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Aus der Geschichte der Germanistik:
Jakob Minor in seinen Briefen an August Sauer

  • Sigfrid Faerber: Ich bin ein Chinese. Der Wiener Literarhistoriker Jakob Minor und seine Briefe an August Sauer. (Hamburger Beiträge zur Germanistik 39) Frankfurt / M.: Peter Lang 2004. 608 S. Kartoniert. EUR (D) 97,50.
    ISBN: 3-631-52073-5.
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Die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik ist wieder um eine Briefedition reicher. Nachdem in den letzten Jahren eine Reihe von Gelehrtenbriefwechseln publiziert worden ist, 1 liegt nunmehr die erweiterte und aktualisierte Fassung einer Dissertationsschrift vor, die im März 2000 an der Universität Wien approbiert wurde und wiederum das Briefwerk von zwei prominenten Schülern Wilhelm Scherers zum Gegenstand hat. Knapp über 300 Briefe des österreichischen Literarhistorikers Jakob Ludwig Minor an August Sauer aus den Jahren 1875 bis 1909 hat der Verfasser in dem in der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten Nachlass Sauers ausfindig gemacht. Von den Gegenbriefen Sauers an Minor sind leider wenige erhalten, so dass nur insgesamt 16 in die Edition aufgenommen werden konnten.

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Diese Asymmetrie mag auf den ersten Blick den wissenschaftlichen Wert der Publikation schmälern, doch schlagen im Bezug darauf zwei Argumente zu Buche. Zum einen bilden die Minor-Briefe an Sauer das weitaus größte und geschlossen erhaltene Korpus seines Briefnachlasses. Andererseits – und dies ist sicherlich ein Glücksfall – steht deren Inhalt in einem nahezu unmittelbaren Zusammenhang mit dem biografischen Werdegang Minors, denn er spiegelt sich in ihnen fast lückenlos wider. Und schließlich ist im Kontext der bislang erbrachten Erträge der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Germanistik in Deutschland und Österreich zu konstatieren, dass Forschungsarbeiten zu Jakob Minor auffallend dünn gesät sind. Überschaut man das Terrain, so ist das vorliegende Buch im Prinzip die erste umfängliche Arbeit überhaupt, die das wissenschaftliche Lebenswerk eines weiteren namhaften Fachvertreters kritisch würdigt.

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»Stationen im Leben und Wirken
des Jakob Minor«

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Die erste Hälfte des über 600seitigen Bandes ist der Darstellung der Biografie Jakob Minors gewidmet. Sie beginnt nicht wie üblich mit Geburt und Kindheit, sondern mit der Kommentierung von Minors »Idee eines ästhetischen Lebens« (S. 8) aus der Zeit des Studiums 1875 sowie der Betrachtung seiner ausgedehnten Reisen danach. Diese Eingangspassagen machen sinnfällig, dass man es im Falle des Literarhistorikers Minor mit einer nicht nur allgemein interessanten, sondern auch widersprüchlichen Persönlichkeit zu tun hat, deren Werdegang als Gelehrter keineswegs gradlinig bis auf die Höhen der Wissenschaft verlaufen ist. Die folgenden Kapitel und Unterkapitel zeichnen dann Minors Weg zum Universitätsprofessor philologisch genau und zusammenhängend nach. Sie beinhalten zunächst die Darstellung seiner Entwicklung als Forscher und Lehrer von der Privatdozentur in Wien über das Extraordinariat in Prag bis zur ordentlichen Professur in Wien 1885. Eingelagert darin sind kurze Exkurse zur allgemeinen Lage der Germanistik an den Universitäten in Prag und Wien sowie zu den von Minor betreuten Dissertationen und Habilitationen. Unter der Überschrift »Publizist und Schriftsteller« erfolgt eine Würdigung der publizierten Schriften und wissenschaftlichen Programmatik. Im Schlussteil wird Minors Wirken als Theaterkritiker und Preisrichter sowie in populärwissenschaftlichen und literarischen Vereinen und Gesellschaften beleuchtet, bevor der Verfasser den Versuch einer Gesamteinschätzung der Rolle Minors für die Entwicklung der Fachdisziplin unternimmt.

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Die Ausbreitung und Kommentierung von Minors Biografie wird in enger Bezugnahme auf die personen- und wissenschaftsgeschichtlichen Quellen, die akribisch recherchiert sind und ausgewertet werden, vorgenommen. Im Zentrum dabei stehen die Briefe Minors an Sauer, die als die wichtigsten Belegstellen neben den zahlreichen bislang ebenfalls noch unveröffentlichten Archivdokumenten zu Minors wissenschaftlicher Laufbahn fungieren. Bevorzugte andere Texte zur Kontextualisierung sind wiederum Einzelbriefe bzw. Briefwechsel von Personen aus seinem engeren Lebensumfeld. Diese Darstellungs- und Zitierpraxis macht das Bild, welches von dem Wiener Germanisten gezeichnet wird, plastisch und verleiht ihm eine hohe Authentizität, denn der Leser hat stets die Gewissheit, es durchweg mit quellengestützten Aussagen zu tun zu haben.

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Diese Methode hat aber auch eine folgenreiche Kehrseite, die bei der Lektüre zunehmend auffällt. Gemeint sind vor allem die vielen ausgedehnten Passagen reiner Deskription, in denen zumeist sehr umfänglich und weitschweifig aus den Briefen Minors zitiert wird und die zugleich auch eine weitgehend unreflektierte und wenig in die Tiefe gehende wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung der Gegenstände offenbart. Ihren Höhepunkt erreicht dieses Verfahren ausgerechnet dort, wo der Verfasser auf die Publikationen Minors und die Charakterisierung seiner wissenschaftlichen Auffassungen zu sprechen kommt. So lesen wir zum Beispiel auf Seite 200, dass alle 35 Buch-Veröffentlichungen Minors zusammen einen Umfang von rund 15 000 Druckseiten erreichen, was im Durchschnitt knapp 430 Druckseiten pro Titel bedeute. Und da dieses Faktum dem Verfasser offenbar sehr wichtig erscheint, wiederholt er es auf Seite 213 gleich noch einmal. Auch zur Einschätzung der Hauptlinien von Minors Vorlesungen erfährt der Leser nicht viel mehr als deren Titel (vgl. S. 154), die er dann im Anhang noch einmal präsentiert bekommt. Wenn es unter dem Stichwort »Programmatisches« heißt, dass Minor seine selbstständigen Arbeiten »in aller Regel betont pragmatisch und zunehmend empiristisch« (S. 193) entwickelt, so scheint damit ein Grundsatz formuliert zu sein, der auf den Biografen Minors gleichermaßen zutrifft, und dies nicht nur zum Nutzen für die wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion, wofür noch zwei weitere Beobachtungen angefügt werden sollen.

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Den wissenschaftlichen Wert einer biografischen Studie sollte neben der Liebe zum Detail über ein bisher noch weitgehend unbekanntes individuelles Forscherleben auch das Bemühen ausmachen, die Einzelpersönlichkeit im Kontext übergreifender problemgeschichtlicher Zusammenhänge der Wissenschaftsgeschichte, deren Teil sie nun einmal ist, zu stellen. Eine Reihe von Ansätzen dazu bietet der erste Teil des vorliegenden Bandes durchaus, und zwar vornehmlich dort, wo von Jakob Minors Beziehung zu Wilhelm Scherer und dessen zahlreichen Schülern die Rede ist. Der Verfasser liefert nicht wenige interessante Belege dafür, dass Minor zunehmend auf Distanz gegangen ist, nicht zuletzt um sein eigenes wissenschaftstheoretisches Profil zur Geltung zu bringen.

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Für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Germanistik ist diese Feststellung insofern von Belang, als mit dieser Diagnose ein weiteres Indiz dafür in die Debatte gebracht wird, den wohl eher widersprüchlichen Begriff der sogenannten »Scherer-Schule« zu problematisieren und kritisch zu hinterfragen. Mehr als ein Fingerzeig ist es aber nicht, was der Verfasser als Argumente für oder gegen diese Problemkonstellation in Verbindung mit der Erörterung von Minors wissenschaftlicher Konzeptionsbildung geben kann, die überdies recht unscharf konturiert ist. Am augenfälligsten wird dies im Bezug auf die Kommentierung von Minors Auffassung zur philologischen Methode, die er in seinem Vortrag Die Aufgaben und Methoden der neueren Literaturgeschichte von 1904 dargelegt und die August Sauer in seinem Nachruf auf Minor besprochen hat. Ihr kommt daher ein besonderes Gewicht zu.

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Setzt man zu diesem Befund nun das in Beziehung, was der Verfasser verallgemeinernd zu Minors und Scherers Stellung zur Philologie ausführt, dann wird schnell deutlich, auf welch tönernen Füßen sein wissenschaftsgeschichtliches Urteil steht. Es heißt hierzu, dass Minor sich zur philologischen Methode bekannt habe, »die von Karl Lachmann in der neueren Literatur eingeführt und die später von Wilhelm Scherer konsequent ausgebaut worden ist und deren ›unerhörte Exaktheit und Akribie der wissenschaftlichen Arbeit‹ für ihn entscheidend« (S. 197) gewesen sei. An diesem Satz stimmt weder die undifferenzierte Aussage, dass Lachmann die philologische Methode auf die neuere Literatur übertragen habe (wenn man darunter nicht etwa die mittelalterliche Literatur versteht), noch die Einschätzung, Scherer habe Lachmanns Methode weiterentwickelt. Oberflächlicher kann man eigentlich Scherers wissenschaftsprogrammatische Auffassung kaum zusammenfassen.

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Auch im Schlussteil der Biografie, wo es darum geht, die Stellung Jakob Minors im Prozess der Wissenschaftsentwicklung tiefer auszuloten, gibt es nicht wenige Beispiele für Halbwahrheiten und in sich widersprüchliche Behauptungen. Wenn auf Seite 302 verallgemeinert wird, dass Minor bedeutende Anregungen »für die eigene, zunehmend empiristisch geprägte und geisteswissenschaftlich orientierte Methode, in der er seine literarhistorischen Arbeiten betrieb«, vor allem von Wilhelm Dilthey und dessen »nachvollziehende[r] Hermeneutik« bezogen habe, dann tritt das Problem, um das es hier geht, offen zu Tage. Dies resultiert nicht nur aus der mangelhaften Wahrnehmung von Unvereinbarkeiten bei der Beschreibung methodologischer Konstellationen (zum Beispiel hinsichtlich der unreflektierten Synthese von Empirismus und Geistesgeschichte) und der unzulässigen Verkürzung komplexer Sachverhalte (Was heißt »nachvollziehende Hermeneutik«?), sondern ebenso aus der ungenügenden Aufarbeitung und Kenntnisnahme der vorliegenden Forschungsliteratur, die in nicht wenigen anderen Fällen nicht einmal mit einem Hinweis in den Fußnoten bedacht wird.

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Es gehört meines Erachtens nicht bloß zum guten Ton, dass beispielsweise auf die einschlägigen Publikationen von Uwe Meves 2 an entsprechender Stelle im Text verwiesen werden sollte, wenn in einer Überblicksdarstellung zur Lage der Germanistik in Wien über die Gründung Germanischer Seminare an den deutschen Universitäten gesprochen wird. Und es ist bestimmt nicht unbillig anzumerken, dass die Kenntnisnahme des von Ralf Klausnitzer herausgegebenen Buches zu Josef Körner, 3 einem prominenten Schüler Jakob Minors, mehr an Wissen hervorgebracht hätte als der lapidare Verweis auf das Literaturlexikon von Walther Killy (vgl. S. 168).

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»Briefe Jakob Minors an August Sauer«

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Im zweiten Teil der Publikation findet der Leser alle edierten Briefe von Jakob Minor einschließlich der wenigen Antwortbriefe August Sauers in chronologischer Anordnung und im ungekürzten, diplomatisch getreuen Wortlaut, ergänzt durch undatierte Briefdokumente und Beilagen. Man mag streiten, ob es dem Zweck dienlich ist, dass, nachdem im ersten Teil nahezu alle für die wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung von Minors Werdegang wichtigen Briefpassagen schon bekannt gemacht wurden, diese Texte nun noch einmal im Zusammenhang mit dem gesamten Briefkorpus präsentiert werden. Wichtiger ist meines Erachtens die Tatsache, dass dieser Teil des Buches eine in sich geschlossene Briefedition beinhaltet, die wissenschaftlichen Maßstäben standhält, auch wenn der Herausgeber freimütig bekennt, dass die rund 600 in den Briefen genannten Personen nur zu etwa drei Viertel identifiziert werden konnten (Vgl. S. 309) und dass in den »Erläuterungen und Anmerkungen« manches unkommentiert geblieben ist (Vgl. S. 310). Wer selbst schon einmal mit Briefeditionen praktisch befasst war, wird verstehen können, welch äußerst mühsame Arbeit es ist, im Kommentarteil möglichst alles, was wünschenswert erscheint, nachzuweisen oder zu erläutern. Insofern ist das, was der Verfasser vorgelegt hat, beachtlich und mit Blick auf die Leser so beschaffen, dass das Kommentierte nicht nur Sacherklärungen gibt, sondern auch wichtige Kontextualisierungen zu einzelnen Briefstellen oder Gesamtbriefen ermöglicht.

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Ähnlich verhält es sich beim Personenindex, der immerhin mehr als 30 Druckseiten umfasst. Er beinhaltet in den meisten Fällen neben den üblichen Angaben zu den Namen weiterführende Auskünfte zu deren Biografie. Im Anhang schließlich findet sich ebenfalls eine Reihe lehr- und hilfreicher Zusatzinformationen: die Stammtafel der Familie Minor, das von Minor verfasste Curriculum vitae aus dem Jahre 1898, das interessante Selbstaussagen zu seiner Wissenschaftsmethode und seinem Verhältnis zur »Scherer-Schule« enthält, sein Testament in mehreren Fassungen sowie eine lückenlose Übersicht über Minors Vorlesungen, Seminare und Übungen vom Wintersemester 1880 / 81 bis zum Sommersemester 1912. Das Verzeichnis der Primärliteratur enthält in chronologischer Abfolge die (nicht publizierten) handschriftlichen Manuskripte, gedruckten Werke, Studien und Rezensionen sowie posthumen Veröffentlichungen. Die verzeichnete Sekundärliteratur gibt einen Überblick über wichtige Forschungspublikationen aus Österreich und Deutschland.

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Zieht man ein Fazit über das hier zu Besprechende, dann wäre außer dem Lob für wissenschaftliche Akribie und Sorgfalt bei der Edition und Kommentierung der Briefe sowie für die anschauliche Darstellung der Biografie Jakob Minors zugleich auch kritisch anzumerken, dass Detailverliebtheit und der Hang zur (manchmal aufdringlichen) Präsentation von Vielwissen dem ganzen Unternehmen nicht gerade förderlich ist. Weniger wäre mehr gewesen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass sich das vorliegende Projekt würdig einreiht in die erfreulicherweise anhaltenden Bemühungen der Fachhistoriker, noch unerschlossene Quellen aus der Geschichte ihrer Disziplin freizulegen, um damit die empirische Basis der wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktionsarbeit weiter zu verbreitern.



Anmerkungen

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wären neben den noch nicht abgeschlossenen Editionsprojekten Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden aus dem S. Hirzel Verlag in Stuttgart (seit 2001) und Brüder Grimm. Werke und Briefwechsel. Kasseler Ausgabe aus dem Verlag der Brüder Grimm-Gesellschaft in Kassel (seit 1998) vor allem zu nennen: Agnes Ziegengeist (Hg.): Konrad Burdach, Erich Schmidt: Briefwechsel. 1884–1912. Stuttgart, Leipzig: S. Hirzel 1998; Dorothea Ruprecht / Karl Stackmann (Hg.): Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder. Erster und zweiter Teilband (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge Nr. 237). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000 sowie Ralf Klausnitzer (Hg.): Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe. Göttingen: Wallstein 2001. Soeben erschienen ist: Mirko Nottscheid / Hans-Harald Müller (Hg.): Wilhelm Scherer. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853–1886, unter Mitarbeit von Myriam Richter. Göttingen: Wallstein 2005 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte. Band 5).   zurück
Neben dem im Literaturverzeichnis des vorliegenden Buches genannten Titel aus dem Jahre 1987 wäre zu verweisen auf: Uwe Meves: Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhleinrichtung. In: Jürgen Fohrmann / Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 115–203.   zurück
Vgl. Anmerkung 1.   zurück