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Spurensuche im frühen Mittelalter

  • Elke Krotz: Auf den Spuren des althochdeutschen Isidor. Studien zur Pariser Handschrift, den Monseer Fragmenten und zum Codex Junius 25. Mit einer Neuedition des Glossars Jc. (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2002. 744 S. 10 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 77,00.
    ISBN: 3-8253-1363-8.
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Elke Krotz begibt sich auf die Spuren des althochdeutschen Isidor. Der Ort dieser Suche sind die Handschriften der sogenannten Isidor-Gruppe: Die Pariser Isidor-Handschrift der Bibliothèque Nationale, Ms. lat. 2326 (= P), die in den Handschriften Wien, ÖNB 3093 und Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek Ms I 20b erhaltenen Monseer Fragmente (= M) und der Codex Junius 25 der Bodleian Library in Oxford mit dem Glossar Jc.

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Im Zentrum dieser Gruppe stehen die Übersetzung des Traktats De fide catholica ex veteri et novo testamento contra Iudaeos des Isidor von Sevilla und die mehr oder weniger umfangreichen Reste einer Übersetzung des Matthäus-Evangeliums. Ihre Entstehungszeit, wohl das letzte Jahrzehnt vor der Wende zum 9. Jahrhundert, fällt zusammen mit dem karolingischen kulturellen Aufbruch, der unter der Regierung Karls des Großen auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sprache genommen hat. Die volkssprachigen Texte der Isidor-Gruppe haben deshalb schon früh die Aufmerksamkeit der Germanistik gefunden. Höhepunkt dieses Interesses ist bislang die Habilitationsschrift meines Lehrers Klaus Matzel, die 1970 unter dem Titel Untersuchungen zur Verfasserschaft, Sprache und Herkunft der althochdeutschen Isidor-Sippe erschienen ist. Sie zielt im Wesentlichen auf die Frage, ob ein oder mehrere Übersetzer die verschiedenen Texte übersetzt haben und in welcher Sprachlandschaft des frühmittelalterlichen Deutschen dies geschehen sein könnte.

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Kultur- und Sprachpolitik Karls des Großen?

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Das Interesse an diesen Fragen war vor allem in der älteren, sich als Teil einer deutschen Nationalphilologie verstehenden Germanistik sehr groß, weil man die kultur- und sprachfördernde Politik Karls des Großen schon früh mit dem Gedanken an eine karolingische – über den einzelnen Sprachlandschaften (Dialekten) stehende – Hof- und Hochsprache verbunden hat, die sich am ehesten in den Texten der Isidor-Gruppe widerspiegeln sollte. Matzel selbst hat diese These widerlegt und abgelehnt, deutlich in seinem Aufsatz Das Problem der »karlingischen Hofsprache«, der allerdings nicht im Literaturverzeichnis der Verfasserin erscheint. 1

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Im alten, vom nationalstaatlichen Denken des 19. Jahrhunderts geprägten Bild von der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, das eine herausgehobene Bedeutung der politischen Machtzentren für die Sprachentwicklung voraussetzt, spielten die Texte der Isidor-Gruppe für die Frühzeit der vermuteten Standardisierungsprozesse eine gewichtige Rolle. Ihre Charakterisierung als ein Produkt dialektgeographischer Synthese, als »Niederschlag einer Sprache, welcher sich die vornehmen Kreise des Frankenreiches zu Beginn der Karolingerzeit bedienten« 2 war »Wunschdenken«, wie dies auch Matzel in seinen Regensburger Vorlesungen deutlich hervorgehoben hat. Was aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zu den Texten der Isidor-Gruppe gesagt werden kann, hat Matzel zusammen getragen. Allerdings lassen sich an vielen Stellen, so bei der Beurteilung der Verfasserfrage, der Stellung der orthographischen Regelungen und der Qualität der Matthäus-Übersetzung offensichtlich keine unumstößlichen Beweise beibringen. Matzels Spurensuche förderte Indizien zu Tage, die er zu einem geschlossenen Gesamtbild zusammen fügte.

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Ein Manko: fehlende Einbettung in die
ältere Forschungsgeschichte

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Löst man – wie Krotz – seine Ergebnisse aus dem wissenschaftshistorischen Kontext heraus, so erscheint manche Formulierung heute gewagt und hypothetisch, auch wenn sie im Vergleich zur älteren Forschung von großer Skepsis geprägt war. Da Krotz – wohl nicht zuletzt aus Raumgründen, ihre Arbeit umfasst 742 Seiten – auf einen Überblick über den Forschungsstand und die wissenschaftsgeschichtliche Verortung des Themas verzichtet, wird nicht immer ganz deutlich, wie ihre mitunter recht scharfe Kritik an der älteren Forschung (so etwa schon S. 15) einzuordnen ist. Die Verfasserin lässt, zumindest für mein Stilgefühl, gelegentlich die notwendige Fairness vermissen, sind wir doch auch heute bestenfalls nur »Zwerge auf den Schultern von Riesen«. Ohne die Auseinandersetzung mit der älteren Forschung hätte auch Krotz ihre Ergebnisse sicher nicht gewinnen können.

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Methodischer Gewinn: radikaler Dekonstruktivismus,
frischer Zugriff auf die Thematik

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Diesem wissenschaftshistorischen Defizit, das durch eine etwas vertiefte Einleitung leicht hätte vermieden werden können, steht jedoch ein recht großer methodischer Gewinn gegenüber, den Krotz für ihre Studie mit Scharfsinn und Sorgfalt voll ausnutzt. Ihr von älteren Forschungsmeinungen gänzlich unbeeindruckter Zugriff auf den Stoff ermöglicht an vielen Stellen ein nüchterneres, gelegentlich wohl auch klareres Bild, als es zur Zeiten der Germanistik als Nationalphilologie möglich war.

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Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung:
die Isidor-Gruppe und die Überlieferungskontexte
der Pariser und der Oxforder Handschrift

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Dazu kommt, daß sie sich auf einen bisher noch weitgehend unberücksichtigten Aspekt der Isidor-Forschung konzentriert, der in der Tat dringend aufgearbeitet werden mußte: der überlieferungsgeschichtliche Kontext der Isidor-Gruppe.

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Da die Forschung bisher bestenfalls nur die Einzeltexte ediert und kommentiert hat, der gesamte Überlieferungskontext also noch gar nicht erschlossen war, bietet Krotz nun erstmals ein vollständiges Bild der Handschriften. Dazu gehört, daß eine Reihe kürzerer lateinischer Texte eingehend erörtert und hinsichtlich ihrer Aussagekraft für die Isidor-Gruppe geprüft werden. Besonders ergiebig ist dieses Verfahren bei den lateinischen Texten der Hs. Junius 25, die in einem Anhang transkribiert bzw. kollationiert und durch ein Sachregister erschlossen werden. Der Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung ist die in der Isidor-Forschung noch nicht beantwortete Frage, ob aus diesen Nebentexten Anhaltspunkte für die Deutung der Schriften der Isidor-Gruppe selbst geschöpft werden können. Die Fruchtbarkeit des Verfahrens zeigt sich beispielsweise bei den »Maß-, Gewichts- und Münzerklärungen« der Pariser Isidorhandschrift: »Entweder befand sich die Pariser Isidor-Handschrift, als dieser Teil eingetragen wurde, auf der Reichenau, oder die Pariser De ponderibus-Fassung wurde aus einer mit der Reichenauer Fassung engstens verwandten Handschrift des Leidener Glossars zusammengestellt« (S. 86).

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Editionen, Quellenstudien und Textvergleiche in beeindruckender Dichte erweisen Elke Krotz hier als Meisterin im Umgang mit der verwickelten Überlieferungsgeschichte frühmittelalterlicher Texte. Als wichtigstes Ergebnis der Analyse der lateinischen Nebentexte erscheint deren Nähe zum westfränkischen Raum.

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Die Wien-Mondseer Fragmente

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Im Falle des Wiener Codex mußte überhaupt erst einmal die Einheit des Codex durch eine genaue paläographische Untersuchung gesichert werden. Im Mittelpunkt dieser Handschriften steht die Monseer Fassung von Isidors Traktat, erläutert werden die Bezüge zu Augustinus’ Sermo Nr. 76, der Predigt De vocatione gentium, einem unbekannten Predigtfragment und der subscriptio nach dem Matthäus-Evangelium. Für die zusammengehörigen Textstreifen des Althochdeutschen Isidor in den Monseer Fragmenten, auf denen Hans Eggers einst den lateinischen Anfang von De fide catholica erkannte, findet Krotz eine andere Lesart. Sie kann einen weiteren Streifen einfügen und liest nun nicht mehr den Anfang, sondern Kapitelüberschriften innerhalb des Traktats (S. 129). Die Monseer Fragmente des Matthäus-Evangeliums selbst untersucht die Autorin an dieser Stelle nicht. Die Grundlage einer Re-Interpretation des Textes wäre eine Neuedition, die den Rahmen des Buches aber zweifellos gesprengt hätte. Mit Spannung erwartet man daher die von ihr angekündigte Edition und die daran geknüpften neuen Einsichten. Daher ist aber für diesen Teil der Untersuchung derzeit nicht mehr als ein Zwischenergebnis möglich.

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Es handelt sich wirklich um eine formatio librorum, da aus dem Isidor-Traktat offenbar nur der auch ungeschulten Hörern zumutbare Anfangsteil ausgewählt wurde, und die Predigt De vocatione gentium, die quasi die Programmatik der ganzen Handschrift als Bilingue bildet, scheint einen wesentlichen Bestandteil ausgemacht zu haben; sie folgt ja auch passenderweise auf das Ende des Matthäus-Evangeliums, also auf die dort berichtete Aussendung der Jünger. (S. 157)
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Höhepunkt: die Oxforder Junius-Handschrift
und das Glossar Jc

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Der Höhepunkt der Spurensuche ist dann ganz zweifellos die Arbeit mit der Oxforder Junius-Handschrift und dem darin enthaltenen Glossar Jc. Die Beschäftigung mit diesem Glossar scheint ohnehin der Ausgangspunkt der Studie gewesen zu sein. Die ursprüngliche Zielsetzung der ganzen Untersuchung galt der Beantwortung der Frage, ob sich wirklich in einzelnen Glossen des Glossars Jc Reflexe aus Texten der Isidor-Gruppe zeigen (S. 19). Dies wird deutlich etwa an der akribischen und ausführlichen Beschreibung der Handschrift (S. 159–259), am Kommentar zum Forschungsstand zum Glossar Jc (S. 259–284) und an der überaus dicht kommentierten Neuausgabe des Glossars selbst (S. 285–652). Meisterhaft ist aber auch die Kommentierung der Grammatik des Petrus von Pisa, deren erste Version (fol. 129v) bisher ganz übersehen, deren zweite Version (fol. 152r-157v), die bisher fast durchgehend pauschal und irreführend als Auszüge aus Donats De octo partibus beschrieben wurde (S. 231–242). Hinweise auf Petrus von Pisa finden sich allerdings bereits bei Matzel. 3

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Leserfreundliche Edition,
vorurteilsfreie Kommentierung

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Mit der kommentierten Ausgabe des Glossars Jc stellt sich Krotz schließlich, auch wenn sie auf den raumintensiven diplomatischen Abdruck von Glosse und Interpretament zugunsten einer platzsparenden und leserfreundlichen Wiedergabe verzichtet, in die vorderste Reihe der althochdeutschen Glossenforschung. Da sie sich vollständig von den eingangs beschriebenen wissenschaftsgeschichtlich gewachsenen Ambitionen der älteren Forschung gelöst hat, zu denen es auch gehört, daß die Glossen des Glossars Jc mehrheitlich aus den althochdeutschen Übersetzungen der Isidor-Gruppe stammen sollten, gelingt ihr erneut eine klare, vorurteilsfreie Sicht auf die Dinge. Da niemals auszuschließen ist, daß verschiedene Glossatoren unabhängig voneinander eine bestimmte althochdeutsche Entsprechung eines lateinischen Wortes gefunden bzw. ausgewählt haben, wird die Entlehnung von Glossen heute wohl insgesamt sehr viel vorsichtiger beurteilt. Die auf das geschriebene Wort fixierte Forschung hat gewiss die Suche nach der »Intertextualität« gelegentlich zu weit getrieben. Für viele Lemmata und Interpretamente ist daher von einem breiten Überlieferungsstrom auszugehen, der sich aus verschiedenen Quellen speist.

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Wichtigste Ergebnisse

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Als wichtigstes Ergebnis der kommentierten Edition darf nun gelten, daß allein 630 von 891 Glossen mit ziemlicher Sicherheit aus dem lateinischen Affatim-Glossar stammen. Entlehnungen aus dem Abrogans kann sie ganz ausschließen, Entlehnungen aus den Texten der Isidor-Gruppe zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit. Viele vermeintliche Fehler in den lateinischen Lemmata erklärt Krotz durch den Vergleich mit anderen lateinischen Glossaren als eingeführte Varianten. Auch zeigt sich, daß sich die althochdeutschen Glossen nicht unbedingt unmittelbar auf das jeweilige lateinische Lemma des Glossars Jc beziehen müssen. Durch die Rekonstruktion der in Jc meist nicht mitüberlieferten lateinischen Interpretamente der Übersetzungsgrundlage ergeben sich mitunter ganz neue Zuweisungen, wodurch die Glossierungen und die aktuellen Bedeutungen nicht weniger Glossen in einem neuen Licht erscheinen.

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Damit ist die Idee einer Entlehnung einiger Glossen aus den Texten der Isidor-Gruppe nicht ausgeschlossen, nur für viele Fälle sehr viel weniger wahrscheinlich geworden. Eine »abschließende, eindeutige Antwort«, das räumt auch Krotz ein, kann für diese Frage jedoch ganz offensichtlich nicht gegeben werden (S. 19). Mit ihrer Methode des »radikalen Dekonstruktivismus« entzieht sie aber insgesamt den Ideen und Modellen der älteren Forschung den sicher geglaubten Boden. Nicht in jeder Frage möchte man sich ihrer Methode anschließen, aber vermutlich war diese Vorgehen der einzige Weg, um den beklagten »Stillstand der Isidor-Forschung« zu überwinden. Und dies ist der Autorin auf beeindruckende Weise gelungen.



Anmerkungen

Klaus Matzel: Das Problem der »karlingischen Hofsprache«. In: Ursula Hennig / Herbert Kolb (Hg.): Mediævalia litteraria. Festschrift für H. de Boor zum 80. Geburtstag. München: Beck 1971, S. 15–31. Dieser und die übrigen bei Elke Krotz verzeichneten Aufsätze Klaus Matzels sind inzwischen wieder abgedruckt in: K. M., Gesammelte Schriften. Mit einem Geleitwort von Jean-Marie Zemb hg. v. Rosemarie Lühr / Jörg Riecke / Christiane Thim Mabrey (Germanische Bibliothek. Reihe 3) Heidelberg: Winter 1990.   zurück
Elias von Steinmeyer: Isidor und fragmenta theodisca. In: Untersuchungen und Quellen zur Germanischen und Romanischen Philologie, Johann von Kelle dargebracht. 1. Teil (Prager deutsche Studien, hg. v. Carl von Kraus / Adolf Sauer, 8. Heft) Prag 1908, S. 147–163, hier S. 161 f.   zurück
Klaus Matzel: Ein althochdeutscher Grammatiker (wie Anm. 1), S. 411.    zurück