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Team-Arbeit

Dürer, Chelidonius und das Marienleben

  • Anna Scherbaum: Albrecht Dürers »Marienleben«. Form - Gehalt - Funktion und sozialhistorischer Ort. Mit einem Beitrag von Claudia Wiener. (Gratia. Bamberger Schriften zur Renaissanceforschung 42) Wiesbaden: Harrassowitz 2004. ca. 400 S. 96 Abb. Gebunden. EUR 68,00.
    ISBN: 3-447-05013-6.
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Ulrich Mölk gewidmet

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Albrecht Dürers Marienleben hat eine Vielzahl von Untersuchungen erfahren. Zumeist wurden stilkritische Fragen traktiert, wobei es nicht um die (zweifelsfreie) Urheberschaft des Werks durch den Nürnberger Künstler ging, sondern um die Datierung und Entstehungsfolge der insgesamt 20 zwischen 1502 und 1510 / 11 geschaffenen Holzschnitte. 1511 erschienen sie als Buch, versehen mit Distichen des Benedictus Chelidonius (eigentlich: Benedikt Schwalbe, um 1460–1521). Vereinzelt wurde nach Vorbildern in der antiken und italienischen Kunst gefragt. Und natürlich haben die Inhalte einzelner Blätter und der ganzen Serie Aufmerksamkeit gefunden. Ein knapper Forschungsbericht (S. 9–12) und die Kommentare der Einzelblätter (S. 130–175) beschreiben die Ausgangslage.

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Anna Scherbaum verzichtet weitgehend darauf, die Spezialfragen der traditionellen Dürer-›Philologie‹ erneut aufzugreifen. Sie hat gut daran getan, ihren Blick auf bisher kaum beachtete Aspekte von Bild und Text, Buch und Gesellschaft zu richten. Das Ergebnis lag 2002 der Freien Universität Berlin als kunstgeschichtliche Dissertation, aber keineswegs als ›Erstlingsarbeit‹ vor. Die Verfasserin war schon zu diesem Zeitpunkt ausgewiesene Dürer-Forscherin. 1 Das verspricht einiges, und die Autorin hält – wie ich schon jetzt dankbar vermerke – dieses Versprechen.

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Der Aufbau des Buches ist ungewöhnlich. Der Untersuchungsgegenstand Marienleben fristet nämlich nicht, wie in gelehrten kunstgeschichtlichen Werken üblich, als notwendiges Übel sein Dasein in einem Bild-»Anhang«, sondern ist als verkleinertes Faksimile mit dem lateinischen Text der Untersuchung vorangestellt (S. 15–53). Dann folgt eine von Claudia Wiener besorgte kommentierte Ausgabe der Verse des Chelidonius samt deutscher Übersetzung (S. 55–98). Deutlicher kann der Vorrang von Bild und Text vor der Theorie kaum vor Augen geführt werden.

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Nach diesem quellenkundlichen Vorspiel setzt auf S. 101 die Untersuchung ein. Ich folge deren Ablauf und Kapitelüberschriften.

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Dürers Holzschnitte zum Marienleben

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Dieses (im Buch vierte) Kapitel benennt die Voraussetzungen für Dürers Marienleben. In erster Linie waren dies apokryphe Schriften, insbesondere die im Kindheitsevangelium des Pseudo-Matthäus (10. Jh.) versammelten Legenden. Dürer zeitlich und örtlich näher steht Ulrich Pinders Beschlossen Gart des Rosenkrantz Mariae, 1505 in Nürnberg erschienen. Auch die Legenda aurea (13. Jh.), der Schatzbehalter (1491) und anderes ist als literarische Vorlage in Betracht gezogen worden (S. 11 f., 101 ff.). Unklar bleibt vorerst, ob und in welchem Maße der gelehrte Chelidonius als Textvermittler auf das Bildprogramm eingewirkt hat.

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Bildliche Anregungen kann Dürer von thematisch einschlägigen Altargemälden aus der Werkstatt seines Lehrmeisters Michael Wolgemut empfangen haben, wo er von 1486 bis 1489 tätig war. Es sei dahingestellt, ob der Zwickauer Altar von 1479 dazugehören kann. Bei dessen Fertigstellung war Dürer neun Jahre alt, und von einer Reise nach Zwickau ist nichts bekannt. Es wird wahrscheinlich Visierungen gegeben haben. Den Peringsdörfer Altar (1486) mit neun Szenen aus dem Leben der Maria konnte er hingegen in Nürnberg sehen.

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Wahrscheinlich kannte und nutzte Dürer auch Illustrationen einiger Frühdrucke mit dem Marienleben: Die neue Ehe (Lübeck 1478), Die Wallfahrt oder Pilgerung unserer lieben Frau (Ulm 1487), Die Wallfahrt oder Pilgerschaft der allerseligsten Jungfrau Maria (Basel 1489). Ebenso werden Einblattdrucke Martin Schongauers und Israhel van Meckenems als anregende Vorbilder in Betracht gezogen (S. 113 ff.). Mitunter aber führt die kunstgeschichtliche Spurenlese ins Leere:

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Die auffälligen Rahmenarchitekturen, die viele der Kompositionen des Dürerschen Marienlebens umgeben, können sowohl auf Vorbilder nördlich der Alpen wie auf italienische Bildquellen zurückgeführt werden. In diesem Zusammenhang wurde auf den Wolfgang-Altar Michael Pachers, auf den Miraflores-Altar und den Johannes-Altar Rogier von der Weydens in Berlin und die Geburt Christi von Petrus Christus in der National Gallery of Art, Washington, hingewiesen. (S. 112)
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Wieso dieses: »Können zurückgeführt werden«? Der Miraflores-Altar ist 1445 in das gleichnamige Kloster nahe des spanischen Burgos gestiftet worden und war Dürer unzugänglich. Ob sich Rogiers Johannes-Altar und die von Petrus Christus gemalte Geburt Christi jemals in Sichtweite Dürers befunden haben, ist völlig ungewiß. Pachers Wolfgang-Altar hingegen, 1471 / 81 geschaffen, war seinerzeit nicht weit von dem Wege entfernt aufgestellt, den Dürer auf seiner ersten Reise nach Italien genommen hatte. 2

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Doch warum müssen bei der Spurensuche derart komplizierte Umwege über Spanien und unbekannte Orte gegangen werden, wenn zugleich richtig festgestellt wird:

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Dürer hat aber auch auf reale Architekur zurückgegriffen. Besonders die venezianische Sakralarchitektur der Frührenaissance, die er auf seiner ersten Italienreise [1494 / 95] kennengelernt hatte, lieferte hier Ideen. (S. 112)
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Nachdem somit die vermuteten, wahrscheinlichen und gesicherten Voraussetzungen für Dürers Marienleben dargelegt sind, wendet sich Anna Scherbaum den Versen des Chelidonius zu:

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Das Marienleben des Chelidonius

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Dürer gab das Marienleben in zwei Versionen heraus: Zum einen als ungeordnete Folge textloser Einblattdrucke, die zwischen 1502 und 1510 / 11 entstanden und wahrscheinlich auch sofort als Einzelblätter verkauft wurden (S. 103 f.). Die Entstehungsfolge entspricht nicht den Stationen der Vita Mariens, wie sie für die Buchausgabe von 1511 zusammengestellt wurden. Zu den 20 Holzschnitten der Buchausgabe hat der Nürnberger Humanist Benedictus Chelidonius zwanzig lateinische Gedichte verfasst, die – mit Ausnahme des Titelholzschnitts – jeweils auf der linken Buchseite neben dem rechts stehenden Bild angeordnet sind.

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Chelidonius war ein fleißiger Autor im Kreis um Caritas und Willibald Pirckheimer, Johannes Cochläus und Conrad Celtis. Seine Kontakte mit Dürer sind nicht nur durch das Marienleben bezeugt. Auch dessen gleichfalls 1511 erschienene Buchausgaben der Kleinen und der Großen Passion sind mit Gedichten des Chelidonius versehen. Ungeklärt ist, von wem der Anstoß für diese Zusammenarbeit ausging (S. 117 ff.).

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Die Distichen des Chelidonius sind bisher nicht hinreichend gewürdigt worden. Anna Scherbaum vermutet als einen Grund,

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dass die meisten Buchausgaben aufgelöst wurden und als Einzelblätter überliefert sind. Diese Einzelblätter tragen zwar einen lateinischen Text auf der Rückseite, dieser besitzt jedoch keinen Bezug zu dem Bild auf der Vorderseite. (S. 120, Anm. 113)
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Nun läßt sich der ursprüngliche Kontext leicht rekonstruieren, und daher vermute ich etwas ganz anderes: Daß nämlich die meisten Kunsthistoriker mangels genauerer Kenntnisse des Humanistenlatein und der literarischen Tradition die Texte bewusst umgangen haben. Wie dem auch sei: Die Neulatinistin Claudia Wiener, der auch die S. 59 ff. abgedruckte Übersetzung zu verdanken ist, hat Chelidonius’ Quelle identifiziert, nämlich den Parthenices primae libri tres (1488) des Baptista Mantuanus (S. 122 ff.).

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Damit können einige ältere Versuche, die Texte wie die Bilder aus einer mittelalterlich-volkstümlichen Tradition der Marienverehrung zu erklären, wohl ad acta gelegt werden (Marienleben des Karthäusers Philipp; Legenda aurea). Dies hat Konsequenzen hinsichtlich des zu vermutenden Rezipientenkreises: Poetik und Rhetorik des Chelidonius richten sich nicht schlicht an des Lateins Kundige, sondern im engeren Sinne an humanistisch gebildete Leser:

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Chelidonius formte das umfangreiche Epos des Mantuanus in 18 Elegien aus jeweils zwölf Distichen um. Die Entscheidung für das elegische Distichon anstelle des für die narrative Darstellung beliebten Hexameters signalisiert zweierlei: Chelidonius stellt sich in die Tradition des Lehrgedichts nach Ovids ›Fasti‹, an deren Stil er sich orientiert. Das elegische Distichon gilt zudem als ein weicheres Vermaß als der heroische Hexameter und erschien deshalb für das weibliche Thema des Marienlebens geeigneter; in gewisser Weise wird die römische Liebeselegie hier zu einem Marienlob sublimiert. (S. 126)
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Im Detail zeigen sich Differenzen zwischen Bild und Text: »Während Dürer seine Darstellungen entsprechend der tradierten Bildikonographie in der irdisch realen Welt ansiedelt, erhebt Chelidonius, seinem Vorbild Mantuanus folgend, die Protagonisten in göttliche Sphären«. So wird etwa Jesus bei ihm mit dem Sonnengott Phoebus / Apoll gleichgesetzt. Auch die Erzählung ist uneinheitlich. Schildert etwa Dürer im Falle der Geburt der Maria das fröhliche Treiben in einer Nürnberger Wochenstube, so ist Chelidonius an der überirdischen Erhabenheit interessiert, die das Antlitz dieses auf dem Holzschnitt kaum wahrnehmbaren Mädchens ausstrahlt. Man mag diese Brüche beklagen. Sie sind jedoch das Ergebnis zweier unterschiedlicher und jeweils legitimer Interpretationen ein und derselben Geschichte (S. 67, 126 f.).

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Hier schließt sich die praktische Frage nach der Redaktion der Buchausgabe an. Die herkömmliche Dürer-Forschung geht davon aus, dass die Gedichte des Chelidonius gezielt zu den bereits ab 1502 vorliegenden Holzschnitten verfasst wurden. Dem widerspricht Anna Scherbaum, die in den Gedichten »eine eigenständige, anspruchsvolle Kurzfassung des Epos Parthenice Mariana von Baptista Mantuanus« erkennt. Eines ihrer Argumente beruht auf der beobachteten Diskrepanz von Bild und Text. Erst die nachträglich hinzugefügten Überschriften der Gedichte hätten deren inhaltliche Verbindung –»die Brücke« – mit den Holzschnitten bewirkt. Andererseits habe Dürer im Jahre 1510 die Holzschnitte Tod Mariens und Auferstehung und Himmelfahrt Mariens »zu den vorliegenden Distichen des Chelidonius« geliefert (S. 128 f.).

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Solange keine Urkunden über die Zusammenarbeit zwischen Dürer und Chelidonius unterrichten, wird deren genaue Form unklar bleiben. Der Titel des Marienlebens lässt vermuten, dass die Konzeption der Buchausgabe auf den erstgenannten Dürer und nicht auf Chelidonius zurückgeht (in deutscher Übersetzung): »Auszug aus der Geschichte der heiligen Jungfrau Maria, von Albrecht Dürer aus Nürnberg in Bildern dargestellt, mit beigegebenen Versen des Chelidonius«.

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Die Stationen des Marienlebens

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Das 6. Kapitel enthält einen Blatt-für-Blatt-Kommentar der 20 Holzschnitte des Marienlebens. Behandelt wird die formale Erscheinung, das Verhältnis von Bild und Text, der jeweilige Forschungsstand mit seinen gelegentlich amüsanten Widersprüchen, die Rezeption einschließlich der Kopien. Für die Zustandsbeschreibungen verweist Anna Scherbaum auf Meders Dürer-Katalog, für die Kopien auf Hellers Leben und Werke Albrecht Dürers. 3 Ferner nennt sie einige Wiederholungen bzw. Motivübernahmen in anderen Techniken (Skulptur, Malerei). Selbst aus dem künstlerisch eher unbedeutenden regionalen Umkreis des Rezensenten sind die Beispiele der Rezeption leicht zu ergänzen: Der in Göttingen tätige Maler Heinrich Heisen (erwähnt 1523–1553 / 54) hat auf drei seiner Altargemälde (Osterode, Diemarden, Göttingen / Bückeburg) Dürers Vorbild benutzt. 4

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Später gelangten zwei weitere Arbeiten in die Kunstsammlung der Universität Göttingen: Ein das Original äußerst genau wiederholender Holzstock mit Joachim auf dem Felde, geschnitten von Carl August Deis (1810–1884) [?] 5 , und eine den Linien des Drucks Der Aufenthalt in Ägypten genau folgende Federzeichnung (monogrammiert und datiert: DM 155[4]; 298 x 207; Inv.-Nr. H 928). 6

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Diese Nachträge mögen bitte nicht als Kleinlichkeitskrämerei verstanden werden, sondern als Hinweis darauf, dass Dürers Marienleben zu den einflussreichsten Kunstwerken des frühen 16. Jahrhunderts zählte. Allein die Verkündigung an Maria hat in der Tafelmalerei bis um 1530 mindestens 58 Wiederholungen und Paraphrasen gefunden. 7

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Das Buch

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Das folgende Kapitel widmet sich den buchgeschichtlichen und –gestalterischen Problemen des Marienlebens (S. 177 ff.). Wie schon bei der gleichfalls im Folio-Format herausgebrachten Apokalypse (1498) übertrifft die Größe des Bildes rechts deutlich den links gegenüberliegenden Satzspiegel. War schon Stephan Fridolins Schatzbehalter (1491) mit seitengroßen, dem Satzspiegel gleichenden Holzschnitten ausgestattet, so betont Dürers Gestaltungsprinzip den Vorrang des Bildes vor dem Text. Am Beispiel weiterer illustrierter Bücher um 1500 zeigt Anna Scherbaum die Modernität des Dürerschen Konzepts auf.

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Dies gilt auch für die Typographie (S. 183 ff.). Die im Marienleben verwandte Antiqua, die Dürer 1494 / 95 und 1505 / 07 in Italien hat kennenlernen können – er erwarb in Venedig eine lateinische Ausgabe der Werke Euklids und wohl auch die Hypnerotomachia Poliphili – war im deutschen Buchdruck um 1500 neu. Üblich war die gebrochene »Gotica«, in der auch Dürers Apokalypse gesetzt ist. Einige wenige Ausnahmen bestätigen die Regel: Die zwischen 1471 und 1475 erschienenen Drucke des Johannes Regiomontanus oder die von Conrad Celtis 1491 verfasste Inschrift auf dem Grabmal der »Anna germana«.

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Am Beispiel Anton Kobergers, Patenonkel Albrecht Dürers, zeigt Anna Scherbaum, dass die unterschiedlichen Schriftschnitte je nach Zielgruppe eingesetzt wurden. So druckte Koberger die Werke Vergils in »alten römischen puchstaben«, die mittelalterliche Legendensammlung des Schatzbehalters hingegen in gotischen Typen.

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Die Wahl der Schriftart bedeutete nicht die Wahl eines bloßen materiellen Bedeutungsträgers für die Sprache. Vielmehr waren die Schriftformen – und sie sind es bis heute – mit politischen, religiösen, symbolischen oder ideologischen Bedeutungsinhalten gekoppelt. Für die Humanisten schlug die Antiquaschrift die Brücke zur Antike und rückt zum einen den Autor in die Nähe bewunderter Vorbilder wie Vergil, Cicero und Ovid. Sie diente aber zum anderen auch zur klaren Kenntlichmachung der modernen Inhalte und äußerlichen Abgrenzung vom Althergebrachten. […] Mit der Wahl der Antiqua wollte der Künstler bewusst ein Schriftbild wählen, das in humanistischen Kreisen als Signal verstanden wurde. (S. 187 f.)
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Nachfolgend (S. 188 ff.) untersucht Anna Scherbaum die aus dem Einband gelösten Bögen des Marienlebens (und zwar konkret das Exemplar der Graphischen Sammlung der Museen der Stadt Nürnberg) hinsichtlich Satz und Druck. Ihre Erkenntnis, dass der »Druck der Bücher […] bereits nach den Erfordernissen der späteren Bindung« erfolgte (S. 189), scheint so überraschend nicht. Überraschend ist etwas anderes, dass nämlich Letternsatz und Holzstock jeweils in einem Arbeitsgang auf die Doppelseiten der ungefalzten Bögen gedruckt wurde. Bisher wurden getrennte Arbeitsgänge für Text- und Bilddruck angenommen.

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Es folgen weitere Beobachtungen zu Typographie und Satzgestaltung, die erneut Dürers Fähigkeit belegen, traditionellen Formen eine neue Gestalt zu geben (S. 198–201). So ist der Titel des Marienlebens (EPITOME IN DIVAE PARTHENICES MARIAE […]) zur Form eines auf die Spitze gestellten Dreiecks umbrochen. Dieses Gestaltungsprinzip kannte Dürer unter anderem durch das Titelblatt des Ritter vom Turn (1493), an dessen Illustrationen er mitgearbeitet hat. Allerdings wählt er nun als Schrift in Holz geschnittene römische Kapitalis, die – wie spätere Arbeiten zeigen – für ihn einen hohen repräsentativen Rang hatte.

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Zurecht macht Anna Scherbaum darauf aufmerksam, dass Dürer im Unterschied zu überfüllten Seiten in zahlreichen Frühdrucken ein inhaltlich wie ästhetisch ausgewogenes Nebeneinander von Text und Bild erreicht hat (S. 204 ff.). Umstritten bleibt die Frage, ob Dürer selbst denn auch das Marienleben gedruckt habe, wie der Kolophon nahelegt: »Impressum Nurnberge per Albertum Durer pictorem«. Mit guten, aus der betrieblichen Organisation einer Buchdruckerei abgeleiteten Gründen lehnt Scherbaum die in der Kunstgeschichte vorherrschende Meinung ab, er sei der Drucker seiner Bücher gewesen. Wohl aber war er ihr Verleger, der das unternehmerische Risiko trug und zum Schutz seiner wirtschaftlichen Rechte ein kaiserliches Privileg erwarb (S. 206 f.).

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Als Drucker nennt Anna Scherbaum den in Nürnberg tätigen Hieronymus Höltzel, der das ganze Jahr 1511 mit dem Druck des Marienlebens, der Kleinen und Großen Passion und der Neuauflage der Apokalypse ausgelastet gewesen sei (S. 208 ff.). Über die Auflagenhöhe keines dieser Werke ist etwas bekannt. Scherbaum nimmt wegen des komplizierten Bogendrucks an, dass die jeweilige Gesamtauflage in einem Zuge gedruckt wurde und nicht, »wie in Kunsthistorikerkreisen gerne angenommen«, je nach Bedarf.

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Einige Zahlen zu verkauften, vertauschten, verschenkten Exemplaren seiner Bücher sind dem Tagebuch der niederländischen Reise 1520 / 21 zu entnehmen, unter anderem, dass er bei dieser Gelegenheit mindestens 90 Exemplare des Marienlebens abgegeben hat – rund zehn Jahre nach dessen Erscheinen (S. 209 ff.). Auch über Preise unterrichtet das Tagebuch: Ein »Grosses Buch« wie das Marienleben mit zwanzig Holzschnitten kostete ¼ Gulden. Zum Vergleich nennt Scherbaum den Jahreslohn eines Nürnberger Meisters im Bauhandwerk mit 50 Gulden. Der Lohn in anderen Gewerken auch außerhalb Nürnbergs war ähnlich. 8

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Hier sei ein Exkurs eingeschaltet. Zum einen: Die genannten Relationen zeigen, dass die »Großen Bücher« nicht völlig außerhalb der finanziellen Reichweite eines Handwerksmeisters lagen, von entsprechend billigeren kleinformatigen Einzelblättern ganz zu schweigen. Zum anderen: Wenn Dürer für ein komplettes Marienleben ¼ Gulden erzielte, dann musste er, um 50 Gulden einzunehmen, 200 Exemplare mit je zwanzig Holzschnitten verkaufen. Ferner hatte er die Holzschneider zu bezahlen, die Satz- und Druckkosten, das Material (Holzstöcke, Papier, Druckfarbe), den Vertrieb (Reisekosten zu Messen, Provisionen für Kolporteure), das Honorar für Chelidonius. Hinzu kommt die teilweise Verzinsung des eingesetzten Kapitals über mindestens zehn Jahre und – weil Dürer ökonomisch dachte, wie wir nicht nur aus dem Tagebuch, sondern auch aus dem Privileg des Marienlebens selbst wissen – auch ein angemessener Gewinn als Entschädigung für die aufgewandte Zeit und Innovationskraft. Womöglich können diese Parameter einem Verlags- oder Buchhandelshistoriker dienlich sein, die Auflagenhöhe abzuschätzen.

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Der sozialhistorischer Ort

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Die frühe Besitzgeschichte des Marienlebens (»Künstler, reiche Kaufleute, Patrizier und gehobene Kleriker«, S. 212 ff.) kann als Einführung in das nun folgende Kapitel angesehen werden. Dessen erster, knapp vier Seiten umfassender Abschnitt ist überschrieben: »Dürer als humanistischer Publizist« (S. 219 ff.). Ein Verzicht auf diese Ansammlung von Allgemeinplätzen und Wiederholungen eigener Feststellungen hätte dem guten Buch besser getan.

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Hervorzuheben ist Anna Scherbaums Analyse des Marienlebens als ein zutiefst christliches Werk, das an »ausgesprochen gebildete Leser aus Patrizier- und Humanistenkreisen« gerichtet war und das somit der verbreiteten Auffassung widerspricht, der Humanismus ziele (einzig) auf Säkularisation und ein aus der Antike gewonnenes neues Heidentum. Gerade im Nürnberger Klosterhumanismus fielen »humanistische und christliche Anliegen« zusammen. Die Tatsache, daß das Marienleben mit einer von Dürer zumindest geduldeten, wenn nicht gewollten Widmung des Chelidonius an Caritas Pirckheimer beschlossen wird – die »Anhängerin der [lateinischen] Musenerzeugnisse« und Äbtissin – macht dies sinnfällig (S. 222 ff.).

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Vorbild der gelehrten Frau war im Verständnis der Humanisten Maria, die nicht nur wegen ihrer Tugend, sondern auch als »virgo docta« verherrlicht wurde. Damit einher geht die gesteigerte Verehrung der heiligen Anna als »Ursprung der Idealfamilie und Vorbild für ein erfülltes Familienleben« (S. 230 ff.). Diese Vorstellung findet sich bei Dürer wiederholt.

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Beschlossen wird der Text durch die beiden Kapitel »Die Diskussion um die Unbefleckte Empfängnis Mariens« (S. 234 ff.) und »Dürers Beitrag zur Diskussion« (S. 241 ff.). Scherbaum zufolge habe Dürer in dieser zwischen »Makulisten« und »Immakulisten« strittigen theologischen Frage mit der Darstellung von Joachim und Anna unter der Goldenen Pforte ein Bekenntnis zur unbefleckten Empfängnis abgelegt. Dem Bild selbst ist ein solches Bekenntnis kaum zu entnehmen, und dass die Datierung 1509 Dürers »Stellungnahme in der aktuellen Streitfrage um die Unbefleckte Empfängnis historisch untermauern« sollte (S. 244), scheint mir eine recht weit hergeholte Annahme zu sein – zumal auch Blatt 18 und 19 (Tod sowie Himmelfahrt Mariens) datiert sind. In der Sache wird Anna Scherbaum recht haben, denn die zugehörigen Verse des Chelidonius bestätigen, dass Maria frei von Erbsünde in den Mutterleib eingepflanzt wurde. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es zwischen dem Theologen Chelidonius und dem Künstler Dürer einen Dissens über die Auslegung der frommen Geschichte gegeben habe. Im Gegenteil: Die dreifache Zusammenarbeit der beiden im Jahre 1511 legt nahe, dass Dürer sich mit den theologischen Auffassungen des Chelidonius identifizierte.

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Dieses letzte Beispiel mag noch einmal verdeutlichen, dass das Marienleben als Einheit von Bild und Text zu sehen ist. Es ist Anna Scherbaums Verdienst, die bisher vernachlässigten Verse des Chelidonius vom Rande der Aufmerksamkeit in ein gemeinsames Text-Bild-Zentrum gerückt zu haben. Und so erschließt sie das Marienleben neu als ein Gesamtkunstwerk aus anrührender Volksfrömmigkeit und humanistischer Gelehrtheit.

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Anmerkungen

Vgl. S. 379 des Literaturverzeichnisses. Einschlägig vor allem: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band II. Holzschnitte und Holzschnittfolgen. Bearbeitet von Rainer Schoch, Matthias Mende und Anna Scherbaum. München u.a.: Prestel 2002, S. 214–279 (Marienleben).   zurück
Der Kupferstich Das Große Glück von 1501 / 02 zeigt eine Ansicht von Klausen in Tirol (Meder 72).   zurück
Joseph Meder: Dürer-Katalog. Ein Handbuch über Albrecht Dürers Stiche, Radierungen, Holzschnitte, deren Zustände, Ausgaben und Wasserzeichen. Wien 1932. Joseph Heller, Das Leben und die Werke Albrecht Dürers. Bd. 2,1 und 2,2. Bamberg 1827.   zurück
Hans Georg Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei in Niedersachsen und Bremen. München: Deutscher Kunstverlag 1974, Nr. 194–196.   zurück
Dürers Dinge. Einblattgraphik und Buchillustrationen Albrecht Dürers aus dem Besitz der Georg-August-Universität Göttingen. Göttingen: Kunstsammlung der Universität 1997, Nr. 106.   zurück
Katalog der Zeichnungen. Kunstsammlung der Universität Göttingen. Hrsg. v. Gerd Unverfehrt. München 1999 (= DISKUS CD-ROM 17).   zurück
Sven Lüken: Die Verkündigung an Maria im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 85 und 500 (= Rekonstruktion der Künste 2). Zu Einzelheiten vgl. den Katalog auf beiliegender CD-ROM.   zurück
Weiterführende Informationen zur ökonomischen Situation Dürers bei Wolfgang Schmid: Dürer als Unternehmer. Kunst, Humanismus und Ökonomie in Nürnberg um 1500. Trier 2003.   zurück