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Die Barockoper als Gemengelage gesellschaftlicher,
wirtschaftlicher, politischer, literarischer,
musikalischer und anderer künstlerischer Interessen

Ein Handbuch zur Oper des 17. Jahrhunderts

  • Silke Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert. (Handbuch der musikalischen Gattungen, hg. v. Siegfried Mauser 11) Laaber: Laaber 2004. 343 S. 82 Notenbeispiele, 46 Abb. Gebunden. EUR 108,00.
    ISBN: 3-89007-134-1.
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Das Verfassen eines Handbuches mag zwar generell als eine undankbare Aufgabe erscheinen, doch die Anforderung, die Oper des 17. Jahrhunderts umfassend auf knapp 350 Seiten vorzustellen, rückt das Unternehmen, um es militärisch auszudrücken, in den Status eines Himmelfahrtskommandos. Das liegt nicht nur an der hohen Zahl der für das 17. Jahrhundert dokumentierten Opern, deren Partituren jedoch verloren sind, so daß sich umfassende Aussagen kaum treffen lassen, sondern darüber hinaus auch an der Forschung, die ihre Aufmerksamkeit lange Zeit sehr ungleichmäßig verteilt hat. Für die venezianische Oper im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, und mehr noch für die Oper dieses Zeitraums in Italien außerhalb Venedigs, aber auch für viele deutsche Operntheater liegen nur wenige oder gar keine neueren Untersuchungen vor. Und als ob diese Schwierigkeiten nicht genügen würden, muß als weiteres Problem konstatiert werden, daß bei den Zeitgenossen das Gattungsbewußtsein hinsichtlich der Oper sehr unterschiedlich ausgeprägt gewesen zu sein scheint, vor allem außerhalb Italiens, wo sich die verschiedensten Formen von Musiktheater finden.

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Silke Leopold geht trotz dieser Schwierigkeiten das Wagnis ein und legt ein Handbuch vor, das diesen Namen verdient und das Optimum dessen bietet, was angesichts der Forschungssituation möglich ist.

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Die Ausstattung des Bandes dokumentiert die Multimedialität der Gattung (ob es sich bei der Oper freilich um eine »musikalische Gattung« wie etwa das Streichquartett handelt, oder nicht doch eher um eine genuin theatrale Gattung, sei einmal dahingestellt). Zahlreiche Abbildungen geben einen Eindruck vom Bühnenbild und von den Kostümen, die ansprechend gesetzten Notenbeispiele 1 vermitteln die musikalische Seite.

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Die Gattungsfrage

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Die Gattungsfrage entscheidet Leopold rigoros: Schauspiele, die Musik und Text verbinden, wie es solche vor 1600 schon in vielfältigen Formen gab, sind noch keine Oper. Leopold legt ihrer Darstellung eine enge Definition zugrunde (S. 13), nach der wir es erst dann mit einer Oper zu tun haben, wenn der Text, und hier vor allem der Dialog, vollständig vertont ist, wenn wir musikalische Affektdarstellung finden, wenn sich ein Spannungsverhältnis von offenen (rezitativischen) und geschlossenen (z.B. ariosen) Formen einstellt sowie eines zwischen Singstimme und instrumentalem Fundament. Diese Definition ist ganz auf die Entstehung der Oper in Florenz im Jahre 1600 zugeschnitten. In diesem Kontext ist sie leistungsfähig, weil sie alle »Vorformen« der Oper, wie Intermedium, Madrigalkomödie, Trionfo, Schauspiel mit Musik ausfiltert und darüber hinaus das Neue der Oper nicht lediglich als Addition schon vorher existierender Teile begreift.

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Leopolds Definition ist ferner ganz auf die italienische Theatersituation des 17. Jahrhunderts zugeschnitten. Wir finden in Italien in diesem Zeitraum praktisch kein Sprechtheater. Alle musiktheatralen Formen erfüllen daher fast zwangsläufig die Bedingungen der Definition. Praktikabel ist die Definition auch für französische Verhältnisse (bis zur Etablierung der Opéra Comique), weil hier eine relative starke Dichotomisierung von Musiktheater und Oper vorliegt, und das, obwohl die französischen Tragödien und Komödien durchaus hohe musikalische Anteile aufweisen können.

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Zu rigide erscheint mir diese Definition allerdings, wenn es darum geht, die deutschen und auch die englischen Verhältnisse zu beschreiben. Gerade im deutschen Raum besteht eine spezifische Mischung von Sprech- und Musiktheater, die nicht nach italienischen Maßstäben beurteilt werden sollte, selbst wenn es offensichtlich ist, daß die Zeitgenossen sich durch italienische Vorbilder haben inspirieren lassen. Solche Mischformen wären etwa »musikalische Prologe«, die mit einer eigenständigen Handlung ein Schauspiel kommentierend eröffnen, oder Mischhandlungen, bei denen eine musikalische und eine gesprochene Handlung ineinander verflochten sind. Aber auch dort, wo wir es mit einem vollständig vertonten Text zu tun haben, etwa bei Siegmund Theophil Stadens Oper Seelewig oder bei Johann Valentin Meders Argenis, stellen die vermeintlich rezitativischen Passagen kein »imitare col canto chi parla« dar, sondern ein schwer zu beschreibendes Anderes, das eher liedartige Züge trägt.

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Bei den englischen »Masques« liegt die Situation ähnlich. John Drydens / Henry Purcells King Arthur etwa ist keine Oper, das Werk als Schauspiel mit Musik zu bezeichnen trifft den Kern aber ebenfalls nicht, da der Musikanteil zu hoch und zu eigenständig ist. Es liegt hier etwas Drittes vor und Leopold hat diese Semi-Operas, obwohl sie ihrer Definition nach ausgeschlossen bleiben müßten, völlig zurecht in ihre Betrachtung mit einbezogen (S. 229 ff.).

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Das Problem der Materialfülle

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Das durch die Fülle des Materials entstehende Darstellungsproblem löst Silke Leopold, indem sie in exemplarischen Analysen einzelne Opern vorstellt. Auf diese Weise entsteht niemals der Eindruck eines bloßen »name droppings«, sondern dem Leser wird jeweils eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem einzelnen Werk geboten, sei es, um auf diese Weise ein Paradigma für andere Opern zu schaffen, die aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden können, oder sei es, um die Einzigartigkeit des Werkes (z. B. der frühen italienischen Opern oder Purcells Dido and Aeneas) zu dokumentieren.

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Als Raster für die Gliederung verwendet Leopold den politischen Raum. So findet sich jeweils ein Kapitel zur Oper in Frankreich, England und Deutschland, gerahmt von Kapiteln zur Oper in Italien: zunächst ein Kapitel, das sich mit dem Musiktheater des 16. Jahrhunderts befaßt, dann eines, das die Anfänge der Oper in Florenz, Mantua und Rom darstellt, ein drittes Kapitel, das sich hauptsächlich mit der venezianischen Oper bis etwa zu Mitte des Jahrhunderts beschäftigt, und schließlich ein letztes, das sich, vor allem am Beispiel der Opern Alessandro Scarlattis, den Opern ab den 1680er Jahren widmet und die von der Accademia dell’Arcadia und anderen ausgehenden Reformen des Opernlibrettos vorstellt.

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Zwar versichert Silke Leopold eingangs, sie wolle das Rad nicht neu erfinden, doch viele ihre Erkenntnisse dürften für den Laien wie den Spezialisten Neuland darstellen, so etwa, wenn sie den »wissenschaftlichen Mythos« von der Geburt der Oper aus dem Geiste der antiken Tragödie widerlegt (S. 49 ff.).

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Besonders gelungen ist die Darstellung der Oper nach ihrer unmittelbaren Entstehungsphase. Es sind vor allem die römischen Opern, wobei die geistlichen Sujets mit berücksichtigt werden, die einer luziden Analyse hinsichtlich ihres Textes und der Musik unterzogen werden. Zu nennen wären hier vor allen die Libretti Giulio Rospigliosis, etwa seine Comica del Cielo von 1668, in der die Konversion einer Schauspielerin im Mittelpunkt der Handlung steht. Zurecht verweist Leopold auf den Einfluß des spanischen Theaters, zu nennen wäre auch der Einfluß des Jesuitentheaters (etwa Jacob Masens Philemon Martyr).

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Die Verteilung der Schwerpunkte, die Silke Leopold bei ihrer Darstellung setzt, ist ausgewogen. Daß die Anfänge der Oper gebührend gewürdigt werden, versteht sich von selbst. Auch die Opern Monteverdis oder die Lullys in Frankreich müssen den zentralen Platz in der Darstellung erhalten, der ihnen gebührt.

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Es bleibt dennoch nicht aus, daß sich gelegentlich gewisse Verzerrungen durch die Gewichtung einstellen. So scheint mir die englische Oper – bei aller Liebe zu Purcell – überrepräsentiert, da sich in England nur eine Handvoll Beispiele finden läßt, die einigermaßen der strengen Gattungsdefinition entsprechen. Mit gleichem Recht hätte wohl die Oper in Polen ein eigenes Kapitel verdient gehabt, wird doch die erste italienische Oper Galatea immerhin schon 1628 in Warschau aufgeführt. 2 Zu knapp geraten ist unter proportionalen Gesichtspunkten die Darstellung der Wiener Oper (S. 258–261). Angesichts von rund 500 Werken, 3 die im 17. Jahrhundert am Wiener Hof aufgeführt wurden, wäre ein eigenes Kapitel vertretbar gewesen, zumal die Wiener Oper gegenüber Italien ein eigenes Profil entwickelt. Exemplarische Analysen einer Cesti-Oper (es muß nicht immer Il pomo d’oro sein) und einer Draghi-Oper hätten sich angeboten. Insgesamt bietet die Darstellung der Oper im deutschsprachigen Raum jedoch ein ausgewogenes Bild, das sowohl höfische (München, Dresden) wie städtische Opernpflege (Hamburg) in den Blick gelangen läßt. Mit der Legende von der »bürgerlichen« oder gar »volkstümlichen« Oper in Hamburg (S. 278 f.) wird, dem neueren Forschungsstand entsprechend, zurecht aufgeräumt.

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Da Silke Leopold in Kapitel II die religiösen Opern in Italien mitberücksichtigt – und sie lediglich aufgrund inhaltlich-stoffgeschichtlicher Aspekte auszugrenzen, schiene mir wenig sinnvoll –, wäre es parallel dazu notwendig gewesen, auch im deutschen Sprachraum auf die Existenz von geistlichen Opern hinzuweisen und wenigstens ein Beispiel näher zu analysieren. Aufgrund der günstigen Überlieferungslage hätte sich Johannes Paulins Philothea angeboten, die seit ihrer Uraufführung 1643 in München bis ins 18. Jahrhundert mit 33 Neuinszenierungen zu den erfolgreichsten Opern des 17. Jahrhunderts gehörte. 4

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Die Freunde der venezianischen Oper ab den 1670er Jahren werden das entsprechende Kapitel vielleicht ein wenig zu summarisch finden, aber hier ist mit Silke Leopold darauf hinzuweisen (S. 9), daß die hierfür notwendige wissenschaftliche Grundlagenarbeit erst noch geleistet werden muß, bevor sie in ein Handbuch einfließen kann.

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Sozialgeschichte der Barockoper

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Die Oper wird in Leopolds Buch nicht primär unter musikalischen Gesichtspunkten vorgestellt, sondern als »Gemengelage von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, literarischen, musikalischen und anderen künstlerischen Interessen.« (S. 9) Die politische Dimension und Funktion der Oper wird immer wieder betont und für jedes Beispiel neu bestimmt, was eine ästhetische Eigendynamik ja nicht ausschließt. Selbstverständlich findet sich auch der obligatorische Abschnitt über die Entstehung der Dacapo-Arie (S. 310 f.), aber genauso wichtig und interessanter scheinen mir die Überlegungen zur gesellschaftlichen Dimension dieses Arientyps (S. 320). Leopold sieht in diesem Zusammenhang eine Verbindung zwischen höfischer Verstellungskunst und Affektkontrolle, wie sie etwa von Grácian, aber auch italienischen Autoren 5 propagiert wird. Die Oper wird so, schon vor allen expliziten oder impliziten Bezügen auf politische Anlässe, zu einer politischen Form.

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Explizite Bezüge auf den politischen Kontext bis hin zum Schlüssellibretto finden sich darüber hinaus viele, die Opern Lullys bilden dabei das deutlichste Beispiel. Auch in Deutschland ist von einer politischen Indienstnahme der Oper auszugehen. Leopold selbst führt entsprechende Beispiele bis hin zu Barthold Feinds / Reinhard Keisers Masagniello Furioso von 1706 an. Bei dieser Oper hätte der interpretatorische Akzent vielleicht anders gesetzt werden können. Denn mit Masagniello ist wohl nicht Pastor Krumbholtz gemeint, wie Leopold annimmt (S. 294), sondern der Handwerker Balthasar Stilcke, einer der »proletarischen« Führer bei den Hamburger Unruhen, den Feind schon 1703 namentlich in seinem Drama Das verwirrete Haus Jacob angegriffen hatte. 6 Unter dieser Prämisse betrachtet ergibt sich ein stimmiger Bezug des Librettos auf die politische Situation Hamburgs.

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Die in Silke Leopolds Darstellung versammelte Fülle anregender Einzelbeobachtungen kann in dieser Rezension nicht einmal angedeutet werden. Das Buch läßt sich dank der Register als Lexikon benutzen, lädt aber aufgrund der eingängigen Darstellungsweise zu einer zusammenhängenden Lektüre ein. Es kann nicht nur als umfassende Orientierung demjenigen dienen, der sich mit der Oper des 17. Jahrhunderts vertraut machen möchte, sondern vermag auch dem Kenner noch vielfältige Anregungen bieten. Anregend sollte es auch in der Hinsicht sein, daß die von Silke Leopold benannten Lücken in der Forschung geschlossen werden und daß Musiker dazu verführt werden, den im Buch vorgestellten Opern den Weg zurück ins Theater zu ebnen. Denn dort ist ihr Ort.

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Anmerkungen

Einzig das Notenbeispiel aus Bontempis Paride (S. 265) hätte einer korrigierenden Hand bedurft. Hier ist im Basso ostinato die »schwarze Notation«, die der zeitgenössischen Notationspraxis entsprechend Synkopen anzeigt, falsch aufgelöst worden: Anstatt der Viertel müßten es ganze Noten sein. Ferner müßte die ganze Note auf e punktiert werden. Vor dem Einsatz der Singstimme wäre eine halbe Pause zu ergänzen und auch die in der Singstimme verwendete »schwarze Notation« wäre entsprechend aufzulösen: Core und felice müßten jeweils anstatt einer viertel eine ganze Note erhalten. Erst so wird der vorgezeichnete 3/2 Takt realisiert.    zurück
Vgl. den Überblick von George Gömöri: Opera in Poland. In: Pierre Béhar / Helen Watanabe-O'Kelly (Hg.): Spectacvlvm Evropævm. Theatre and Spectacle in Europe. Wiesbaden 1999, S. 477–481.   zurück
Vgl. die Verzeichnisse von Alexander von Weilen: Die vom Jahre 1629 bis zum Jahre 1740 am Wiener Hofe zur Aufführung gelangten Werke theatralischen Charakters und Oratorien. Wien 1901; Franz Hadamowsky: Barocktheater am Wiener Kaiserhof. Mit einem Spielplan (1625–1740). In: Jahrbuch der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung 1951/52, Wien 1955, S. 7–117.    zurück
Vgl. Barbara Münch-Kienast: Philothea von Johannes Paulin. Das Jesuitendrama und die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola. Aachen 2000, S. 379 ff. (Liste der Aufführungen).    zurück
Etwa von Torquato Accetto in seiner Della dissimulazione onesta von 1641. Accetto war Mitglied der Accademia degli Incogniti, also eng verknüpft mit jenen Kreisen, die die Oper in Venedig einführten. Vgl. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmanns. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992.    zurück
Vgl. Arnd Beise: Neapel 1647 – Hamburg 1706. Barthold Feinds Masagniello Furioso und das Drama um 1700 als Institution historischer Gelehrsamkeit. In: Giorgio Cusatelli u.a. (Hg.): Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 8) Tübingen 1999 S. 219–239, hier S. 226 f.   zurück