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Gewagter Spagat

Systemtheorie-Brevier für Anfänger und Liebhaber

  • Christian Schuldt: Systemtheorie. (Wissen 3000) Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2003. 96 S. 1 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 8,60.
    ISBN: 3-434-46184-1.
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Mit seinem Band Systemtheorie legt Christian Schuldt eine aufgrund ihres Umfangs von knapp 100 Seiten durchaus portable Darstellung der Systemtheorie Niklas Luhmanns vor. Laut Klappentext versteht sich der Band als ein »veritabler Crash-Kurs für Anfänger«, aber auch als »frischer Parcours für Liebhaber«. Auch in seiner in der Einleitung formulierten Zielsetzung bekräftigt Schuldt den Willen, diesen imposanten Spagat vollführen zu wollen, wenn er schreibt:

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Dieses Buch versucht, die Komplexität der Systemtheorie so zu reduzieren, dass sie zugänglicher wird, ohne zur ›Systemtheorie light‹ zu werden. Neuankömmlinge sollen zur Luhmann-Lektüre motiviert werden, erprobte Systemtheorie-Sympathisanten erwartet eine Frischzellenkur in Sachen Basiswissen. (S. 13)
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Organisation des Bandes

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Schuldt stellt seinem Rundgang durchs »Luhmann-Labyrinth« (S. 72) einen allgemeinen Teil voran, der in sehr knapper Form die Systemtheorie im Kontext von Luhmanns Gesamtwerk verortet, Vorläufer der Systemtheorie darstellt und Standpunkte von Anhängern und Gegnern der Luhmannschen Systemtheorie referiert. Es folgt ein Abschnitt mit einer Erklärung wichtiger systemtheoretischer Grundbegriffe (Selbstreferenz, Systemtypen, Autopoiesis, Selbstorganisation, Kommunikation, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, Beobachtung etc.), die die (Verständnis-)Grundlage für den letzten Teil des Bandes, eine überblicksartige Darstellung der Systeme Liebe, Kunst und Massenmedien, bildet, die sich zugleich als Praxistest versteht. Eine erfrischend persönlich gehaltene Luhmann-Biographie und ein Abschnitt, der andere Theorieformen (Radikaler Konstruktivismus, Poststrukturalismus, Handlungstheorie) der Systemtheorie vergleichend gegenüberstellt, beschließen den Band.

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Schon beim ersten Durchblättern des Bandes fällt auf, dass zahlreiche hervorgehobene Luhmann-Zitate die Seitenränder säumen, denen Schuldt eine kurze Überschrift vorangestellt hat. Wenngleich die Zitate im Regelfall einen inhaltlichen Bezug zu den jeweiligen Kapiteln aufweisen, sind sie nicht immer erhellend, wie das Zitat »›Das eigene Bewusstsein tanzt wie ein Irrlicht auf den Worten herum.‹« (S. 33) im Kapitel über strukturelle Kopplung. Mag der Systemtheorie-Insider derartige Luhmann-Klassiker auch goutieren, bleibt der Anfänger eher irritiert zurück und fragt sich, was genau die Tropfen vom besten Kaffee in Rom mit Konsens und Dissens und Spaß an Kommunikation zu tun haben (S. 56). Über diese Zitate hinaus geht Christian Schuldt leider höchst sparsam mit Verweisen auf Primärtexte um. Wird der Lesefluss so einerseits begünstigt, wirkt sich die Abwesenheit von Verweisen auf Quellenmaterial auf das selbst erklärte Ziel Schuldts, Neuankömmlinge zur Luhmann-Lektüre zu motivieren, eher kontraproduktiv aus, wird doch die Anschlusskommunikation erschwert.

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Wie Schuldt zu Beginn seines systemtheoretischen Breviers richtig herausstellt, wird Neulingen der Zugang zur Systemtheorie (unter anderem) durch die »Luhmann-Language« (S. 10) erschwert. Um zu verhindern, dass Anfänger der Systemtheorie durch den komplementär zur Alltagssprache stehenden »Systemtheorie-Slang« (ebd.) abgeschreckt werden, bemüht sich Schuldt in seiner Darstellung um eine betont lockere Ausdrucksweise. Ein unangenehmer Nebeneffekt dieses lockeren Tons zeigt sich aber an Stellen, an denen Schuldt Termini, die kurz zuvor noch als systemtheoretisches Fachvokabular markiert wurden, in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung verwendet. Passagen wie »Ein Beobachter kann zwar die eigenen Beobachtungen nicht gleichzeitig selbst beobachten – aber er kann die Beobachtungen anderer Beobachter beobachten.« (S. 51) lassen den Eingeweihten allenfalls schmunzeln, einen Anfänger jedoch, der noch über den zuvor erläuterten Umstand nachsinnt, dass eine Beobachtung im systemtheoretischen Sinn aus ›Unterscheidung‹ und ›Benennung‹ besteht, dürften solche rhetorische Perlen in seinen Verstehensbemühungen eher zurückwerfen.

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Kürze und Würze

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Schuldt hat seinen Band, dem Sprichwort von Kürze und Würze folgend, eher auf der würzigen Seite verortet. Wer Scharfes oder Systemtheorie gewöhnt ist, dem mundet es, dem Anfänger vergeht leicht der Appetit. So wird in Systemtheorie leider auf ein Register mit den wichtigsten Schlagworten verzichtet, die Orientierung erfolgt anhand der Kapitelüberschriften im Inhaltsverzeichnis. Auch mit Illustrationen wird gespart. Die einzige Abbildung des Bandes, (de-)platziert im Abschnitt über die Formen gesellschaftlicher Differenzierung anstelle im biographischen Teil, zeigt Niklas Luhmann vor seinem Zettelkasten – leider ohne eine erklärende Bildunterschrift. Manche Passagen, wie etwa der Abschnitt über die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, verlangen förmlich nach einem illustrierenden und das Verständnis fördernden Diagramm. Sicher können Schaubilder bei einem abstrakten, selbstreferentiellen und vernetzten Gegenstand wie der Systemtheorie tückisch und irreführend sein, doch wenn Schuldt schreibt, »kreuzt man die Unterscheidungen System / Umwelt und Handeln / Erleben, ergeben sich vier verschiedene Zurechnungsmöglichkeiten« (S. 47) und dann diese Zurechnungsmöglichkeiten ausführt, beginnt der Leser (zumindest im Kopf) mit der Anfertigung eines Schaubilds, um dem Text folgen zu können. Trotz der Kürze der Darstellung lässt Schuldt seinen Erklärungen jedoch fast immer Beispiele folgen.

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Christian Schuldt gehört zum Kreis der »Theorie-Junkies« (S. 12) und macht aus seiner Bewunderung für Luhmann, die früh in der Verleihung des Titels eines »Theorie-Titanen« (S. 6) kulminiert, keinen Hehl. Dieser Umstand jedoch, verstärkt durch die Kürze von Systemtheorie, hat stellenweise eine eingeschränkte und wenig objektive Darstellung zur Folge. Besonders in den Abschnitten, in denen Schuldt die Systemtheorie anderen »konkurrierenden Theorien« (S. 54) gegenüberstellt, wird dies deutlich. Selbst wenn Schuldt Luhmann zitiert, dem es nicht um eine »›Hierarchisierung des Besserwissens‹« (ebd.) geht, kann der Eindruck entstehen, dass Schuldt selbst einer solchen Hierarchisierung nicht ganz abgeneigt ist.

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So werden die ideologiekritischen Einwände gegen die Systemtheorie aus den siebziger Jahren, vor allem die Einwände von »›Besserwissern‹« (ebd.) (hier: Habermas), einseitig und unreflektiert und aus einer defensiv anmutenden Haltung heraus dargestellt. Keines der Argumente, die in der »ideologiekritischen Abwehrschlacht« (S. 59) gegen die Systemtheorie vorgebracht wurden, erscheint in Schuldts Darstellung haltbar oder gar angebracht. Diese Haltung Schuldts findet sich stellenweise auch beim Vergleich der Systemtheorie mit den ihr ›verwandten‹ Theorien (Radikaler Konstruktivismus und Poststrukturalismus), die Schuldt gegenüber der Systemtheorie als defizitär erscheinen lässt. Die Dekonstruktion etwa leide, trotz aufgezeigter Gemeinsamkeiten mit der Systemtheorie, unter einer »selbstzerstörerischen Mitteilungsmanie« (S. 62). Im Kontext einer Einführung in die Systemtheorie erscheint eine solche Formulierung eher polemisierend. Eine offenere, ausführlichere und vor allem weniger voreingenommene Auseinandersetzung mit »Kontrahenten und Verbündete[n]« (S. 54) der Systemtheorie wäre, nicht nur im Hinblick auf Leser, die mit den großen Theorien nicht oder nur oberflächlich vertraut sind, wünschenswert.

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Fazit

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Schuldts Systemtheorie bemüht sich, Anfänger und Fortgeschrittene beiderseits zu erreichen. Für den Leser mit systemtheoretischen Vorkenntnissen stellt Schuldts Band eine amüsante und lesbare Möglichkeit der Auffrischung von bereits Bekanntem dar. Wengleich Schuldt nichts wirklich Neues liefert, versteht er es dennoch, Bekanntes in leicht bekömmlicher Form darzustellen. Eines der Ziele Schuldts, eine ›Frischzellenkur‹ für den Kenner abzuliefern, ist demnach erreicht. Anders verhält es sich mit seiner Zielsetzung, den Markt um eine weitere Einführung in die Systemtheorie zu bereichern. Schon ein oberflächlicher Vergleich mit zwei anderen Einführungen in die Systemtheorie zeigt, wo die Defizite von Schuldts Systemtheorie liegen.

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Margot Berghaus’ Luhmann leicht gemacht 1 erklärt auch demjenigen Leser die Systemtheorie, der nicht einmal eine Vorstellung davon hat, was überhaupt ein ›System‹ ist. Im Gegensatz zu Schuldt stapelt Berghaus in ihrer Einführung tief: Zahlreiche, wenngleich wenig ansehnliche Illustrationen, die ausführliche Erklärung auch ›einfachster‹ Zusammenhänge und Grundbegriffe anhand alltagsnaher Beispiele und die Unterordnung der Form unter den Inhalt sprechen für Berghaus’ Band – und mindern seinen Nutzen für den fortgeschrittenen Leser.

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Georg Kneer und Armin Nassehis Einführung Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme 2 zeigt auf der anderen Seite, dass eine Einführung auch eng am Material arbeiten kann. Kneer und Nassehi zitieren exzessiv die Primärliteratur. Dies bringt zwar einerseits die erwähnten Verständnisprobleme mit sich, um deren Zerstreuung sich Kneer und Nassehi jedoch fortwährend durch Erläuterungen bemühen, ermöglicht dem Leser aber, ergänzt durch umfangreiches Literaturverzeichnis und Register, eine einfache Anschlusskommunikation. Diese Klarheit der Sprache und Anschlussfähigkeit lässt Schuldts Band über weite Teile vermissen.

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Schuldts Plan, mit Systemtheorie sowohl Anfänger als auch Kenner zufrieden zu stellen, oder zumindest zu erreichen und zu begeistern, geht leider nicht auf. Der Spagat, den Schuldt zwischen den Zielgruppen zu vollführen versucht, will einfach nicht gelingen: Für den fortgeschrittenen Leser mag Systemtheorie unterhaltsam und auffrischend (aber auch verzichtbar) sein – und dem Anfänger, der sich in die Systemtheorie einarbeiten will, ist nicht vorbehaltlos zuzuraten.



Anmerkungen

Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht: Eine Einführung in die Systemtheorie. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. Köln, Weimar, Wien: UTB 2004 (2003); vgl. auch die Rezension von Christoph Reinfandt: Luhmann statt Buhmann: Systemtheorie tiefergelegt! In: IASLonline. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Reinfandt.html [5.12.2003].   zurück
Georg Kneer / Armin Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. 4. unveränderte Auflage. München: UTB 2000 (1994).   zurück