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Lessings ‚Emilia Galotti’
in einer neuen Edition

  • Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Elke Monika Bauer. (Lessing: Werke in Einzelausgaben 1) Tübingen: Max Niemeyer 2004. XXVI, 897 S. 52 Abb. Leinen. EUR (D) 188,00.
    ISBN: 3-484-10848-7.
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Brauchen wir eine neue
Ausgabe der Emilia Galotti?

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Der erste Druck von Lessings Tragödie Emilia Galotti erschien zur Ostermesse 1772 bei Voß in Berlin als Teil seiner Trauerspiele (= Lachmann/Muncker 1772a; bei Bauer D1.2), ein Separatdruck (= 1772b; D1.1) auf der Basis der Erstausgabe und zwei weitere Ausgaben (=1772c; D2; 1772d; D3) folgten im selben Jahr. Lessing fertigte vom Text des Dramas eine Reinschrift an, die seit 1846 in der Königlichen Bibliothek (heute: Staatsbibliothek) Berlin aufbewahrt wird und bereits von Franz Mucker herangezogen wurde. 1 Eine weitere Abschrift durch einen Schreiber diente seinem Bruder Karl in Berlin als Grundlage für die Korrektur. Die bis heute maßgebliche historisch-kritische Lessing-Ausgabe von Lachmann/Muncker (hier Bd. II, 3. Aufl. 1886) – deren Text viele der nachfolgenden Emilia Galotti-Ausgaben abdrucken – bringt den Text nach dem Prinzip der ›Ausgabe letzter Hand‹ (1772d/D3).

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Seither hat sich die Textgrundlage durch den Fund der Abschrift des Schreibers (1948 durch H.S. Schulz), die eigentliche Druckvorlage, die sich im Nachlaß von Lessings Freund Moses Mendelssohn erhalten hatte (University of Chicago; seit 1965 im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main), deutlich verändert (S. VI, S. 89). 2 Beide Handschriften »wären«, so Klaus Bohnen noch im Jahre 2000 im Kommentar der Lessing-Ausgabe im ›Deutschen Klassiker Verlag‹, »für eine [historisch-]kritische, alle Varianten verzeichnende Ausgabe heranzuziehen«. 3 Diese Ausgabe hat Elke Monika Bauer mit dem hier zu besprechenden Band nun vorgelegt, der zugleich eine neue, von Winfried Woesler herausgegebene Reihe Lessing: Werke in Einzelausgaben eröffnet. Vor dem Hintergrund der hier nur in groben Zügen skizzierten Überlieferungslage erscheint eine Neuedition von Lessings Emilia Galotti damit als längst überfällig.

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Zum Aufbau der Edition

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Die lehrbuchmäßig aufgebaute Ausgabe (vom Niemeyer-Verlag sorgfältig gesetzt und wunderschön ausgestattet 4 ) besteht aus drei Teilen: 1. einem Lesetext des Dramas auf der Basis des Göttinger Exemplars des ersten Separatdruckes (D1.2/1772b) – ein entscheidender Unterschied zu der Edition bei Lachmann/Muncker; 5 2. einem umfangreichen Apparat (fast 300 S.), der über die einzelnen Textträger, die Quellen sowie Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ausführlich informiert und dabei natürlich auch über die von der Editorin gewählte Textgrundlage Rechenschaft ablegt; 3. einer umfassenden Sammlung von Dokumenten zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes. Verschiedene Register (u.a. der zeitgenössischen Aufführungen) ermöglichen den selektiven Zugriff auf die in dem Band versammelten Materialien. Ein Sachkommentar, auf den die Herausgeberin »bewußt verzichtet« (S. XIV), fehlt.

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Das Kapitel Textgrundlage erläutert auf der Grundlage einer umfassenden Darstellung der Genese des Druckes (vgl. S. 124 ff.), warum die Editorin den ersten Separatdruck (1772b; bei Bauer D1.1) und nicht die anderen im Jahre 1772 erschienen Drucke ihrer Edition zugrundelegt: Sie folgt damit dem Prinzip des Erstdrucks und nicht dem der ›Ausgabe letzter Hand‹ (1772d/D3). Die Herausgeberin macht dafür letztlich wirkungsgeschichtliche Argumente geltend, da die Entstehungs- und Druckgeschichte (und damit das Problem der Autorisation des spätesten Druckes zu Lebzeiten) weiterhin weitgehend im Dunkeln bleibt (S. 153 f.), so daß die Wahl auf den Erstdruck fiel, der die eigentliche Wirkung von Lessings Trauerspiel begründet habe (S. 154).

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Die vorletzte Fassung (1772c/D2) schied als Textgrundlage aus: Lessing hatte für diesen Druck zwar unter anderem eine Korrekturliste zusammengestellt (heute verloren), doch finden sich in diesem Druck wiederum eine Reihe neuer Druckfehler, so daß das Problem der Autorisation hinsichtlich der einzelnen Varianten letztlich nicht zu lösen ist. Gleiches gilt schließlich auch für die neuentdeckte Handschrift aus dem Mendelssohn-Nachlaß, deren Edition »auf den ersten Blick verlockend« erscheine, weil es die letzte vom Autor selbst überwachte Fassung sei (S. 155). Diese Handschrift enthält zahlreiche Korrekturen aus der Hand eines Korrektors (Lessings Bruder Karl), die sich allerdings auf die erste Hälfte des Manuskripts beschränken, so daß die Fassung durch eine uneinheitliche Mischorthographie gekennzeichnet ist: »Der Druck bietet hier also eine eindeutige Verschlechterung gegenüber der Druckvorlage.« (S. 155).

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Am Ende bleibt die Diskussion der verschiedenen Textgrundlagen und der von der Editorin akribisch rekonstruierte bibliogenetische Zusammenhang der einzelnen Überlieferungsträger seltsam unentschieden:

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Letztlich bietet keine der erhaltenen Fassungen den vom Autor gewollten Text, nicht einmal die von Lessing selbst verfertigte Reinschrift H1, welche die Vorlage zu H2 [der Abschrift des Dramas durch einen Schreiber; D.T.] bildete. Denn Lessing nahm in H2 Änderungen vor, die er zum Teil nicht mehr in H1 vermerkte. So mag denn auch die Entscheidung für die Erstausgabe (D1.1) bei gleichzeitigen Emendationen von Stellen, die im zweiten Druck (D2) zum Teil vollzogen wurden, eher als pragmatisch gelten. (S. 155)
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Letztere werden in einem eigenständigen Kapitel zur Textgestaltung minutiös aufgelistet, doch bietet der neu konstituierte Text damit letztlich nicht viel mehr als die ältere Studienausgabe bei Hanser (Herbert G. Göpfert / Gerd Hillen) oder die neue Edition im Deutschen Klassiker Verlag (Klaus Bohnen), die beide die wiedergefundene Handschrift aus dem Mendelssohn-Nachlaß ebenfalls zur Textkonstitution heranziehen – sieht man von der Gründlichkeit ab, mit der die Herausgeberin die insgesamt doch recht wenigen Emendationen in der Textgrundlage D1.1 vornimmt (S. 157–164). Das ist im Ergebnis ein deutlicher Gewinn an editorischer Rationalität – eine wirklich neue Emilia Galotti kommt indes nicht zum Vorschein, wie ein Blick in den umfangreichen Variantenapparat zeigt (S. 287–366). Nicht ganz einsichtig ist, daß der Variantenapparat hinter die Ausführungen zur Entstehung und Wirkung des Dramas plaziert und damit vom Dramentext getrennt wurde.

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Material-Beigaben und Quellensammlungen

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Einen erheblichen Anteil am Umfang der vorliegenden Ausgabe haben, dem Editionstyp einer ›historisch-kritischen Ausgabe‹ entsprechend, Ausführungen zur Quellen-, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Dramas (insgesamt S. 165–285). Im dritten Teil werden alle Dokumente (insgesamt über 500), aufgeteilt in Briefe und ›veröffentlichte Dokumente‹ ungekürzt abgedruckt (S. 369–714) – eine Fundgrube für künftige Interpretationen und Rezeptionsstudien. Dies betrifft insbesondere den Abschnitt zur ›Bühnengeschichte‹ (S. 242–285), der in Zusammenhang mit dem detaillierten Register der Lesungen und Aufführungen gesehen werden muß. Hier bietet sich in der Tat jene »neue Datenbasis« für eine Darstellung der Aufnahme von Lessings Drama, wie sie der Klappentext verspricht. Ob sich der Aufwand einer kritischen Edition mancher Rezeptionsdokumente allerdings tatsächlich gelohnt hat, bleibe dahingestellt. Generell müßte man fragen, ob gedruckte Editionen überhaupt noch das richtige Medium für solche Sammlungen sind – oder ob man diese nicht besser in einer (jederzeit erweiterbaren) Internet-Datenbank gespeichert hätte, die obendrein bequemere Suchmöglichkeiten eröffnet hätte.

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Der Abschnitt ›Quellen‹ referiert die Stoffgeschichte, die römische Virgina-Sage, die Lessing in seinem Trauerspiel bekanntlich verarbeitet hat, allerdings mit bisher nicht gekannter Ausführlichkeit. Lediglich Samuel Patzkes Virginia ein Trauerspiel (1755), das Lessing für die Berlinische privilegierte Zeitung schon früh rezensiert hat, tritt als Prätext der Emilia stärker in den Blick (S. 168). 6 Von bislang ebenfalls nicht gekannter Ausführlichkeit ist die Rekonstruktion der Wirkungsgeschichte des Trauerspiels (zwischen 1772 und 1781 verzeichnet die Herausgeberin »ungefähr 240 Vorstellungen«, S. 285). Neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnet die Darstellung der Wirkungsgeschichte durch die Editorin nicht, dazu bleibt sie zu sehr dem Material verhaftet. Das muß auf lange Sicht nicht unbedingt von Nachteil sein, da scharfe Deutungsansätze vor dem Hintergrund einer ständig wandelnden Forschung naturgemäß schnell altern und deshalb in einer Edition auch nichts verloren haben. Einige strukturierende Hinweise zu verschiedenen Rezeptionsmodi (etwa die alte Frage nach einer ›politischen‹ Rezeption des Dramas) wären dennoch hilfreich gewesen: so verliert sich der Leser etwas in der Fülle des Materials. Die knappe Rekonstruktion der Dramenpoetik, die hier auf eine autorzentrierte »Wirkungsabsicht Lessings« (S. 196) umgeklappt wird, bleibt allerdings zu oberflächlich und paßt nicht in einen zur Neutralität verpflichteten Apparat.

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Äußerst störend ist die in den Kommentaren immer wieder anzutreffende Sprachnot, die die Herausgeberin angesichts der Komplexität ihres Gegenstandes offensichtlich befallen hat: »Das Erscheinungsjahr 1772 Emilia Galottis war geprägt von Beurteilungen des gedruckten Werkes« (S. 210); »Aber Lessing arbeitete schon zu lange an dem Stück, als daß darin Wahrheit liegen könnte« (S. 180); »In diesem Kapitel sollten lediglich beispielhaft einzelne Szenen, bei denen Lessing sich Anleihen geholt haben könnte, angedeutet werden, und wie er diese möglichen Anleihen dann weiterentwickelt hat« (ebd.). Schon der innerhalb der Edition durchgängig verwendete Ausdruck »Lessingsche Lachmann/Muncker-Ausgabe (LLMA)« (S. VII) ist falsch, denn zutreffend müßte von einer ›Lachmann/Munckerschen Lessing-Ausgabe‹ gesprochen werden. Im direkten Vergleich mit Lessings präzisem und geschliffenem Stil fallen die Formulierungsschwierigkeiten der Editorin besonders ins Gewicht.

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Da capo: Brauchen wir eine
neue Ausgabe der Emilia Galotti?

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Am Ende bleibt also ein zwiespältiges Gefühl. Die neue Emilia Galotti-Ausgabe wird ihren Platz in der Forschung gewiß finden, doch ob sich aus ihr auch neue Interpretationen des Dramas ergeben, bleibt fraglich. Problematisch scheint dem Rezensenten – nicht zuletzt angesichts des sehr hohen Preises der Edition – das Verhältnis von Aufwand und Nutzen. Bei aller Mustergültigkeit kann die neue Ausgabe letztlich nicht verbergen, daß die Textkonstitution im Falle der Emilia Galotti keine ernsthaften Probleme bereitet. Die erstmalige Berücksichtigung der Handschrift der Druckvorlage ermöglicht zwar neue Einsichten in die Genese des Werkes, liefert aber insgesamt kaum relevante Lesarten für eine Neudeutung des Dramas. Das sollte der Editorin nicht angelastet werden, der für eine aufopferungsvolle Editionsarbeit zu danken ist.

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Zwei Gesichtspunkte sind es dann aber doch, die die Mühe einer so aufwendigen Edition am Ende rechtfertigen. Zum einen ist da das Argument einer Sicherung und Präsentation unserer kulturellen Überlieferung. Zum anderen, und das wiegt zweifelsohne noch stärker, war eine Edition der Emilia Galotti, die heutigen Standards der Editionsphilologie genügt, überfällig. Das betrifft natürlich auch eine neue historisch-kritische Lessing-Ausgabe, die mit der Reihe der Werke in Einzelbänden bescheiden anvisiert wird, ohne zugleich in eine heute kaum noch zu finanzierende Gigantomanie zu verfallen. Dem Gesamtunternehmen ist deshalb ein rascher Fortschritt zu wünschen.

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Anmerkungen

Vgl. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Bd. 22/1. Berlin, Leipzig 1915, S. 36–39.   zurück
H. Stefan Schulz: The unknown manuscript of ›Emilia Galotti‹ and other Lessingiana. In: Modern Philology 47 (1949), S. 88–97.   zurück
Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1770–1773 (Werke und Briefe 7) Frankfurt/Main 2000, S. 829. Diese Ausgabe konnte von der Editorin nicht mehr berücksichtigt werden.   zurück
Lediglich der Zeilenzähler ist in der Edition des Dramentextes (ab S. 7) in der falschen Schriftart abgedruckt. Doch das ist eine Nebensächlichkeit, die angesichts der differenzierten und schönen Typographie nicht ins Gewicht fällt.   zurück
Allerdings bieten, wie gesagt, auch die verbreiteten Studienausgaben von Hillen (Hanser) und Bohnen (Deutscher Klassiker Verlag) einen gegenüber Lachmann/Muncker erheblich verbesserten Text, freilich ohne den Anspruch einer historisch-kritischen Ausgabe.   zurück
Vgl. dagegen die knappe Nennung bei Bohnen (Anm. 3), S. 830 f. – Die Editorin folgt hier einem Aufsatz ihres Doktorvaters: Winfried Woesler: Lessing und Patzkes ›Virginia‹. In: Tausend Jahre Polnisch-Deutsche Beziehungen. Sprache – Literatur – Kultur – Politik. Hg. von Franciszek Grucza. Warschau 2001.   zurück