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Sommertourismus und Festspielkultur um 1900

Ein erhellender Streifzug durch zentrale
österreichische Lebenswelten

  • Robert Kriechbaumer (Hg.): Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg. (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr. Wilfried-Haslauer-Bibliothek 14) Wien u.a.: Böhlau 2002. 364 S. 7 Graf., 17 Tab., 47 s/w Abb. Gebunden. EUR 45,00.
    ISBN: 3-205-99455-8.
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Die Sommerfrische
– Ein Transfermodell für soziale Hierarchien
und Lebensformen

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Max Reinhardt, Begründer der Salzburger Festspiele, liefert mit einem Zitatausschnitt das Leitmotiv zu vorliegendem Sammelband, der sich mit dem Akkulturationstraum und -trauma des österreichischen Judentums seit der liberalen Ära (1867 ff.) auseinandersetzt, diesen am Beispiel des aufkommenden Sommertourismus’ und der Festspiele (1920 f.) fokussiert und mit Fallbeispielen aus der NS-Periode sowie einem Ausblick in die Nachkriegsperiode, in Restitutions- und Remigrationsaspekte, vertieft.

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Im einleitenden Beitrag erinnert der Herausgeber an die grundlegenden zivilisatorisch-kulturellen Paradigmen, welche die ›Sommerfrische‹ als Phänomen eines Transfers sozialer Hierarchien und Lebensformen aus dem urbanen in den ländlich-agrarischen Raum konstituiert und geprägt haben, verbunden mit einer spezifisch österreichischen Note der Anverwandlung ländlicher Rhythmen und habitueller Akzente (Trachten-Kleidung zum Beispiel als »Signet für die Leichtigkeit des Seins in der Sommerfrische« beziehungsweise als nostalgischer Integrationsakzent; S. 317), um danach das ambivalente und kontrastreiche Nebeneinander eines aggressiven, kleinbürgerlichen Antisemitismus im Zuge der Wirtschaftskrisen seit 1918 und eines internationalen Festspieltourismus als exklusive, temporäre Salzburger Gegenwelt zu thematisieren.

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Die Sommerfrische
– Saisonale Fluchtsphäre und Ausdruck von
Integrationswillen der jüdischen Eliten

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Auch Hanns Haas knüpft im nachfolgenden Beitrag an den Integrationswillen der jüdischen Eliten an. Einerseits versteht er die letztlich nur zwei Generationen (bis 1914) funktionierende Institution Sommerfrische als »eine jener Szenarien, in denen sie soziale Anerkennung suchten« (S. 42), wobei diese als (schein)stabile, saisonale Fluchtsphäre im Vergleich zur gängigen Erfahrung sozialer Fragmentierung im urbanen Raum begriffen wurde. Andererseits erblickt Haas in ihr spezifische und alsbald ritualisierte Synthesen aus Besitz (Landvillen) und Bildungsstatus, die mitunter eine stilisierte Anverwandlung des Volkstümlichen zuließen, selbst in Familien wie der der Freuds, sowie eine auf Binnenabgrenzung ausgerichtete großfamiliäre Netzwerkarbeit, von der gelegentlich auch etwas für das literarische Leben, siehe Schnitzlers Sommerfrische in der Waissnix’schen Pension, abfiel. Im Zuge der vermehrten Präsenz ostjüdischer Flüchtlinge während des Krieges, der Wirtschaftskrise der Jahre 1919 / 20, der Verarmung bürgerlich-jüdischer Schichten und deren Zersplitterung auf die Nachfolgestaaten der k.k. Monarchie zerbrach ein Teil dieser Netzwerke, während die weiter bestehenden sich mit dem aufkommenden Antisemitismus, konkret mit Aufrufen in Lokalzeitungen, an jüdische Gäste nicht mehr zu vermieten, konfrontiert sahen, und das nicht erst im Vorfeld von 1933, sondern bereits 1920.

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Die Sommerfrische
– Austragungsort vielfältiger Spielarten
antisemitischer Haltungen seit der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts

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Im ausführlichsten Beitrag des Bandes (S. 59–126) geht Günter Fellner den vielfältigen Spielarten antisemitischer Haltungen sowie den publizistischen Sprachregelungen gegenüber jüdischen Gästen / Fremden seit der liberalen Ära (1867 ff.) nach. Als Grundtendenz zeichnet sich dabei ein janusköpfiger Befund ab: eine Art Burgfrieden aus ökonomischen Gründen, vertreten durch einzelne Pragmatiker und durch Organe wie die Fremden-Zeitung, die dem »Fremdenindustriellen« anempfahl, »in seinem eigenen Interesse Kosmopolit« zu sein, damit sich die – man bedenke die Diktion – jüdische »Geldaristokratie« (S. 71) nicht zurückziehe, aber auch das Schüren antisemitischer Ressentiments durch die gleichzeitig aufkommende katholische Publizistik, die das Liberalismus-Feindbild als Synonym für das Judentum in toto heranzog.

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Das Trügerisch-Verlogene dieses Burgfriedens, dieser aufkommenden Gemütlichkeits-Industrie konnte jederzeit in kruden Fremdenhass und Antisemitismus, beide oft synonym verstanden, kippen wie zum Beispiel in den Krisenjahren 1919–22 und 1929–30. Da präsentierten sich per Gemeinderatsbeschluss oder über publizistische Kampagnen im Stürmer-ähnlichen Blatt Der eiserne Besen einzelne Land- und Seegemeinden stolzgeschwellt als »judenreine« Sommerfrischen, agitierten Antisemitenbünde in bäuerlich-biederer Umgebung gegen die ohnehin rückläufige jüdische Präsenz.

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Es bedurfte also nicht erst der Zäsur von 1933 f., um so herausragenden Exponenten des künstlerisch-literarischen Lebens wie zum Beispiel Arnold Schönberg, Carl Zuckmayer oder Stefan Zweig zu verstehen zu geben, unerwünschte Bürger, kaum geduldete Gäste zu sein (S. 105), was diese mit besorgten brieflichen Anmerkungen, Tagebucheintragungen, aber zum Teil auch erstaunlicher Verbundenheit mit ihren Wahlheimaten quittierten, Zuckmayer etwa in der Erzählung Ein Sommer in Österreich, zumal auch rühmliche Ausnahmen, in Gastein oder Henndorf beispielsweise, überliefert werden (S. 111).

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Die Festspielkultur
– Ein Konfliktfeld zwischen Weltoffenheit und
aggressiv-xenophober Provinzialität

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Als ungewöhnliche Syntheseanläufe aus Kultur, Weltoffenheit und latent aggressiv-xenophober Provinzialität können natürlich die Festspiele und deren Wahrnehmung in der lokalen Realität angesehen werden, wie Harald Waitzbauer in seinem Beitrag »›San die Juden schon furt?‹ Salzburg, die Festspiele und das jüdische Publikum« (S. 249–258) anhand einer Anekdote Ludwig Ullmanns in Erinnerung ruft. Denn als Kriegsgewinnler, Spekulanten oder Schieber wurden Touristen um 1920 zuallererst verdächtigt, als suspekte Fremdlinge, und flugs dem Judentum zugeordnet, selbst in prominenten Künstler-Fällen, wo dies jeder Grundlage entbehrte wie zum Beispiel im Fall des Schauspielers Alexander Moissi (S. 253). Erst die Einsicht in den ökonomischen Vorteil, den die Festspiele mit sich brachten, habe zur temporären Sistierung der dumpfen Fremdenfeindlichkeit und antisemitischen Hetze geführt, die sich unter anderem an Reinhardts Vorhaben, die Kollegienkirche zu nutzen sowie an seiner als mondän denunzierten Lebensform auf dem von ihm renovierten Schloss Leopoldskron beständig neu entzündete. Neben Reinhardt und einzelnen Exponenten aus dem Schauspiel-Bereich richtete sich die Aversion auch gegen Künstler wie Schönberg. Dieser wurde 1921, im Jahr der Überarbeitung seiner Harmonielehre, nach einem im Gemeinderat beschlossenen Arierparagraphen (!) aus Mattsee buchstäblich fortgeekelt, wie ebenfalls Waitzbauer in einem weiteren Beitrag (S. 153–173) nachzeichnet. Eine Erfahrung, die Schönberg irritierte, aber zugleich dazu beitrug, sich mit seinem Judentum intensiver zu befassen.

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Fallbeispiel
– Sommertourismus in Bad Gastein

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Ein tendenziell gegenläufiges Beispiel verkörperte das traditionsreichere Bad Gastein, dem eine ausführliche Fallstudie unter Einarbeitung lokaler Quellen aus dem soziohistorischen Umfeld gewidmet ist (S. 175–225). Ihr Verfasser Laurenz Krisch unterscheidet dabei drei Phasen, eine ›judenfreundliche‹ (bis 1929), eine des einsetzenden (Kontext: Weltwirtschaftskrise, 1930er Jahre) sowie eine des offenen Antisemitismus, wobei er letztere erst ab 1938, also dem so genannten ›Anschluss‹, datiert. Im Unterschied zu anderen Kurorten konnte Gastein bis Mitte der dreißiger Jahre gerade Gäste jüdischer Provenienz anziehen, bot zudem ein koscheres Restaurant an und blieb von lokalen antisemitischen Vereinigungen bis Mitte der zwanziger Jahre weitgehend verschont; ein lokaler Antisemitenbund wie er in fast allen Sommerfrischen bereits in den zwanziger Jahren etabliert war, kam beispielsweise nicht zustande (S. 196) und die Wirkung des deutsch-völkischen Turnvereins hielt sich offenbar in erträglichen Grenzen. Mit dem Erdrutschsieg der NSDAP bei den Landtagswahlen von 1932 wandelte sich freilich auch in Gastein das Blatt; erstmals wurde drei jüdischen Musikern die Aufnahme in das Orchester der Kurmusik verweigert (S. 200) und seit 1933 blieben Übergriffe auf jüdische Geschäfte und Touristen nicht mehr Einzelfälle, ja wurde diesen eine Mitverantwortung an der 1000 Mark-Sperre mit nachfolgendem drastischen Rückgang deutscher Gäste (von rund 45–50% bis 1932 auf 2–5% bis 1936) umgehängt. Die drei ortsansässigen jüdischen Bewohner Gasteins sollten die jeweiligen Verschleppungen 1941 / 42 nicht überleben.

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Nach 1945 – Verfolgung von
geschäftlich-touristischen Interessen
statt Trauer- und Erinnerungsarbeit

Dass Trauer- und Erinnerungsarbeit selbst nach 1945 kein Thema und letztlich nur die geschäftlich-touristischen Interessen relevant waren, geht aus dem daran anschließenden Beitrag von Helga Embacher über »Jüdische Gäste im Gasteinertal nach 1945« (S. 227–247) unmissverständlich hervor. So weckte die Einquartierung tausender jüdischer Flüchtlinge aus Osteuropa 1946 / 47 sofort die dumpfesten antisemitischen Schieber-Klischees, obwohl man gleichzeitig um wohlhabende (jüdische) Gäste buhlte, Exilanten, die es sich leisten konnten, aufnahm, welche in Gastein und anderen Kurorten einem habsburgischen Flair und somit einer besseren Vergangenheit nachlebten, sofern sie den Grundkonsens der Verdrängung der Verbrechen nicht in Frage stellten und sich der Opferthese anschlossen. Erst die Waldheim-Debatte riss die verlogenen Fassaden ein, wurde zum Schock für israelische Gäste mit mitteleuropäischer Vergangenheit, die sich zum Teil mit skandalösen Ausladungen konfrontiert sahen oder von sich aus Aufenthalte stornierten. Doch nicht nur die Schäbigkeit kleiner Hoteliers wird in den Beiträgen sichtbar, auch die der staatlichen Institutionen, wie Jutta Hangler am Fall der demütigenden Rückstellungsverhandlungen in den fünfziger Jahren rund um das arisierte Schloss Fuschl, »Beutegut des NS-Außenministers« (S. 259–280), aufzeigt.

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Fallbeispiel
– Sommertourismus am Wallersee
und der Fall Carl Zuckmayer

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Unter den weiteren Fallstudien verdient jene Christian Strassers (S. 127–152) Erwähnung, weil sie nicht nur die antisemitischen Sommerfrischen am Wallersee, allen voran Neumarkt mit der größten Ortsgruppe des Antisemitenbundes im Lande Salzburg, rekonstruiert, sondern weil sie als eine der wenigen mit Henndorf zugleich den Fall Zuckmayer aufgreift, dessen Bindung an den Ort bis zur traumatischen Arisierung seines Besitzes 1940 durch den Justiziar des gleichgeschalteten Ullstein-Verlags, in dem zuvor Zuckmayers Werk verlegt worden war, und das mühselige Rückstellungsverfahren 1946 f. anspricht.

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Fallbeispiel
– Sommertourismus in St. Gilgen
am Wolfgangsee

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Bemerkenswert, und dies auch in methodischer Hinsicht, ist die Fallstudie Albert Lichtblaus über St. Gilgen am Wolfgangsee (S. 281–315), einen interessanten jüdisch-nichtjüdischen Begegnungsraum. Dieser wird sowohl in der Literatur seit dem ausklingenden 19. Jahrhundert (M. v. Ebner-Eschenbach, Richard Beer-Hofmann), im Wiener Liedgut (Hermann Leopoldi) oder in Wissenschaftskontakten (Theodor Billroth, Jean Billiter) bis hin zu Remigrations- und Erinnerungstexten (Miguel Herz-Kestranek, Freda Ulman Teitelbaum, Frederic Morton) fassbar und vom Verfasser mit zum Teil berührenden Oral-History-Interview-Transkriptionen angereichert und konfrontiert, wobei in Einzelfällen erstaunliche, nahezu semipathologische Bindungen an diesen Raum auch aus dem Exil heraus aufrecht erhalten wurden beziehungsweise noch werden.

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Fragmentierte Künstlerkarrieren vor und nach 1945
– Die Mitwirkung jüdischer Künstler
an den Festspielen

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Mit dem Beitrag über Kleidung und Sommerfrische von Ulrike Kammerhofer-Aggermann (S. 317–334) und jenem Regina Thumsers über den Anteil jüdischer Künstler an den Festspielen, deren fragmentierte Karrieren auch nach 1945 unter der Ära Karajan, ergänzt um eine biographische Auflistung ins Exil vertriebener Künstler (S. 335–356), rundet und schließt sich das thematische Spektrum des Bandes.

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Rekonstruktion und Analyse von Mikrokosmen
– Ein kulturwissenschaftliches Plädoyer
für regionale und transregionale Problemstellungen

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Werden die literaturwissenschaftlichen Erwartungen aufgrund des (kultur)historischen Profils der MitarbeiterInnen zwar nicht wirklich zufrieden gestellt – hier hätten zum Beispiel Hilde Spiels Roman Verwirrung am Wolfgangsee (1935) oder Ernst Kreneks Reisetagebuch aus den österreichischen Alpen (1929) kongenial positioniert werden können – , so kann man diesen auch verlagsseitig ansprechend gestalteten Band jedenfalls als einen spannenden und erhellenden Streifzug durch zentrale österreichische Lebenswelten und Identitätsprojektionen auffassen. Kulturelle Transfers, aufkommende Gemütlichkeitsindustrie, Klischierungen und kaum verdeckte Neid- und Ausgrenzungshaltungen treten aus den jeweils analysierten und rekonstruierten Mikrokosmen deutlich hervor, womit sich ein kulturwissenschaftliches Plädoyer für einen neuen, differenzierten Blick auf regionale wie transregionale Problemstellungen ergibt, das trotz mancher (fast zwangsläufiger) Redundanzen insgesamt doch überzeugt und plausibel wirkt.