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»Bruder Dichter«

Rutger Sycambers Leben im Kloster für die Autorschaft

  • Andreas Beriger: Windesheimer Klosterkultur um 1500. Vita, Werk und Lebenswelt des Rutger Sycamber. (Frühe Neuzeit 96) Tübingen: Max Niemeyer 2005. XI, 371 S. 3 Abb. Leinen. EUR 76,00.
    ISBN: 3-484-36596-X.
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Gegenstand

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Andreas Beriger, der bereits das autobiographische Odeporicon des Johannes Butzbach in einer kommentierten Ausgabe mit Übersetzung zugänglich gemacht hat, 1 legt jetzt in vergleichbarer Gestalt ein zweites ausführliches Selbstzeugnis eines monastischen Privatgelehrten 2 in Deutschland aus der Zeit um 1500 vor, die Autobiographie des Augustiner-Chorherren Rutger Sycamber von Venray, vom Verfasser eine ›kurze Geschichte der Rechenschaft von Studium und Leben des Bruders Rutger Sycamber‹ (S. 130) überschrieben. Damit ist nicht nur erstmals der Text der Historiola greifbar, es liegt zugleich auch die erste Monographie vor zu einem äußerst produktiven lateinischen Schriftsteller in Deutschland, der auch Kennern der Epoche allenfalls dem Namen nach bekannt ist. Denn Rutger (1456 – nach 1514) verfaßte zeit seines Lebens eigene Schriften, aber kaum eine gelangte zum Druck und keine fand nennenswerte Verbreitung. Und selbst Johannes Trithemius, der einzige Autor von Rang, der ihn förderte, äußerte sich in den späteren Jahren ihrer Bekanntschaft zweideutig bis abschätzig über den Wert seiner zahlreichen Schriften. Rutger, der sich zugleich als Mönch und Dichter verstand und dieser Verbindung in der Figur des »Frater poeta« (S. 91) in einer satirischen Schrift Gestalt verlieh, gilt den Wenigen, die etwas von seinen Schriften wahrgenommen haben, nicht als verkanntes Genie, sondern als untalentierter Vielschreiber. Berigers Buch schafft durch die Editio princeps von Rutgers Autobiographie und durch einen Überblick über seine Schriften nun eine Grundlage für die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Außenseiter.

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Aufbau

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Wie schon im Fall des Odeporicon Butzbachs, so hat Beriger der Edition eine Einleitung in Leben (S. 1–48) und Werk des Verfassers (S. 49–110) vorangestellt; der Überlieferung ist ein eigenes Kapitel (S. 111–126) vorbehalten. Beriger erschließt auch diese Edition (S. 127–229) durch eine Übersetzung und einen vorwiegend historisch orientierten Kommentar. Im Anschluß an die Edition bietet auch Berigers neues Buch unter dem Titel »Rutgers Lebenswelt« (S. 231–349) eine nach Themen geordnete Interpretation der Autobiographie und der übrigen, zum weit überwiegenden Teil unedierten Schriften Rutgers. Um ein Gesamturteil vorwegzunehmen: Beriger hat ein höchst willkommenes Buch vorgelegt, das zu seinem Gegenstand unzweifelhaft ein Forschungsdesiderat erfüllt, gleichwohl ein überaus eigenwilliges und problematisches Buch, das, besonders im interpretatorischen Zugriff, Widerspruch hervorrufen wird. 3

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Einleitung und
Schriftenverzeichnis

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Da die meisten von Rutgers Schriften nur handschriftlich und zudem unikal überliefert sind, ist bereits die Einleitung in Leben und Werk eine Pionierleistung. Beriger hat Rutgers schriftliche Hinterlassenschaft komplett durchgearbeitet. Die Biographie ist aus den Quellen, Rutgers erhaltenen Schriften und den spärlichen Angaben in anderen Dokumenten erarbeitet und belegt. Zwei Karten (S. 3, 11) illustrieren Herkunftsgebiet und Itinerar Rutgers. Es fehlt in der Einleitung allerdings jeder Hinweis auf die Forschungsgeschichte und den Forschungsstand vor Einsetzen der Publikationen Berigers zum Thema 1994.

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Das 52 Seiten und 136 Positionen umfassende »Verzeichnis der Werke Rutgers« (S. 53–104) erschließt die schriftliche Hinterlassenschaft des Augustiner-Chorherren erstmals im Detail. Nur zwei seiner Schriften wurden zu Lebzeiten Rutgers gedruckt, beide erlebten keine weiteren Auflagen. Die übrigen erhaltenen überliefert eine Handschrift, die Rutger als zweiten Band seiner Werksammlung selbst anlegte und schrieb. Da Rutger über seine literarische Produktion gewissenhaft Buch führte und in mehreren Schriften den Inhalt seines bisherigen Werks zusammenfaßte, verteidigte oder widerrief, kann Beriger den Inhalt auch der meisten der verlorenen Schriften Rutgers in Umrissen erschließen. Das so entstandene Schriftenverzeichnis umfaßt 105 eigenständige Werke, für die Beriger nach Rutgers eigener Zählung Siglen (R1–R104 und R122) einführt. Neben 36 erhaltenen Schriften enthält es 69 verlorene, die nur dem Titel und Rutgers Angaben in anderen Schriften nach bekannt sind. Von den handschriftlich überlieferten Schriften sind außer der Autobiographie nur drei kürzere ediert, zwei davon in früheren Publikationen Berigers (vgl. S. 77, 89, 98, 353).

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Das Spektrum der von Rutger behandelten Themen, das hier erstmals faßbar wird, umfaßt unter anderem Ethik, das Zusammenleben im Kloster, Metrik, die Berechtigung der Dichtung. Rutger bediente sich bevorzugt des Prosadialogs, er schrieb geistliche Gedichte, legte Sammlungen fiktiver Briefe und Reden an und verfaßte satirische Revuen von Klosterbewohnern. Das Werkverzeichnis birgt für die Geschichte verschiedenster Gattungen der lateinischen Schriftlichkeit Überraschungen, so etwa einen – zugleich in Anlehnung an und in Abgrenzung zu Poggio Bracciolini (vgl. S. 73) verfaßten – Liber facetiarum. 4 Bereits im Werkverzeichnis erschließt sich die Problematik von Rutgers Autorschaft. Rutger schrieb fiktive Briefe (vgl. S. 36) an wichtige Gelehrte seiner Zeit, war aber oder sah sich außerstande, diese überbringen zu lassen. Ebenso dürften die Widmungen der zu Lebzeiten ungedruckten Werke ihre Adressaten in den selteneren Fällen erreicht haben. Das Schreiben war ihm Lebensinhalt, doch kaum jemand las seine Schriften, und wer sie las, würdigte das literarische Wollen mehr als den Wert des Ausgeführten.

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Beriger referiert zu jeder erhaltenen Schrift Überlieferung, Widmungsempfänger, Aufbau und gibt ein Regest; bei den verlorenen Schriften verweist er seitengenau auf den Fundort der Information über Titel und Inhalt. Zu bemängeln ist, daß im Werkverzeichnis bei den zahlreichen Gedicht- oder Abschnittsüberschriften Zitate nicht gekennzeichnet sind; es entstehen unklare Mischformen aus Paraphrase und Zitat (vgl. S. 79 f. u. ö.). Da die Angaben im Werkverzeichnis überdies – bis auf die Angaben in den Regesten – unkommentiert sind, bleibt mancher Name auch für den im deutschen Humanismus bewanderten Leser rätselhaft. Es fehlen zu sämtlichen Gedichten Angaben über Versmaß und Umfang; der formale Anspruch von Rutgers Versdichtung wird nicht erkennbar. Ein Regest enthält eine entstellende Flüchtigkeit: Der (verlorene) Traktat De rudimentis poetices war kein »metrisch-prosodisches Werk« (S. 64), das heißt ein in Metren verfaßtes, sondern eines über Metrik und Prosodie.

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In den Angaben zu den kleinen Beiträgen zu Drucken anderer Autoren (S. 105–107) fehlen Blattangaben; sie sollten bei Zitaten aus Frühdrucken ebenso selbstverständlich sein wie bei Zitaten aus Handschriften. Die Verzeichnung von Frühdrucken, seien es die beiden gedruckten Schriften Rutgers (S. 101 f., 104), seien es die Drucke anderer Autoren, zu denen Rutger Kleinigkeiten beisteuerte, ist uneinheitlich und willkürlich. Das gilt für die Ansetzung von Verfassernamen, die Bildung von Kurztiteln, die Angabe von Druckort und Drucker bis hin zu bibliographischen Nachweisen. So wird zu Inkunabeln einmal die Hain-Nummer angegeben (S. 105) – der Katalog fehlt im Literaturverzeichnis –, bei Drucken des Trithemius stehen Verweise auf die maßgebliche Personalmonographie (S. 105 f.), Dietrich Gresemunds d. J. Lucubraciunculae werden gar mit der Signatur eines erhaltenen Exemplars nachgewiesen, obwohl der Gesamtkatalog der Wiegendrucke den Druck verzeichnet. 5

[11] 

Mit Hilfe der Online-Datenbank zum genannten Gesamtkatalog läßt sich mindestens eine Ergänzung zum Werkverzeichnis ermitteln. Rutger steuerte außer den verzeichneten Gedichten einen auf den 22. Januar 1495 datierten Brief (Bl. a iir–iijr) und ein Schlußgedicht (Bl. [J 10]r, Incipit: »[D]e veteri lympha frater dictus generose«) zum Druck von Johannes Paleonydorus’ De principio et progressu ordinis Carmelitarum (Mainz: Peter Friedberg, 1497) bei. 6 Der Brief an Paleonydorus, 7 eine Ermunterung zum Druck der Schrift, ist auch im Briefverzeichnis (S. 108) zu ergänzen.

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Ein Eintrag im Werkverzeichnis ist zu streichen. Rutger erzählt in der Autobiographie, daß er Rinuccio Aretinos lateinische Übersetzung von Lukians Versteigerung der Philosophenleben bereits in der Schule auswendig gelernt habe (vgl. S. 144 f.). An anderer Stelle berichtet er, daß Johann von Dalberg, wichtigster Förderer des deutschen Humanismus im 15. Jahrhundert, ihm erzählt habe, er habe einen von Rutgers Dialogen ins Deutsche übersetzt, 8 und aus einer dritten Stelle geht nach Beriger (vgl. S. 34) hervor, daß »die lateinische Fassung des Lukian-Dialoges« (S. 34) derjenige Dialog gewesen sei, den Dalberg verdeutscht habe. 9 Aus diesen verworrenen Angaben zieht Beriger den Schluß, unter den »[n]achgewiesene[n], aber verlorene[n] Werke[n]« (S. 107) auch Rinuccios Lukian-Übersetzung anzuführen (vgl. ebd.). Aber die Abschrift eines fremden Werkes, auch die (erstaunliche) Niederschrift eines kompletten Dialoges aus dem Gedächtnis macht aus diesem nicht Rutgers Eigentum, zumal dieser mehrfach betont, des Griechischen nicht mächtig zu sein (vgl. S. 31 f., 170).

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Fragwürdig ist die Rubrik »Fälschlich zugeschriebene Werke« (S. 110), da die Fundorte der angeblichen Fehlzuschreibungen und Kriterien ihrer Fehlerhaftigkeit nicht expliziert werden. So verzeichnete eine historische Bibliographie einen Deventerer Druck mit dem Titel Collectanea latine loquutionis von 1516, der ein bereits zuvor gedrucktes Gedicht Rutgers enthält, zunächst unter Rutgers Namen, 10 versah diese Zuschreibung, die aufgrund eines unvollständigen Exemplars – das Titelblatt mit der Verfasserangabe fehlte – erfolgte, aber mit mehreren Einschränkungen. Schon der zweite Band des mehrbändigen Werks ergänzte und berichtigte die Beschreibung durch eine solche, die auf einem vollständigen Exemplar beruht. Darin wurde der Druck als Ausgabe eines verbreiteten Schulbuchs des Jacobus Montanus Spirensis erwiesen und die ältere Zuschreibung hinfällig. 11 Beriger referiert an zwei Stellen (S. 102, 110) unter alleinigem Hinweis auf Band 1 der Nederlandsche Bibliographie die Fehlzuschreibung, ohne die Korrektur im 2. Band zur Kenntnis zu nehmen, ohne Montanus’ Namen auch nur zu nennen, dessen Autorschaft bereits im zitierten Band 1 erwogen wurde 12 und unter Berufung auf vermeintliche Merkmale des Drucks, die nur dem defekten Exemplar eignen. Bei kundigem Umgang mit den Hilfsmitteln hätte der Eintrag entweder fortfallen oder der Sachverhalt korrekt dargestellt werden können. Ähnlich undurchsichtig ist der zweite Eintrag (S. 110), dem ich nicht auf den Grund gegangen bin.

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Die Handschriftenbeschreibung

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Die autographe Handschrift (Köln, Historisches Archiv der Stadt, W 340), die die Historiola wie den überwiegenden Teil von Rutgers Schriften überliefert, erhält eine ihrer Bedeutung entsprechende ausführliche Beschreibung (S. 112–126). Beriger kann darüber hinaus einen Brief Rutgers beibringen, der den Autographenstatus der Kölner Handschrift sichert. Doch die Annahme, diese beiden Dokumente seien die einzigen erhaltenen Stücke von seiner Hand, ist wohl irrig, denn die beiden in der Universitätsbibliothek Basel erhaltenen (Original-)Briefe an den Drucker Johann Amerbach dürften ebenfalls autograph sein. 13 Die Beschreibung der Handschrift wird gestört durch Mutmaßungen über die Entstehungsbedingungen und die Person des Schreibers. Fehl am Platz sind auch die Überlegungen zu »Rutger als Illuminator« (S. 122, 124), da sie sich nicht auf erhaltene Illuminationen, sondern auf eine von Rutgers Schriften beziehen. Man vermißt dagegen einen Hinweis darauf, daß der Kölner Stadtarchivar Hans Gerig in den 1950er Jahren Vorarbeiten zu einer Ausgabe unternommen hatte. 14 Nicht immer zeigt sich Beriger zudem mit der Terminologie der Kodikologie vertraut (vgl. S. 124: »ein[ ] schöne[r] Grossbuchstabe[ ]« für eine Initiale), zuweilen verfällt er in Kolloquialstil (vgl. S. 122: »im Wort drin« für das Wortinnere).

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Die Edition

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Dargeboten werden Text, Übersetzung und Kommentar in leserfreundlicher Form, lateinischer Text und Übersetzung auf gegenüberliegenden Seiten, der Stellenkommentar in zwei Apparaten als Fußnoten. Die Grundsätze der Edition sind in 14 Punkten dargelegt (S. 126 f.). Sie sind im Ganzen plausibel, aber offenbar unvollständig formuliert. So schreibt Beriger im achten Grundsatz (S. 127), er habe unter Rückgriff auf den Werktitel Historiola rationis studii viteque nur einen Zwischentitel ergänzt, der dann in eckigen Klammern erscheint (»[Ratio vite]«), doch in denselben eckigen Klammern steht bereits der erste Zwischentitel (S. 136: »[Ratio studii]«). Auch dieser scheint vom Herausgeber eingesetzt zu sein, da Beriger festhält, daß in Rutgers Werken »Überschriften [...] nur am Anfang eines Werkes« vorkommen (S. 127).

[18] 

Blatt- und Spaltenzahlen der Handschrift sind der Edition beigegeben; gemeinsam mit einer vom Herausgeber eingeführten Zeilenzählung, die mit jeder Spalte der Handschrift neu einsetzt, 15 ermöglichen diese Angaben eine zeilengenaue Zitation, die Beriger selbst in seinen Querverweisen verwendet. Konsequenter wäre es gewesen, die Zeilen jeder Seite der Edition neu durchzuzählen, da die von Beriger eingeführte Zitierweise Merkmale der Handschrift (Blatt- und Spaltenzahl) mit solchen der Edition (Zeilenzählung) vermengt.

[19] 

Die Edition hat zwei Apparate, einen ersten, der Erläuterungen zu seltenen Wörtern und textkritische Anmerkungen enthält, und einen zweiten, vorwiegend mit Sach-, aber doch auch wieder mit Worterläuterungen. Beriger hätte den ersten Apparat konsequenter auf die textkritischen Anmerkungen beschränken und alle Erläuterungen im zweiten Apparat unterbringen sollen. Im ersten Apparat wären dann nur sieben Konjekturen verblieben. Von diesen ist zumindest die erste nicht zwingend. Rutger datiert als älteste Erinnerung seinen Schulbesuch in Jülich »circa annum 14[5]1 vel circiter« (S. 136), Beriger korrigiert das Jahr »aus chronologischen Gründen« (ebd. Anm. a) im Text zu »1461«. Daß hier »eine Verschreibung« (S. 2 Anm. 2) vorliegt, ist nicht sicher, ebensogut könnte ein Erinnerungsfehler vorliegen, der besser in den Anmerkungen korrigiert worden wäre. Die übrigen Konjekturen sind zwar klare Textbesserungen, doch hätte man angesichts der Überlieferung im Autograph noch zurückhaltender verfahren können. Elf Fälle des ersten Apparats enthalten Erläuterungen zu Streichungen, nachträglichen Besserungen und marginalen Hinzufügungen in der Handschrift. Diese im Apparat unterzubringen, entlastet das Schriftbild der Edition und ermöglicht es Beriger, mit Ausnahme von eckigen Klammern ganz auf editorische Sonderzeichen zu verzichten. Doch nicht immer (vgl. S. 158 Anm. i) sind die Erläuterungen zum Schriftbild zweifelsfrei eindeutig.

[20] 

Der Text der Edition gibt sprachlich wenig Anlaß zu Zweifeln an der Treue des Herausgebers zu seiner Vorlage. Auch dort, wo Transkriptionsfehler vermutet werden könnten, gibt mehrfaches Schwanken in der Graphie Anlaß zur Annahme, daß die Handschrift die uneinheitliche Graphie bietet, so beim Auftreten von »imprimatur« neben (unklassischem) »premerentur« und »impremat« (S. 198) in ein und demselben Abschnitt.

[21] 

Korrekturbedürftige lateinische Texte stehen dagegen in folgenden Zitaten außerhalb der Edition:

[22] 
S. 105, [Z. 7] lies: »devotum«,
[23] 
S. 240, [Z. 5 von unten] lies: »Yacho« (Iacchus = Bacchus, metonymisch für ›Wein‹),
[24] 
S. 296, Z. 3 und 5 von unten lies: »suiipsius« beziehungsweise »sui ipsius« (vgl. S. 97),
[25] 
S. 340, Z. 10 von oben, lies: »perit«, allenfalls »periit«.
[26] 

Den Abschluß der Autobiographie bilden drei Gedichte Rutgers an Arnold von Deventer, den Adressaten auch der gesamten Autobiographie. Beriger faßt sie zu Recht als Teil des Werks auf, druckt sie ab und übersetzt sie (S. 220–229). Er verzichtet jedoch auf jeden Kommentar zu den drei Carmina, gibt nicht einmal die Metren an. Auch die Texteinrichtung ist hier uneinheitlich. Während im abschließenden Gedicht die stichischen Einheiten von je vier katalektischen iambischen Dimetern 16 durch Einzug und Großschreibung des ersten Wortes abgesetzt werden, unterbleibt dies bei der vorausgehenden sapphischen Ode, deren Strophen auch durch das Fehlen des üblichen Einzugs des Adoneus ein ungewohntes Schriftbild bieten.

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Zum Kommentar

[28] 

Der Kommentar erhebt keinen Anspruch auf erschöpfende sprachliche Kommentierung der Vita, auch nicht den der vollständigen Nachweise von Zitaten und Similien, wie ihn eine Edition nach den Usancen der mittel- beziehungsweise neulateinischen Philologie stellen würde.

[29] 

Die Hinweise zu Rutgers lateinischem Sprachgebrauch sind überwiegend zutreffend, selten jedoch ausreichend begründet. Wenn Rutger etwa für sein Schreiben den Selbstanspruch stellt, »Licht der Welt« (S. 194: »lumen mundi«) zu sein, so begründet ein Verweis auf dieselbe Junktur bei Trithemius noch nicht die Behauptung, »lumen mundi« sei »der Standard-Ausdruck für den gebildeten Humanisten« (ebd. Anm. 187). Die Bezeichnung ist vielmehr eine konventionelle, aus der Bibel (vgl. Matthäus 5,14 und Johannes 8,12) stammende Metapher für einen Gelehrten in humanistischer Biographik und Panegyrik.

[30] 

Ein Fehlgriff liegt im Kommentar zur Stelle vor, an der Rutger sein Latein als »coquinari[um] me[um] Latin[um]« (S. 170) bezeichnet. Beriger meint, daß dies der »wohl früheste Beleg für dieses Wort sei« (ebd. Anm. 126). Die Brandmarkung fehlerhaften Lateins als ›Latein der Köche‹ geht jedoch auf Lorenzo Valla zurück, der um 1452 / 53 in einer innerhumanistischen Polemik Poggio Bracciolini vorgeworfen hatte, »vocabula culinaria« zu verwenden und ein Latein zu schreiben, wie es die Köche sprächen. 17 Dieser kleine Irrtum ist schnell berichtigt; methodisch unzulässig ist jedoch die Tatsache, daß Beriger seine Vermutung damit begründet, daß das Grimmsche Deutsche Wörterbuch als ältesten Beleg für das deutsche Wort ›Küchenlatein‹ eine Stelle aus einer Schrift Martin Luthers von 1523 bietet, 18 da es im gegebenen Zusammenhang um die Begriffsgeschichte des zugrundeliegenden lateinischen Ausdrucks geht. 19

[31] 

Häufig vermißt man im Kommentar den Hinweis auf Standardwerke der lateinischen oder deutschen Philologie. Den Hexameter, demzufolge aus einem jungen Engel oft ein alter Teufel werde (vgl. S. 136), von Beriger zu Recht als »bekannte[s] und verbreitete[s] Sprichwort« (ebd. Anm. 17) bezeichnet, verzeichnet das parömiologische Standardwerk in der von Rutger zitierten Form. 20 Auch in den Zitaten aus Rutgers übrigen Schriften läßt Beriger solche Nachweise aus, so werden die S. 266 zitierten »Merkverse« nicht identifiziert und ihr Zitatcharakter bei Rutger nicht erkannt. 21

[32] 

Besser als bei den sprachlichen Erläuterungen sieht es bei den Sachanmerkungen aus. Sachliche Fehler begegnen nur aufgrund unglücklicher Wortwahl des Kommentators. 22 Die kirchen- und lokalgeschichtliche Forschung zu den Windesheimer Klöstern, in denen Rutger lebte, ist in Grundzügen verarbeitet. Bereits vor Erscheinen der Edition hat Beriger in drei Beiträgen (verzeichnet auf S. 353) selbst aus Rutgers Schriften zur Erhellung der Geschichte dreier Konvente beigetragen. Doch hätte Thomas Kocks Monographie zum Buchgebrauch der Devotio moderna, die einläßlich auch auf den Bibliothekskatalog des Klosters Böddeken eingeht, 23 nicht übergangen werden dürfen, ebenso sein Aufsatz zur Buchproduktion in den Windesheimer Klöstern Kirschgarten und Böddeken 24 . Beide Beiträge werfen helles Licht auf die wichtige Rolle der (auch kommerziellen) Schreibtätigkeit in den Windesheimer Klöstern und machen verständlich, warum Rutgers Schreiben, das Verfassen eigener Werke, nicht immer die Unterstützung seiner Konvente fand. Ferner fehlen im Kommentar Spezialuntersuchungen zu erwähnten Personen wie Simone Drückes Monographie zu Johann Gottfried, Rutgers »amicus singularis« (S. 176). 25 Zu Wilhelm von Velde (Veldicus) hätte nicht nur Berigers eigener Artikel von 1994 genannt werden sollen (S. 28), sondern mindestens noch Falk Eisermanns Artikel im Verfasserlexikon. 26 Die Übersetzung von Lukians Versteigerung der Philosophenviten durch Rinuccio Aretino war zum Zeitpunkt, als Rutger sie in der Schule las, nicht nur in Handschriften (S. 144 Anm. 40), sondern auch in vier Inkunabeldrucken verbreitet. 27

[33] 

Zur Übersetzung

[34] 

Berigers Übersetzung ist im Ganzen lesbar und meist verläßlich. Bei genauerer Prüfung ergeben sich allerdings zahlreiche Fragen. Es können nur Beispiele genannt werden: Die gehäuft auftretenden sprach- und stilbezeichnenden Vokabeln sind offenkundig bei mehrfachem Vorkommen nicht konsequent mit demselben deutschen Wort wiedergegeben, auch wird ein deutsches Wort nicht exklusiv für ein lateinisches verwendet. »inelegans« (S. 172, 174) übersetzt Beriger einmal mit »rüpelhaft« (S. 173), ein anderes Mal mit »unelegant« (S. 175), an anderer Stelle gibt er »agrestis« (S. 176), an einer dritten »rudis« (S. 200) mit »rüpelhaft« (S. 177 und 201) wieder. Für ›inelegans‹ und ›rudis‹ ist aber »rüpelhaft« viel zu stark, die Adjektive bedeuten bezogen auf eine Person ›ungebildet‹ oder ›unerfahren‹, allenfalls ›ungehobelt‹, bezogen auf Schriften und deren Stil ›ungeglättet‹ oder ›unbearbeitet‹.

[35] 

Im Kontext von Rutgers Schulerinnerungen übersetzt Beriger die Wendung »dictamina fabricare« (S. 148) durch die Wendung »die als Aufgaben gestellten Texte schreiben« (S. 149) und behauptet in einer Anmerkung, daß ein »dictamen eine Schulaufgabe« (S. 148 Anm. 50) sei. An der betreffenden Stelle steht die Wendung aber komplementär zum Verfassen von Versen (S. 148: »versus [...] condere«) und im folgenden Satz definiert Rutger explizit ein ›dictamen‹ als eine »prosa[ ] levissima[ ]«(ebd.). ›dictamen‹ ist bei Rutger demnach offenbar – wie überhaupt im Mittellatein – ein kurzer Prosatext, besonders aber ein Brief. 28 Das Verfassen von Briefen und Carmina ist Hauptinhalt des Lateinschulunterrichts, daher kann ›dictamen‹ auch ›Schulaufgabe‹ bedeuten, aber hier ist die Gegenüberstellung zu den Versen dominant. Entsprechend ist auch Rutgers vorausgehender Bericht über seine Beschäftigung in Freistunden (vgl. ebd.: »aut dictavi quippiam aut versus fabricavi«) wiederzugeben mit ›schrieb Prosa oder verfaßte Verse‹ statt mit Beriger »diktierte etwas« (S. 149).

[36] 

Die »prisci scriptores« (S. 200) sind eher die antiken Schriftsteller als »alte Schriftsteller« (S. 201). Verdächtig, aber nicht nachprüfbar sind einige Fälle aus den übrigen Teilen des Buchs, in denen Beriger in eigener Übersetzung aus den übrigen Schriften Rutgers zitiert (vgl. S. 336: gefördert statt »promoviert«?; S. 335: Befähigung statt »Fakultät«?).

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Sprachliche Defizite

[38] 

Die sprachliche Darbietung ist nicht nur in einigen Passagen der Übersetzung, sondern in allen Teilen des Buches unbeholfen, teils bis zur Agrammatikalität oder zur logischen Inkonsistenz. Ein Lektor hat dem Manuskript augenscheinlich gefehlt, kein Reihenherausgeber scheint es gründlich gelesen zu haben. So bringt Rutger bestimmten Bezeichnungen antiker Metren »Verständnis [...] gegenüber« (S. 64), wo es ›entgegen‹ heißen müßte, er verfaßt eine »eifrige Rede« (S. 58), wo eine eifernde gemeint ist; eingangs des letzten Kapitels kündigt Beriger an, daß häufig »auf die Autobiographie zurückgeschlossen« werde (S. 231), wo nur ›zurückverwiesen‹ gemeint sein kann. Zuweilen widerstreitet die Aussage des ersten Satzhälfte derjenigen der zweiten (vgl. S. 124: »Es sind leider keine Floraturen Rutgers erhalten [...], und wenn sie dennoch erhalten geblieben sind [...]«). Ständig begegnen abundante Adverbien (vgl. S. 63: »ganz besonders bemerkenswert«; S. 112: »ganz großer Gelehrter und Schriftsteller« usf.). Fast auf jeder Seite der Darstellung stehen rhetorische Fragen, Ausrufezeichen und Sätze, die mit drei Punkten enden. Auf solche Mittel der Darbietung, die Unausgesprochenes andeuten, Zustimmung erheischen oder Empörung signalisieren, sollte eine wissenschaftliche Darstellung verzichten; fehlende Eindeutigkeit erschwert Nachprüfbarkeit und Kritik.

[39] 

Verzeichnisse
und Index

[40] 

Hilfreich ist der »Index zu Rutgers Autobiographie« (S. 369–371), doch erschließt er nur Orts- und Personennamen, die im Text der Autobiographie vorkommen, nicht den Rest des Buches und nicht einmal die Anmerkungen zur Edition. Die Namen sind nicht konsequent vereinheitlicht, so heißt der Prior des St. Leonhardsklosters in Basel einmal »Johannes Stolz (zer Leyen) von Deventer« (S. 152 Anm. 63), ein andermal »Johannes zer Leyen (Stolz) von Deventer« (S. 154 Anm. 71), im Index aber »Johannes von Deventer« (S. 370). Ein Index zu den übrigen Teilen des Buches fehlt und wird besonders deshalb vermißt, weil bereits das Werkverzeichnis mit den dort verzeichneten Briefen und Gedichten prosopographische Informationen auch für andere Schriftsteller bereithält (vgl. S. 82 f., 107–109).

[41] 

Redaktionelle
Konsistenz

[42] 

Auch der redaktionelle Zustand der Monographie ist nicht makellos: Der S. 107 verwendete Kurztitel »Gieseler, Symbolae« fehlt im Literaturverzeichnis, ist jedoch mithilfe von Berigers erster Monographie aufzulösen. 29 Die Bildung von Kurztiteln ist überhaupt uneinheitlich ausgefallen (vgl. etwa S. 28 Anm. 128, 130, 131). Selbst die Titel von Rutgers Schriften werden uneinheitlich zitiert, dieselbe Schrift heißt einmal »Opus epistolarum« (S. 66), ein andermal »Liber Epistularum« (S. 117), eine zweite bald »Contra vicium appotationis« (S. 59), bald »De vitio potationis« (S. 341). Unüblich sind Namensformen wie »Geert de Groote« (S. 246) oder »Heinrich Bünau« (S. 339) für Geert Groote und den Ritter Heinrich von Bünau. Auch sachliche Fehler wie »Origines« (S. 74, 252) statt Origenes sind nicht ausgemerzt.

[43] 

Zum Zugriff auf
Werk und Autor

[44] 

Beriger steht nicht in der Gefahr, seinen Gegenstand zu glorifizieren. Im Gegenteil – er attestiert Rutger »maßlose Selbstüberschätzung« (S. 68), »Größenwahn« (S. 247) und eine »geradezu unglaubliche[ ] Einfalt« (S. 232); sein literarisches Schaffen ist ihm »Schreiberei« (S. 251). Nach der Lektüre der Autobiographie und des Schriftenverzeichnisses wird man diese Urteile zu einem gewissen Grad nachvollziehen können; anders als etwa Butzbachs Odeporicon oder die Lebensbeschreibung Thomas Platters interessiert Rutgers Historiola nur noch als historisches Dokument, gibt nicht wie jene Zeugnis von einem bewegten menschlichen Leben und Leiden. Und auch zuvor wurde Rutger »krankhafte literarische Fruchtbarkeit« 30 bescheinigt. Doch werden aus solchen Verdikten, solange sie ohne Kriterium gefällt werden, keine literatur- oder kulturgeschichtlich brauchbaren Urteile. Sie bleiben bei Beriger – hierin entspricht sein Ansatz der Darstellungsweise – vorwissenschaftlich.

[45] 

Die allein genannten Kriterien, »Sprunghaftigkeit, Unaufrichtigkeit, Widersprüchlichkeit« (S. 231) beziehungsweise mangelnde »Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit« (S. 243) vermischen Beobachtungen an den Texten (Sprunghaftigkeit, Widersprüchlichkeit) mit ethischen und psychologischen Kriterien. Dabei ist Beriger in seinen Urteilen nicht konsistent. Während Rutger zumeist der »Unaufrichtigkeit« (S. 231 u. ö.) geziehen wird, ist einmal doch seine »Naivität [...] der beste Garant für seine Wahrhaftigkeit« (S. 232). Immer wieder läßt sich Beriger zu Spekulationen über psychologische Motive Rutgers oder der von ihm geschilderten Personen hinreißen (vgl. S. 266 f.), die mit überliefertem Text nur zum Teil begründet werden, diagnostiziert gar bei Rutger eine »sexuelle Neurose« (S. 256). Die Gattung der Autobiographie und der tagebuchähnliche Charakter vieler anderer Schriften Rutgers laden zu mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen ein, und die Literaturwissenschaft tut gut daran, sie zu stellen. Beriger stellt und beantwortet sie aber ohne historisch reflektierte Kriterien und das macht seine Darstellung angreifbar. 31

[46] 

Häufig handelt Beriger ironisch über seinen Gegenstand oder referiert den Inhalt von Schriften mit archaisierenden Wendungen (S. 59: »gar leicht«; S. 249: »seine unsterblichen Gedanken«; S. 339: »diese ach so verdorbene Zeit«). Dieser Darstellungsmodus hat in einer wissenschaftlichen Arbeit zu unterbleiben, da notwendigerweise undeutlich wird, ob die Ironie nach dem Verständnis des Referenten Teil der referierten Schrift ist oder ihr von diesem entgegengebracht wird. Ebenso dient der kolloquiale, bisweilen flapsige Stil (vgl. nur S. 298), in dem Beriger seine thematische Übersicht über Rutgers Schriften präsentiert, nirgends der Klärung einer wissenschaftlichen Fragestellung.

[47] 

Eine solche wird man allerdings in Berigers Interpretation vergeblich suchen. Sein Zugriff auf Rutgers Werk ist vielmehr gänzlich geprägt von ethischen und psychologischen Kriterien, die unausgewiesen an die Schriften herangetragen werden. Beriger ist bemüht, ein Charakterbild Rutgers zu zeichnen, das er sodann nach seinen modernen Kriterien, erkennbar kirchen- und religionskritischen, bewertet. Nach Maßgabe dieser Kriterien ist Rutger für Beriger – so der letzte Satz des Buches – nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Mensch »am Krebsgeschwür seiner eigenen Frustration gescheitert« (S. 349).

[48] 

Beriger bleibt aber bei dieser an sich schon höchst problematischen Charakterschau und -wertung nicht stehen; er versucht darüber hinaus, aus den satirischen, moralistischen, und geistlich-didaktischen Schriften Rutgers ein Porträt der »Windesheimer Klosterkultur um 1500« zu gewinnen. Dieses kann nur ein Zerrbild sein.

[49] 

Zum Titel

[50] 

Ein Fehlgriff ist daher der Titel des Buches. Ein Überblick über die »Windesheimer Klosterkultur um 1500« kann aus den Schriften Rutgers nicht gewonnen werden. Rutgers Leben, Werk und Lebensbeschreibung sind keineswegs repräsentativ für das Leben und die Mentalität, nicht zuletzt auch für den Gebrauch und die Produktion von Literatur bei den Windesheimern. Rutger ist ein krasser Außenseiter im Kloster, empfindet dies auch und beklagt es auf bald jeder Seite seiner Vita.

[51] 

Erläuterungen über die Windesheimer Kongregation der Augustiner-Chorherren, ihr Hervorgehen aus der Devotio moderna, das Verhältnis zu den übrigen regulierten Chorherrenstiften und Hinweise auf verwandte Reform- und Observanzbewegungen des Spätmittelalters gibt Beriger kursorisch in Einleitung und Kommentar, etwas ausführlicher im Kapitel »Rutgers Lebenswelt«, dort aber nach Maßgabe der Themen von Autobiographie und übrigen Schriften Rutgers, die die Lebensweise der Windesheimer moralisierend, satirisch oder in anderen Formen fiktiver Brechung beleuchten. Beriger aber nimmt Rutgers satirische Kritik an den Zuständen im Kloster für Gegenstandsbeschreibungen (vgl. etwa S. 347) und erkennt einen »Prozess der Degeneration, der Verweichlichung und des Zerfalls, der die Reformbemühungen und Observanzbestrebungen der einst so strengen Windesheimer arg in Frage stellt« (S. 348).

[52] 

Die Monenda zur unzureichend verarbeiteten Forschungsliteratur gelten nicht nur für den Kommentar, sondern ebenso für die entsprechenden Passagen in Einleitung und dem interpretierenden fünften Kapitel. Die Ausführungen zum Lesen und Schreiben in Windesheimer Klöstern (S. 245–255) leiden unter anderem daran, daß Beriger die (lebhafte) Forschung zu Literatur und Schriftlichkeit im Umkreis der Devotio moderna nicht verarbeitet hat 32 und selbst nächstbenachbarte Autortypen wie Rutgers Freund Wilhelm von Velde nicht in ihrer verwandten Problematik, der Autorschaft ohne Verbreitungserfolg, würdigt. 33

[53] 

Die Ausführungen eingangs des Kapitels über die Lebenswelt, die darlegen, daß in dem Kapitel »nicht zwischen Fiktion und Abbildung der Umwelt getrennt« (S. 231) wird, und dies damit zu begründen suchen, daß Rutger zu einer solchen Unterscheidung »ganz einfach nicht fähig« (ebd.) sei, basieren auf einem Fehlschluß von der Darstellung auf die dargestellte Sache. Eine zweite Bemühung um Begründung des Verhältnisses von Rutgers Schreiben und der Realität ist ebenfalls logisch hinfällig. Rutgers »abschätzige[ ] Bemerkungen« (S. 231 f.) über einen Prior sollen dadurch »bestätigt [werden], dass auch aus anderen Quellen hervorgeht, dass er einmal abgesetzt worden ist« (S. 232), durch historische Fakten sollen Rutgers »Angaben« sogar »überprüft werden« (S. 231) können. Basierend auf solchen Überlegungen läßt sich nicht belegen, daß Rutgers Schriften ein Abbild der »Windesheimer Klosterkultur um 1500« bieten. Das abschließende Kapitel handelt demnach nicht von der Kultur der Windesheimer Klöster, sondern bietet die Beschreibung wichtiger Themen eines Werkes, das ganz in Konventen der Windesheimer Kongregation entstanden ist und die Erfahrung der Klosterwelt in moralistischen, satirischen und didaktischen Schriften verarbeitet.

[54] 

Perspektiven einer
literaturgeschichtlichen Würdigung
Rutgers

[55] 

Grundlegende literaturwissenschaftliche Fragen, wie die nach Gattungszugehörigkeit, Darstellungsprinzipien oder Erzählhaltungen, werden in Berigers Interpretation der Historiola nicht gestellt. 34 Einzig zur Frage literarischer Muster weist Beriger auf die – für Rutger als Augustiner-Chorherren – fraglos wichtigen Confessiones (VIII 12, 29) des Augustinus hin (vgl. S. 21–23).

[56] 

Ausgangspunkt für eine weitere Beschäftigung mit Rutger könnte die (von Beriger nicht gestellte) Frage sein, aus welchen Gründen Rutgers Anspruch, ein Gelehrter und ein Dichter zu sein, nach Maßgabe einer meßbaren Rezeption scheitert. Seine Autorschaft ist nicht nur das Hauptthema der autobiographischen Historiola, sondern auch weiterer Schriften. Er selbst mißt seinem Schreiben Werkcharakter zu. Sein Selbstanspruch, ein humanistischer Schriftsteller zu sein, läßt sich aus dem Wortlaut der Historiola belegen (vgl. S. 152, 198, 184), ebenso sein Anspruch, ein »poeta« zu sein und dies von Natur und aus Berufung (vgl. S. 247). Rutger – dies zeigt seine Wort- wie seine Themenwahl – möchte am humanistischen Diskurs seiner Zeit teilnehmen. Doch schon sprachlich kann er diesem Anspruch auch nicht ansatzweise genügen, und dies dürfte der wichtigste Grund für den geringen Erfolg gewesen sein. Allerorten begegnen in der Historiola unklassische Formen wie »rigmi« (S. 146), »mentetenus« (S. 140) beziehungsweise »cordetenus« (S. 144) oder »carnalitates« (S. 164). Von Beriger zitierte gereimte und rhythmische lateinische Verse (S. 266, 278) legen nahe, daß Rutger die humanistische Wiederentdeckung klassischer Metrik als Grundlage lateinischer Dichtung nicht vollständig nachvollzogen hat. Eine seiner Gedichtsammlungen enthält einen Zyklus von 34 Gedichten, deren Überschriften ebenso stereotyp wie grammatisch fragwürdig »Ad picturam, ubi [...]« (S. 95–97) beginnen.

[57] 

Rutgers Latein ist demnach offenkundig trotz einzelner Anlehnungen an die humanistische Erneuerungsbewegung ziemlich mittelalterlich; literarisch steht er in der Tradition geistlich-monastischer Literatur und hat doch den Anspruch, ›poeta‹ und humanistischer Gelehrter zu sein. Diese doppelte Übergangsstellung verdient eine Würdigung, die Berigers Buch nicht zu geben vermag, deren Voraussetzungen der Verfasser aber in entsagungsvoller Arbeit geschaffen hat. Dafür gebührt ihm Anerkennung.



Anmerkungen

Johannes Butzbach: Odeporicon. Zweisprachige Ausgabe, Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Andreas Beriger. Weinheim: VCH 1991. Separatdruck der Übersetzung: Johannes Butzbach: Odeporicon. Wanderbüchlein. Aus dem Lateinischen übertragen von A. B. (Manesse Bibliothek der Weltliteratur) Zürich: Manesse 1993.   zurück
Zum Begriff vgl. Andreas Beriger: Der Typus des »monastischen Privatgelehrten«. In: Rainer Christoph Schwinges / Markus Wriedt (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 15. bis 16. Jahrhunderts (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 18) Berlin: Duncker & Humblot 1996, S. 375–410.   zurück
Auch Berigers Edition und Monographie zu Butzbach hat grundsätzliche Kritik hervorgerufen; vgl. etwa Lothar Mundt: Rezension zu: Andreas Beriger (Anm. 1, 1991). In: Daphnis 23 (1994), S. 185–195.   zurück
Vgl. Johannes Klaus Kipf: Studien zur Rezeption und Transformation humanistischer Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum, Diss. Erlangen-Nürnberg 2005 (ungedruckt), S. 611 f. Ich stütze mich dort allein auf Beriger.   zurück
Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Hg. von der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Bd. 10 / 2. Stuttgart: Hiersemann 1994, Nr. 11511. Vgl. auch die Datenbank dieses Projekts (9.09.2005), URL: http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de [9.11.2005].   zurück
Vgl. The Illustrated ISTC on CD-Rom. 2. Aufl. London: Primary Source Media 1998, ij00383000 (mit Digitalisat der letzten bedruckten Seite, die Rutgers Gedicht enthält).   zurück
Zu Johannes Paleonydorus (Oudewater), Karmelit in Mecheln und Aachen, vgl. zuletzt Andrew Jotischky: The Carmelites and Antiquity. Mendicants and their Pasts in the Middle Ages. Oxford: University Press 2002, S. 203, 213, 222 f., 240–243 (Literatur).   zurück
Beriger übersetzt die Stelle S. 34, gibt aber leider den lateinischen Wortlaut nicht an.   zurück
Unglücklicherweise zitiert Beriger diese Stelle nicht. Die Plausibilität der Angabe bleibt im Dunkeln.   zurück
10 
Vgl. Wouter Nijhoff / Maria E. Kronenberg: Nederlandsche Bibliographie van 1500 tot 1540 [Teil 1]. 's -Gravenhage: Martinus Nijhoff 1923, Nr. 1838.   zurück
11 
Vgl. Maria E. Kronenberg: Nederlandsche Bibliographie van 1500 tot 1540, 2. Deel, 's-Gravenhage: Martinus Nijhoff 1940, Nr. 3249.   zurück
12 
Wouter Nijhoff / Maria E. Kronenberg (Anm. 10), S. 658.   zurück
13 
Vgl. Alfred Hartmann (Hg.): Die Amerbachkorrespondenz. 1. Bd. Basel: Verlag der Universitätsbibliothek 1942, der einleitend davon spricht, daß die Hauptmasse der Korrespondenz, darunter die Handschrift, die beide Briefe Rutgers enthält, »mit verschwindenden Ausnahmen alles Originale« (S. V) seien.   zurück
14 
Victor Scholderer teilte 1957 mit, daß Gerig ihm eine maschinenschriftliche Abschrift der Vita zur Verfügung gestellt habe und machte dessen Editionsplan bekannt; vgl. V. Sch.: Rutger Sycamber and his Writings. In: Gutenberg-Jahrbuch 1957, S. 129 f., hier S. 130.   zurück
15 
Beriger versäumt allerdings darauf hinzuweisen, daß die Zeilenzählung sich auf Zeilen der Edition, nicht auf Zeilen der Handschrift bezieht. Dies läßt sich nur durch den Vergleich der im Faksimile beigegebenen ersten Seite der Historiola in der Kölner Handschrift (S. 123) mit der Edition (S. 130, 132) ermitteln.   zurück
16 
Rutger nennt das Metrum »iambicus claudus dimeter« (S. 226), Beriger übersetzt dies irreführend mit »Hinkjambisches Dimetergedicht« (S. 227). Als ›Hinkiambus‹ bezeichnet die römische Metrik nur einen iambischen Trimeter, dessen letzter Halbfuß durch einen Trochaeus (oder Spondaeus) ersetzt ist. Rutgers Verse dagegen sind regelmäßige katalektische Dimeter, die er (scherzhaft, bescheiden oder irrtümlich) als ›hinkend‹ (»claudus«) bezeichnet.   zurück
17 
Vgl. Rudolf Pfeiffer: Küchenlatein. In: Philologus 86 (1930), S. 455–459; wieder in: R. Pf.: Ausgewählte Schriften. Aufsätze und Vorträge zur griechischen Dichtung und zum Humanismus. Hg. von Winfried Bühler. München: C. H. Beck 1960, S. 183–187. Zur Kontroverse zwischen Valla und Bracciolini vgl. ferner Salvatore I. Camporeale: Poggio Bracciolini contra Lorenzo Valla. In: Poggio Bracciolini 1380–1980. Nel VI centenario della nascita (Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento. Studi e testi 8) Florenz: Sansoni 1982, S. 137–161.   zurück
18 
Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 11. [Bearb. v. Rudolf Hildebrand.] Leipzig: Hirzel 1873, Sp. 2504. Auch online unter URL: http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemid=GK15390 [9.11.2005]. Beriger versäumt zudem, die Stelle nachzuweisen (vgl. S. 170 Anm. 126).   zurück
19 
Moderne Wörterbücher des Deutschen weisen korrekt auf den vermutlichen lateinischen Ursprung des Begriffs ›Küchenlatein‹ in der Valla-Poggio-Kontroverse hin, vgl. DUDEN – Deutsches Universalwörterbuch. 5. Aufl. Mannheim u. a.: Dudenverlag 2003, S. 970.   zurück
20 
Vgl. Hans Walther: Proverbia sententiaeque Latinatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen in alphabetischer Anordnung. Bd. 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963, Nr. 1042.   zurück
21 
Sie sind verzeichnet bei Hans Walther: Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris Latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, Nr. 4821 und 295.   zurück
22 
So spricht Beriger von der »Besetzung von Neuss« (S. 150 Anm. 58) durch Karl den Kühnen. Karl belagerte die Stadt 1474 / 75, konnte sie aber nicht einnehmen.   zurück
23 
Thomas Kock: Die Buchkultur der Devotio moderna. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medienwechsels (Tradition – Reform – Innovation 2) Frankfurt / Main u. a.: Lang 1999, bes. S. 247–266.   zurück
24 
Thomas Kock: Zur Produktion und Verbreitung von Handschriften im 15. Jahrhundert. Das Rechnungsbuch aus dem Augustiner-Chorherrenstift Kirschgarten. In: Rainer A. Müller (Hg.): Kloster und Bibliothek. Zur Geschichte des Bibliothekswesens der Augustiner-Chorherren in der Frühen Neuzeit (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim 2) Paring 2000, S. 23–58.   zurück
25 
Vgl. Simone Drücke: Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried (Palaestra 312) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001.   zurück
26 
Falk Eisermann: »Wilhelm von Velde Can Aug«. In: Burghart Wachinger et al. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 10. Berlin, New York: de Gruyter 1999, Sp. 1146–1149 (mit weiterer Literatur). Ein älterer Aufsatz Eisermanns steht zwar im Literaturverzeichnis (S. 356), wird bei der Erläuterung zur Person aber nicht genannt.   zurück
27 
Vgl. The Illustrated ISTC on CD-Rom (Anm. 6), il00326550, il00329000, il00330000, il00331000. Der Druck Leipzig: Jakob Thanner 1499 ist von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel als Vollfaksimile im Internet zugänglich gemacht worden. URL: http://diglib.hab.de/inkunabeln/64–18-quod-9/start.htm [9.11.2005].   zurück
28 
Vgl. J. F. Niermeyer / C. van de Kieft: Mediae latinitatis lexicon minus. Leiden: Brill 1984, S. 329. Zu beachten ist auch die Gattungsbezeichnung ›Ars dictaminis‹ für die Brieflehre, ›dictamen‹ erscheint in den Titeln zahlreicher Traktate, vgl. Franz Josef Worstbrock / Monika Klaes / Jutta Lütten: Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters. Teil 1. München: Fink 1992, S. 1, 21, 28, 37, 43, 69, 85, 96, 115, 124 u. ö.   zurück
29 
Vgl. Andreas Beriger (Anm. 1, 1991), S. 463 f.; Johann Carl Ludwig Gieseler: [...] symbolae ad historiam monasterii Lacensis ex codicibus Bonnensibus depromptae. Bonn: Thormann 1826.   zurück
30 
Alfred Hartmann (Anm. 13), S. 79.   zurück
31 
Einen Versuch, literaturpsychologische Kriterien für Autobiographien des 16. Jahrhunderts bereitzustellen, hat Stephan Pastenaci unternommen: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur historischen Psychologie (Literatur Imagination Realität 6) Trier: WVT 1993. Die Arbeit ist nicht herangezogen.   zurück
32 
Vgl. Thomas Kock (Anm. 23 und 24) und die dort verzeichneten Literatur.   zurück
33 
Vgl. dazu Falk Eisermann: Gescheiterte Laienbildung? Das ›Kleine Empyreal‹ des Wilhelm von Velde. In: Thomas Kock / Rita Schlusemann (Hg.): Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter (Gesellschaft, Kultur und Schrift 5) Frankfurt / Main: Peter Lang, S. 109–127.   zurück
34 
Vgl. zur deutschsprachigen Autobiographie Stephan Pastenaci (Anm. 31); Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 29) Heidelberg: Winter 1995.   zurück