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Zur Rhetorik des Schweigens

Neue Perspektive der Scholem-Forschung

  • Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. München: Wilhelm Fink 2003. 446 S. Kartoniert. EUR (D) 44,90.
    ISBN: 3-7705-3754-8.
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Die Veröffentlichung der Tagebücher von Gershom Scholem 1 , die der spätere Religionshistoriker in den frühen Jahren 1913 bis 1923 führte, hat der Forschung vor nunmehr 10 Jahren einen entscheidenden Impuls geliefert, um einen schärferen Blick auf sein Leben und seine ersten Annäherungen an das Judentum werfen zu können. Und das ist umso wichtiger, weil es um einen Autor geht, der nicht nur als ein etablierter Akademiker und Gelehrter gilt, sondern auch als ein Denker, der im außerakademischen Geistesleben bekannt war. So eröffnet heute die Internetrecherche seines Namens eine erstaunliche hohe Zahl an mystischen und esoterischen Seiten über den Kabbala-Forscher neben institutionellen und akademischen Ausführungen über den bekannten Religionshistoriker und dessen Freundschaft mit Walter Benjamin – ein weiteres Indiz dafür, dass Gershom Scholem markante Spuren hinterlassen hat, die nicht nur im Akademischen weiter leben. Dies ist ebenso ein Hinweis darauf, wo die Gefahren einer Mysti(fi)zierung des jüdischen Autors lauern.

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Umso willkommener ist eine umfangreiche Studie, die diese Hindernisse umgeht: Der Autor, der mit diesem Buch an der FU Berlin im Bereich »Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft« promoviert wurde, entgeht der Falle der »Kabbalisierung« Scholems sowie der nahe liegenden Deutungsfalle, die in der Freundschaft mit Walter Benjamin liegt. Dass Gershom Scholem hier nämlich nicht nur als der bekannteste moderne Kabbalaforscher, und auch nicht als der beste Freund des Berliner Philosophen Thema ist, geht selbstverständlich aus dem Geist hervor, der dieses Buch regiert. Und trotzdem will die Studie Weidners auch keine einfache Monographie über Scholem sein, »sondern seine spezifische ›Schreibweise‹ untersuchen« (S. 12). Diese Schreibweise Scholems ist demnach kein bloßes biographisches Deutungsmittel, sondern steht für die Literarisierung und Philosophierung seiner Tätigkeit:

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Scholems Dasein kreist um Schrift und er assoziiert sich gerne mit dem Bild eines modernen Schriftgelehrten. ›Schrift‹ meint dabei je verschiedenes: die ›Schrift‹ des Schriftstellers, die es ihm ermöglicht, sich schreibend auszudrücken, die ›Schrift‹ des Theologen, die Quelle des begehrten Judentums; die Schrift des Geschichtsschreibers, das Monument der Vergangenheit. [...] Dabei ist ›Schrift‹ [...] in doppeltem Sinne rhetorisch: Einerseits ist sie überdeterminierte Figur, eine Art absolute Metapher von Scholems gesamten Werk, andererseits wird sie in Scholems Texten auch immer wieder behauptet und in Vollzug gesetzt. (S. 21)
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Damit werden anfangs die theoretischen Maximen des Buches aufgezeigt: Es stellt eine Art Metareflexion über die rhetorischen Strategien in Scholems Werk dar, und darüber, wie diese seine Forschungsrichtlinien im Bereich der Mystik, der Politik und der Philosophie beherrschen. So impliziert Rhetorik in der Arbeit Weidners mehr als jene negativ konnotierte Rolle des Überzeugens, die in der Alltagsrede gemeint ist: Sie ist kein leeres Gerede, sondern eine Schreibstrategie, die die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordert, und dies vor allem, da sie auf das Verschwiegene und nicht auf das Vielberedte verweist. Mit Recht weist Weidner darauf hin, dass Scholem in seiner Jugendphase den Rückzug aus der Öffentlichkeit als ein Engagement begreift, das letztlich seinen »asketischen Ethos« formt. Und aus dieser Sicht erscheint das Schweigen bei dem jungen Scholem in der Tat als extremistische rhetorische Redenstrategie 2 . »Restitution der Sprache durch Schweigen, Wiederherstellung der Gemeinschaft durch Einsamkeit« – so resümiert Weidner die damaligen sprachphilosophischen und kulturpolitischen Intentionen Scholems (S. 90).

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Die Jugendphase Scholems – und nicht nur diese, wie hinzuzufügen ist – lässt sich als eine extrem idealistische (und das heißt hier auch als eine extremistische) Position kennzeichnen, suchte er doch damals neue Ausdruckswege seiner jüdischen Existenz einerseits in deren konkreter Radikalisierung und andererseits in deren philosophischer Idealisierung. Die »Rhetorik« von Scholem erscheint somit als ein vielfältiges System innerlicher Gedankenprozesse und äußerlicher Stellungnahmen. Sie führt zu einer soziokulturellen Zurückhaltung, ja zu einer politischen Diskretion, die jedoch, wie Weidner mit Recht bemerkt, nichts mit einer theoretischen Verheuchelungsstrategie (wie etwa bei Leo Strauss) zu tun hat: »Scholems ›Esoterik‹ ist weniger ein Denkstil als eine Schreibpraxis, eine Kunst, mit seinen eigenen Texten umzugehen« (S. 101).

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Es ist Weidner weiter zuzustimmen, wenn er folgert, dass diese Art von Esoterik ein Politikum besonderer Art ist, und noch mehr: dass sie eine metapolitische Konstruktion ist 3 . Der Metapolitik-Begriff wirkt wie der tiefe Kern der Arbeit, weil er den Standort des Jüdischen zwischen soziopolitischem Anerkennungsanspruch und stolzer Selbstisolation aufzeigt: »Einerseits hat der gesamte jüdische Diskurs die metapolitische Funktion einer symbolischen Vergemeinschaftung, andererseits bewegt sich der jüdische Diskurs auch nicht vollkommen im leeren Raum, zumindest nicht seit dem Aufkommen des Zionismus« (S. 36).

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Der Zionismus stellt bei Scholem tatsächlich eine metaphysische Konstruktion dar, und zwar eine performative und symbolische: performativ ist sie in ihrem direkten Wirklichkeitsanspruch, symbolisch in ihrer zurückhaltenden Entfernung von der Tagespolitik – eine Denkkonstellation, die ihm eine Sonderstellung innerhalb der zionistischen Denkbewegung verleiht. Während die jüdische Jugendbewegung ihre generationsbedingte politische Tätigkeit generell als »strategische Metapher« 4 betrachtete, deutete Scholem sein zionistisches Engagement als eine problemorientierte Stellungnahme, die zwar zum Scheitern verurteilt war, dennoch aber im Zentrum seines Interesse blieb: »Drei Worte, fehlte immer mindestens eins: Jüdische Bewegung ohne Jugend, Jüdische Jugend ohne Bewegung, Jugend Bewegung ohne Judentum«, schreibt Scholem 1915 resignativ 5 .

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Das politische Engagement, das für einen jungen selbstbewussten Juden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorstellbar war, lehnte Scholem radikal ab; er zog eine zurückhaltende Haltung vor. Mit Weidner lässt sich diese Zurückhaltung Scholems in der Tat als der rote Faden seiner kulturpolitischen Tätigkeit beschreiben, prägt sie doch nicht nur seine frühen persönlichen Erfahrungen, sondern auch seine spätere wissenschaftliche Forschung. Es ist bekannt, dass die Wissenschaft bei Scholem eine Art »Inkognito« darstellt: 1947 bezeugte einer seiner Schüler die Schwierigkeit, die wissenschaftliche Tätigkeit Scholems einzuordnen:

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Man kann auch nicht den Versuch unternehmen, sein geistiges Porträt zu zeichnen, ohne sich den ausgesprochenen mystischen Zug seiner Esoterik klargemacht zu haben. Was ist die Methode seiner Esoterik? [...] Seine Esoterik ist nicht absolutes Verschweigen, sie ist eine Art Camouflage. Mit dicken Bänden von Texten und philologischen Forschungen reduziert er öffentlich die Gestalt des Metaphysikers auf die des Wissenschaftlers. Aber seine Metaphysik offenbart sich im Verborgenen, in der Form von Sätzen und Halbsätzen zwischen ›rein‹ wissenschaftlichen Analysen bis zur völligen Unerkennbarkeit camoufliert. [...] So verkleidet sich der geheime Metaphysiker als exakter Wissenschaftler. Die Wissenschaft ist Scholems Inkognito 6 .
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Weidner hält fest, dass eine solche Haltung die Beziehung zwischen Mystik und Wissenschaft, Innen und Außen der Lehre impliziert; und dem ist hinzuzufügen, dass sie darüber hinaus die problematischen Beziehungen dieser Begriffe impliziert.

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Daniel Weidner hat diese Haltung deutlich auf den Punkt gebracht und sie dafür mit der von Benjamin verglichen: »Für Benjamin hat die Figur ›heiliger Text‹ immer eine paradigmatische Funktion, aber eben nur als Figur. Scholem versucht dagegen, sie ernst zu nehmen – trotz großer Nähe zeigen sich schon hier gegenstrebige Tendenzen, die das ›symphilosophische‹ Projekt letztlich in zwei verschiedene Richtungen ausführen wird: eine ›mystische‹ Kritik der Geschichte und eine kritische Geschichte der Mystik« (S. 200). Aus diesem Zusammenhang entsteht nach Weidner der theologische Horizont von Scholem, der eigentlich nur aus Offenbarung und Tradition bestehe, oder besser: aus der komplexen – weil historischen – gegenseitigen Beziehung dieser Begriffe (vgl. S. 230 ff.) 7 . Ähnlich wie bei Karl Barth geht es somit auch bei Scholem darum, die problematisch gewordene Beziehung von Offenbarung und Geschichte zu thematisieren. Mit seiner Stellungnahme steht er allerdings Weidner zufolge allein in der Geschichte der Theologie und der Religion: »Scholem vertritt keine besondere theologische Position mehr, sei sie nun ›mystisch‹ oder ›negativ-theologisch‹, sondern steht wirklich an der Grenze zwischen Religion und Nihilismus« (S. 269).

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Scholems Versuch, eine »Sektengeschichte der Aufklärung« im Sinne des Sabbatianismus – und des Frankismus – zu schreiben (vgl. S. 390 f.), entpuppt sich also als ein wissenschaftlicher Versuch im Sinne Max Webers, den Extremfall zugleich in Übereinstimmung zur Geschichte und in den Abweichungen zu ihr zu entwerfen. Aufklärung und Mystik stehen nach Weidner insofern in Beziehung, als sie nur im Medium der kritischen (also historischen) Philologie zusammen zu denken sind: »Während der ›Geist‹ in die Aufklärung übergeht, werden die ›Bücher‹ vollends unlesbar, die kabbalistische Tradition kann daher nicht fortgeschrieben werden, sondern muß auf ganz andere Weise sichtbar gemacht werden: durch kritische Philologie und religionshistorische Untersuchung« (S. 397). Auf diese Weise wird der intellektuelle Habitus Gershom Scholems als der Habitus eines Forschers im Weberschen Sinn erkennbar, der insofern an seinen wissenschaftlichen Glaube gebunden ist, als er von dessen Vergänglichkeit und Instabilität überzeugt ist.

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In diesem Sinn hat Daniel Weidner ein in doppelter Hinsicht lesenswertes Werk über Scholem dargelegt, da es ihm gelungen ist, die faszinierende wissenschaftliche Biographie eines deutschjüdischen Gelehrten und zugleich ein stimulierendes Werk über die Bedingungen der Geisteswissenschaft selbst zu schreiben. Weidners Monographie empfiehlt sich daher nicht nur den Fachexperten, sondern auch all denjenigen, die Interesse an den vielfältigen Beziehungen zwischen Geschichte, Geisteswissenschaft und Philosophie haben.



Anmerkungen

Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfe bis 1923. 1. Halbbd. 1913–1917, 2. Halbbd. 1917–1923. Frankfurt / M.: Jüdischer Verlag 1995 bzw. 2000.    zurück
Nachträglich erzählt z.B. Scholem von der Auseinandersetzung, die er mit Benjamin darüber hatte, ob er einen gegen die Jugendbewegung gerichteten offenen Brief veröffentlichen sollte oder nicht: »Zuerst hatten wir erwogen, einen solchen Brief gemeinsam zu unterzeichnen. Benjamin trat aber von dem Gedanken zurück. Wir hatten lange Diskussionen über den Text, den ich dann allein schrieb und auch veröffentlichte. Benjamin sagte: ›Bei solchen Sachen kommt es darauf an, die metaphysischen Lacher auf seiner Seite zu haben‹. Das aber würde mein Brief nicht leisten, in dem ich mit lauter Stimme das Schweigen forderte. ›Im Methodos des Schweigens darf das Schweigen selber nicht vorkommen. So etwas schreibt man, um sich zu befreien, aber man druckt es nicht‹« (Gershom Scholem: Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1980, S. 94).   zurück
»Metapolitik ist vor allem Politik der Intellektuellen, also derjenigen, die weder einen festen Platz in den Institutionen der Gesellschaft haben, noch sich durch ihre unbefragbare ›künstlerische‹ Subjektivität legitimieren« (S. 34–35). Ein weiteres Verdienst des Buches von Weidner besteht darin, die intellektuellensoziologischen Gedanken Bourdieus zum »intellektuellen Feld« und die frühen theoretischen Gewinne von Mannheim über die »freischwebende Intelligenz« für breitere Forschungsbereiche nutzbar gemacht zu haben.   zurück
Vgl. Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1997, S. 53.   zurück
Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfe bis 1923. 1. Halbbd. 1913–1917, (siehe Anm. 1) S. 291.   zurück
J. Weiss: Gerhard Scholem – Fünfzig Jahre, »Yedioth hayom« 5.12.1947, jetzt in Gershom Scholem: Briefe. Band I 1914–1947. Hg. von Itta Shedletzky. München: Beck 1994, S. 459.   zurück
Interessant wäre auch, die Forschungslinie über die Rezeption der dialektischen Theologie innerhalb des Judentums zu vertiefen, die Weidner in seinem Buch nur andeutet, (S. 233, Fn. 418). Christoph Schmidt hat teilweise einen solchen Versuch unternommen (Der häretische Imperativ. Überlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland. Tübingen: Niemeyer 2000).   zurück