seiner Artikelserie differenziert Gennat zwischen einer »Ueberfall«-, einer »Vermißten«- und einer »Brief«-Psychose (S. 54–58). Im Falle der Brief-Psychose ging die Polizei 160 falschen Spuren nach. Auch die Abarbeitung gegenstandsloser panischer Überfall- und Vermißtenmeldungen nahm eine erhebliche Zeit in Anspruch und führte selbstverständlich zu keinen Ergebnissen. Die Polizei tappte völlig im Dunkeln. Sie hielt zunächst einen Geisteskranken (J. Stausberg) für den Mörder, schloß aber aufgrund der unterschiedlichen Tatausführungen (der variablen ›Täterhandschrift‹ würde man heute sagen) auf vier Täter. Insbesondere am Fall Stausberg und der »Mehrheitstäter-Theorie« (S. 208) entzündete sich die geharnischte Kritik der Presse.

[10] 

Der erste Teil der Artikelserie Gennats besteht aus dem Versuch eines Täter-›Profiling‹, wie es erst seit den 1970er Jahren in Zusammenhang mit der Fahndung nach Serienmördern üblich wurde. Gennat benutzt denn auch mehrfach den Begriff des »Serienmörders« (S. 24, 30), spricht verschiedentlich von »Serien« (S. 25, 51), »Serientaten« (S. 21) und »Serientätern« (S. 64). Die Erfindung des Begriffs ›Serienmörder‹ und des ›Profiling‹ fand schon 1930 durch die deutsche Polizei statt und nicht, wie von vielen pensionierten FBI-Agenten behauptet, in den 1970er Jahren auf US-amerikanischem Polizeiakademien. Das Täterprofil freilich führte nicht zur Ergreifung Kürtens, diese blieb dem Zufall überlassen. (»Kommissar Zufall« ist im übrigen der einzige erfolgreiche US-amerikanische FBI-Profiler.)

[11] 

Erzählmodell »Lustmörder«

[12] 

Sobald Gennat die rein deskriptive Ebene verläßt und über die Motive der gesuchten Zielperson(en) spekuliert, verwendet er statt des Begriffs »Serienmörder« den Begriff »Lustmörder« (S. 31, 62, 63). Im zweiten Teil seiner Artikelserie, der sich hauptsächlich mit der Rechtfertigung von Fahndungspannen und den widersprüchlichen Angaben Kürtens zu seinen Motiven beschäftigt (in den ersten Verhören hatte Kürten als Motiv »Rache an der Gesellschaft« angegeben, in der Voruntersuchung allerdings sexuelle Motive eingeräumt), begründet Gennat indirekt das »Versagen« der Kriminalpolizei mit der »Unsichtbarkeit« des »Lustmörders«. Aus einer vor der Verhaftung Kürtens veröffentlichten, den Düsseldorfer Serienmorden gewidmeten Sondernummer des Deutschen Kriminal-Polizeiblatts zitiert er noch nach der Verhaftung Kürtens folgenden Passus:

[13] 
Lustmord ist aufs höchste gesteigerter Sadismus. Besonders bemerkenswert ist, daß Sadisten in ihrem gewöhnlichen Leben nur höchst selten brutale, rohe, gewalttätige Naturen sind. Seltsamerweise trifft meist gerade das Gegenteil zu. Es handelt sich fast stets um Menschen, die ihrer Umgebung sanft, weich und gutherzig erscheinen. Das ist der Hauptgrund, warum Lustmorde verhältnismäßig selten aufgeklärt werden. Man geht oft an dem wirklichen Täter, auch wenn starke Verdachtsgründe gegen ihn vorliegen, vorbei, weil seine Persönlichkeit in einem so krassen Gegensatz zu der Tat steht, daß jeder, dem der erörterte Umstand nicht bekannt ist, sein Urteil in ein ›Ausgeschlossen‹ zusammenfaßt ... (S. 206)
[14] 

Dieses Zitat offenbart ziemlich deutlich die Probleme einer am »Sichtbarkeitsparadigma« 2 des italienischen Kriminologen Cesare Lombroso ausgebildeten Kriminalpolizei. Lombroso hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die einflußreiche These formuliert, Verbrecher seien an äußeren »tierischen« Merkmalen (Henkelohren, starke Kinnlade, tiefe Stirn, vorragende Jochbeine etc.) zu erkennen, da sie das Produkt eines evolutionären Rückschritts (»Atavismus«) auf eine tierähnliche Stufe des Menschen darstellten. In den Fällen Haarmann und Kürten zeigte sich, daß der »Bestialität« der Taten keineswegs ein außergewöhnliches tierisches Aussehen der Täter entsprach. Haarmann und Kürten wirkten eher normal und unscheinbar.

[15] 

Aus diesem Grunde adaptierte die Kriminologie, wie die Autoren der Sondernummer, ein flexibleres Modell, das in der Literatur (und der Kunst) seit den 1880er Jahren entwickelte Erzählmodell des »Lustmörders«. Der Kriminalpsychologe, Staatsanwalt und Gelegenheitsromancier Erich Wulffen hatte 1928 auf die literarischen Quellen dieses eigentlich kriminologiefremden Konzepts hingewiesen, 3 und an Karl Bergs Kürten-Gutachten ist zu beobachten, wie dieses Erzählmodell in den kriminologischen Diskurs einwanderte.

[16] 

Der Gutachter
kämpft um die Erzählhoheit

[17] 

Kürten hatte in den ersten Vernehmungen bei der Polizei und in den Gesprächen mit Berg lange Zeit bestritten, aus sexuellen Motiven getötet zu haben. Er behauptete, sein Motiv sei Rache gewesen (S. 145). Er habe die Gewalttaten begangen, um der Gesellschaft die an ihm verübte Ungerechtigkeit und die sozialen Demütigungen heimzuzahlen. Wie Berg zutreffend feststellte, begriff Kürten seine kriminelle Karriere nach einem narrativen Muster, das Schiller in seiner Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre verwendete. Auch Schillers Protagonist, der Räuberhauptmann Christian Wolf, begründet seine Verbrechen aus dem Motiv der Rache. Der Kriminologiehistoriker Peter Becker bezeichnet dieses Erzählmuster als das Erzählmuster des ›gefallenen Menschen‹, 4 der, wie Christian Wolf, durch widrige Lebensumstände (Alkohol, Prostitution, Haft) vom rechten Weg abgekommen, aber gleichwohl ein vernünftiges bürgerliches Individuum geblieben ist.

[18] 

Bergs »Kur« bestand darin, seinem Probanden diese Erzählung auszureden und ihn auf das Erzählkonzept eines periodisch von einem animalischen Sexualtrieb geschüttelten Sadisten und Lustmörders festzulegen. Am Ende der Kur konnte er triumphierend schreiben:

[19] 
Jetzt steht ein ganz anderer Kürten vor uns als der von Polizei und Richter vernommene. Aus den vorher unverständlichen Verbrechen werden die begreiflichen Fehlhandlungen eines abnorm gerichteten Geschlechtstriebes. Der Verbrecher aus verlorener Ehre wandelt sich in den Sadisten und Lustmörder. (S. 159)
[20] 

»90% Sadismus und 10% gekränktes Gerechtigkeitsgefühl« errechnete der Gutachter (S. 171).

[21] 

So sensibel Berg das narrative Muster Kürtens erfaßte, so unempfindlich blieb er gegenüber dem eigenen Erzählklischee vom »Lustmörder«. Stand die literarische »Lustmörder«-Figur der Avantgarde um die Jahrhundertwende noch für kraftgenialische Virilität, so verwandelte sie sich Ende der 1920er Jahre in einen triebgesteuerten infantilen Schwächling und Weichling, der sich nur mit noch Schwächeren (Kindern, Frauen und alten Männern) abgibt. 5 Nach Berg war auch Kürten zu weich und zu schwach, um seinen Geschlechtstrieb kontrollieren zu können. Andererseits sei er planvoll vorgegangen; der Trieb habe ihn nicht hinterrücks übermannt. Das planvolle Vorgehen war in allen eingeholten psychiatrischen Gutachten der ausschlaggebende Grund, Kürten für zurechnungsfähig zu erklären.

[22] 

Erzählmodell
»Bestie in Menschengestalt«

[23] 

Kürten freundete sich mit Bergs Konzept, wenn überhaupt, nur widerstrebend an. 6 Auf keinen Fall wollte er als »Lustmörder« gelten (S. 144). Aber auch das von der Presse banalisierte und breitgetretene Sichtbarkeitsparadigma Lombrosos (Stichwort: »Bestie in Menschengestalt«, »Vampir von Düsseldorf«) paßte nach seiner Meinung nicht auf ihn. Er hatte einschlägige Fachliteratur, namentlich Lombroso gelesen (S. 145), konnte jedoch im Unterschied zur Presse zwischen sich und dem lombrosischen ›geborenen Verbrecher‹ keine Verbindungslinie ziehen, wenn er – wie kolportiert wurde sehr oft – vor dem Spiegel stand. Er besaß keine Henkelohren, keine starke Kinnlade, keine vorragenden Jochbeine und was nach Lombroso sonst noch zur physiognomischen Ausstattung einer delinquenten Bestie gehörte. Aus dem Spiegel blickte ihm ein gepflegter, etwas eitler, recht jugendlicher Mann mit wachen Augen entgegen, der es verstand, Frauen für sich einzunehmen. Daß seine weiblichen Opfer angeblich freiwillig geschlechtlich mit ihm verkehrt hätten, mag man (wie Berg) Kürten glauben oder nicht. Aber einige sind, das ergab die Überprüfung seiner Aussagen, ihrem späteren Mörder nicht gerade davongelaufen.

[24] 

Der Verteidigung blieb wegen der umfassenden Geständnisse ihres Mandanten und der drohenden Todesstrafe nur wenig Spielraum. Wenn sie Kürten schon nicht das Leben retten konnte, so doch wenigstens sein menschliches Antlitz. Gegen das in der Presse von Kürten gezeichnete Bild einer lombrosischen »Bestie in Menschengestalt« (S. 174) mobilisierte Kürtens Verteidiger Alex Wehner das Erzählmodell des ›gefallenen Menschen‹: »Lassen Sie ihn nicht als Bestie aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen werden, trägt doch auch er eines Menschen Antlitz« (S. 235). Bezugspunkt des Plädoyers war Friedrich Schiller. Wehners Bemerkung, die absonderliche Psyche seines Mandanten könne nicht wie ein »Muskel auf dem Seziertisch offengelegt werden« (S. 222, Hervorhebungen im Original), erinnern an die Worte Schillers, ihm gehe es im »Verbrecher« um die »Leichenöffnung seines Lasters.« 7 Vor Gericht erwies sich das Erzählmodell des »Lustmörders« als Erfolgsmodell. Wehners Einwände blieben ungehört.

[25] 

Erzählmodell
»Jack the Ripper«

[26] 

Mit seinen Mörderbriefen, in denen er die Polizei auf den Fundort der Leiche der von ihm erstochenen Maria Hahn hinwies, stellte Kürten sich in die Ripper-Tradition. Für ihn war das in erster Linie Erzähltradition: »Den Jack the Ripper habe ich ein paarmal durchgelesen« (S. 171; Hervorhebung K. B.). Aber es war wohl weniger die Ripper-Lektüre als vielmehr die Düsseldorfer Mordkommission, die ihn zum Briefeschreiben animierte. Die nämlich suchte in Analogie zum vermeintlich irren Londoner Täter fatalerweise ebenfalls nach einem Geisteskranken und verhaftete in diesem Zusammenhang den schwachsinnigen J. Stausberg, obwohl der Fall Kürten, wie Berg betonte, mit dem des Londoner Frauenmörders nur wenig Gemeinsamkeiten aufwies. Im Gegenteil: Weder waren Kürtens Opfer ausschließlich Prostituierte noch schlitzte er sie auf, um sie anschließend fachmännisch auszuweiden. Kürten klinkte sich gleichwohl in die Rippertradition ein, weil er diese »Erzählung« sehr gut kannte und daher wußte, daß Opfergruppe und ›Täterhandschrift‹ auf einen ganz anderen Täter als ihn wiesen. Er benutzte das Ripper-Erzählmodell als Tarnung.

[27] 

Die Anschlußfähigkeit
der Erzählmodelle

[28] 

Der Fall Kürten hatte nicht nur eine historische intertextuelle Komponente (man denke an das Motiv der Ripperbriefe oder den von Berg und Wehner hergestellten Bezug zu Schillers Verbrecher und das literarische »Lustmord«-Modell), er war gewissermaßen nach vorne anschlußfähig. Der 64-fache Eisenbahnattentäter, 54-fache Räuber und 3-fache Mörder Friedrich Opitz (hingerichtet am 13. Oktober 1937), war ein eifriger Leser von Broschüren über die Serienmörder Haarmann und Kürten. Außerdem fand man kriminalistische Fachliteratur in seinem Besitz. Hin und wieder lieh er sich kriminologische Zeitschriften aus. 8 Es ist also nicht auszuschließen, daß er auf Bergs Gutachten stieß. Ermittler, Gutachter und Gewalttäter bilden offensichtlich eine sehr aktive Gruppe von Autoren und Lesern. Kürten selbst thematisierte in seinen Gesprächen mit Berg die »aufreizende« Wirkung, welche die Fachliteratur und die zeitgenössische Berichterstattung über Sexualverbrechen in den Massenmedien auf ihn gehabt habe (S. 173).

[29] 

Fazit

[30] 

Die Synopse der Texte verdeutlicht, daß vor Gericht nicht ausschließlich die Wahrheit, sondern die Erzählhoheit und plausible Erzählungen verhandelt wurden. Ob es sinnvoll ist, den komplexen Fall Kürten derart unkommentiert zu präsentieren, darf bezweifelt werden. Vielleicht schafft der angekündigte zweite Band Abhilfe. Dem uninformierten Leser wird ohne Frage ein spannendes Leseangebot gemacht. Und er erfährt nebenbei, daß Kürten eben nicht fünfunddreißig Menschen umgebracht hat, wie einschlägige US-amerikanische Fachpublikationen berichten, 9 sondern ›nur‹ neun.


Prof. Dr. Klaus Bartels
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
DE - 20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 14.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder (1948-2012). Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Klaus Bartels: Erzählmodelle der Devianz. Der Fall Peter Kürten - neu aufgerollt. (Rezension über: Karl Berg: Der Sadist. Gerichtsärztliches und Kriminalpsychologisches zu den Taten des Düsseldorfer Mörders Peter Kürten. Mit zwei Artikelserien des Kriminal-Polizeirats Ernst Gennat und der Verteidigungsrede von Dr. Alex Wehner, hg. von Michael Farin. München: belleville 2004.)
In: IASLonline [14.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1112>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Ein besonders bissiger Kommentator war der Publizist Hans Hyan, der in einem Artikel nahezu sämtliche Schritte und Folgerungen der Düsseldorfer Polizei rügte. Vgl. Hans Hyan: Massenmörder Kürten? In: Die Weltbühne 26 (1930), I. Halbjahr, S. 865–875. Seine Kritik erneuerte er nach dem Prozeß. Vgl. Hans Hyan: Der Düsseldorfer Polizeiskandal. In: Die Weltbühne 27 (1931), I. Halbjahr, S. 613–617.    zurück
Thomas Kailer: Werwölfe, Triebtäter, minderwertige Psychopathen. Bedingungen von Wissenspopularisierung: Der Fall Haarmann. In: Carsten Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung: Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin: Akademie-Verlag 2003, S. 323–359, hier S. 339.   zurück
Zu Wulffen und zum Lustmord als Erzählmodell vgl. Martin Lindner: Der Mythos ›Lustmord‹. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932. In: Joachim Linder und Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 273–305.   zurück
Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002.   zurück
Vgl. Martin Lindner (Anm. 3), S. 301.   zurück
Zum Kampf zwischen dem Gutachter und Kürten um die Deutung seiner Taten als Lustmorde vgl. ausführlicher Maren Hoffmeister: Der Körper des Täters in der Deutung des Lustmords. In: Kriminologisches Journal 35 (2003), S. 212–223.   zurück
Diese Bemerkung befindet sich in der Einleitung der Erzählung, unmittelbar bevor die »Wahre Geschichte« beginnt. Vgl. zum Beispiel Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre und andere Erzählungen. Mit einem Nachwort von Bernhard Zeller. Stuttgart: Reclam 1998, S. 3–30, hier S. 6.   zurück
Schraepel, Regierungs- und Kriminalrat: Der Fall Opitz. In: Archiv für Kriminologie, Kriminalanthropologie und Kriminalistik 103 (1938), S. 1–18, 124–163, 181–186, 104 (1939), S. 31–52, hier S. 138 f., 148 f.   zurück
In einschlägigen US-amerikanischen Fachpublikationen ist gelegentlich von fünfundreißig Opfern die Rede. Vgl. Maria Tatar: Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany. Princeton: Princeton University Press 1995, p. 42. Und in Anschluß an Tatar Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture. New York and London: Routledge 1998, p. 136.   zurück