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Eine wichtige Edition zur Disziplin- und Intellektuellengeschichte des 19. Jahrhunderts

  • Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid (Hg.): Wilhelm Scherer. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886. Unter Mitarbeit von Myriam Richter. (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 5) Göttingen: Wallstein 2005. 448 S. Broschiert. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 3-89244-826-4.
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Die vorliegende Edition bisher (bis auf wenige Ausnahmen) unveröffentlichter Korrespondenzen des Begründers der neueren deutschen Literaturwissenschaft beinhaltet nicht nur wertvolle Ergänzungen zu vorliegenden Briefwechseln und wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen, sondern öffnet den Blick für die Strukturen und Prozesse der intellektuellen Landschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der wir auch heute noch sehr viel mehr verpflichtet sind, als der rasche Wandel auf der politischen und technologischen Oberfläche vermuten ließe. Mit seiner eigenen publizistischen Tätigkeit wie durch das Wirken seiner Schüler gehört Scherer zu den Protagonisten dieses Prozesses, an dessen Ende – mit aller Komplexität und Problematik dieses Begriffs – die Moderne steht.

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Eine vielschichtige Person

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Bereits in der Einleitung beklagen die Herausgeber das Fehlen einer Biographie, die Scherers kulturhistorischer Bedeutung über das Maß üblicher Memorialien und fachdisziplinär interessierter Untersuchungen hinaus Rechnung trüge. Zwar gilt er besonders hier als wichtige und bis in die Gegenwart kontrovers diskutierte Figur, aber seine Bedeutung erschöpft sich weder in seinen grundlegenden Beiträgen zur Konzeption und Institutionalisierung der neueren deutschen Literaturgeschichte, noch in seinen Beiträgen zur Sprachgeschichte im Umfeld der Junggrammatik. Scherers Biographie ist in wissenschaftlicher wie politischer Hinsicht symptomatisch für eine Zeit, zu deren ›kulturpolitischen‹ Protagonisten er gehörte:

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Er ist Österreicher, der zum reichsdeutschen Karriereprofessor wird, ein Liberaler, der im wilhelminischen Staat den Titel des geheimen Regierungsrats annimmt. Er wechselt als Student von Wien nach Berlin, um ›Methode‹ zu lernen, pflegt aber einen Stil, der ihn als Vorwurf feuilletonistischen Schreibens verfolgen wird. Unbeeindruckt engagiert er sich in den bürgerlichen Zeitschriften, bringt seine Schüler mit diesen in Kontakt und ebnet ihnen den Weg. Obwohl er mit seinen Studenten und Mitarbeitern einen geselligen Umgang pflegte, der weit über den professoralen Habitus seiner Zunftgenossen hinausging und mythisch geworden ist, verfügte er über exzellente Verbindungen zur Kultusbürokratie. Scherer gehört zu den wichtigen Wissenschaftsorganisatoren und ›Strippenziehern‹ seiner Zeit. Und er ist eine wichtige Figur im Netzwerk der liberalen Salons, vermittelt zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat, propagiert Autoren und stiftet Verbindungen, die das Bild der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts bis heute prägen.

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Biographie in Briefen

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Dieser komplexen Person versucht die vorliegende Edition durch den Teilabdruck von achtzehn Briefwechseln gerecht zu werden; sie werden von fünf bisher unpublizierten Dokumenten ergänzt. Die Briefe sind durchgängig nummeriert. Eingeleitet wird die Ausgabe durch einen editorischen Bericht, der die Situation des Nachlasses vorstellt, und vervollständigt durch ein Verzeichnis lokalisierter Scherer-Briefe außerhalb der Teilnachlässe sowie durch ein kommentiertes Personenregister. Fußnoten präzisieren die angespielten Themen und weisen auch abgelegene Forschungsliteratur in leicht zugänglicher Form nach. Auch dass den einzelnen Kapiteln zudem kurze Charakteristiken der Briefpartner vorangestellt sind, erleichtert die Handhabung des Bandes. So ist ein Kompendium entstanden, das nicht nur spezialisierten wissenschaftsgeschichtlichen Ansprüchen genügt, sondern zugleich eine elegante Einführung in den Gegenstand und die Zeit bietet.

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Insgesamt lässt sich das Korpus der Korrespondenzen inhaltlich in familiäre, kulturelle und im engeren Sinne wissenschaftliche Briefwechsel rubrizieren – wobei der Reiz dieses Verfahrens vielfach in der Interferenz und wechselseitigen Kommentierung der einzelnen Felder liegt.

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Eine erste Rubrik mit Briefen an die Mutter und den Stiefvater (Nr. 1–28) umfasst den Zeitraum von 1853 bis 1885, vom ersten erhaltenen Brief des Schülers bis zu einem Brief der Mutter aus dem Jahr vor Scherers Tod. Privat sind auch die Briefe Nr. 109–118 an Marie Leeder, seine spätere Frau. Aus den neuen biographischen Details und atmosphärischen Eindrücken ragte dabei ein Brief aus dem Jahr 1863 (Nr. 15) heraus, in dem Scherer ein Werk seines Freundes, des Historikers Ottokar Lorenz, gegenüber dem Stiefvater rechtfertigt und sich dabei auf die Rezeption der englischen Positivisten Mill und Buckle beruft.

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Die Briefe an Lina Duncker (Nr. 33–38) sind primär dem kulturellen Bereich zuzuordnen 1 – aber die Mitteilungen erscheinen zugleich in einem privaten Licht, da man zuvor in einem Brief an die Mutter (Nr. 22) erfahren hatte, daß Scherers Inklination für die fünfzehn Jahre ältere Verlegersgattin sich bis zu einem Heiratsantrag gesteigert hatte. Zum kulturhistorischen Feld gehören gleichfalls die Briefe Friedrich Spielhagens (Nr. 64–67) sowie der Briefwechsel mit Rudolf Haym (Nr. 39–49). Erstere berühren Fragen der Poetik, letztere auch Fragen wissenschaftlichen und publizistischen Stils und tangiert damit bereits ›berufliche‹ Fragen.

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Der Germanist

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Von engerem wissenschaftsgeschichtlichem Interesse sind die Fachkorrespondenzen. Hier findet man Scherer in seinem frühen Wiener Umfeld (Briefe Nr. 29–32: an Franz Pfeiffer), in Schreiben seines Berliner Lehrers Moritz Haupt (Nr. 61–63), im Dialog mit Vertretern der ›Leipziger Schule‹ und der Junggrammatiker (Nr. 68–77: Briefwechsel mit Julius Zacher bzw. Nr. 78–81: Briefe von Berthold Delbrück), sowie mit Wissenschaftlern, die im Nibelungenstreit und den Auseinandersetzungen um Scherers Geschichte der deutschen Sprache weitgehend neutral geblieben waren (Nr. 50–60: Briefwechsel mit Konrad Hofmann und Nr. 82–94: Briefwechsel mit Friedrich Zarncke).

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Klarer wird auch die Kontur des Wissenschaftsorganisators. Briefe von Gustav von Loeper (Nr. 101–103) werfen Schlaglichter auf die Organisation der Goethegesellschaft, der Briefwechsel mit Friedrich Althoff (Nr. 121–136) präzisiert Aspekte der ministerialen Wissenschaftspolitik, in den Briefen an Karl Lepsius (119–120) sieht man Scherer um die Förderung für eine Reihe von Faksimiledrucken um Unterstützung werben. Schließlich runden Briefe von und an Mitarbeiter(n) und Schüler(n) das Bild ab (Nr. 104–108: Briefe von Julius Hoffory; Nr. 137–140: Briefwechsel mit Otto Pniower, Nr. 141: Brief von Georg Ellinger).

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Fachhistorisch bietet der Band also eine willkommene Ergänzung der edierten Briefwechsel Scherers mit Karl Müllenhoff, Erich Schmidt, Elias Steinmeyer und Theodor Gomperz. Für spezifische Interessen mag störend erscheinen, dass manche Korrespondenzen nur in Auszügen präsentiert werden und für die Prävalenz des Gebotenen die guten Namen der – hervorragend ausgewiesenen – Herausgeber zu bürgen haben. Aber eine Auswahl war angesichts der vorliegenden Publikationsform – und unter den Bedingungen des ganzen Unternehmens, wie die Herausgeber einleitend beschreiben – unumgänglich, zum anderen werden weitere Forschungen durch die beigegebenen Register und eine ›Übersicht zum Überlieferungskontext‹ erheblich erleichtert. Sie anzuregen gehört sicher zu den Absichten der vorliegenden Edition.

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Der Philologe und
Literaturgeschichtler

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Doch ihre Intention reicht weiter: Scherer gehört nicht nur zu den wichtigen, sondern auch zu den kontroversen Figuren der akademischen Landschaft des 19. Jahrhunderts. Philologisch Parteigänger der strikten ›Berliner Schule‹ in der Tradition Lachmanns, deren Methode er gegen alle Versuche, ihre Strenge zugunsten nationalpädagogischer Popularisierung aufzuweichen, verteidigt, sieht er sich dennoch zeitlebens mit der Anschuldigung konfrontiert selbst einen bedenklich ›essayistischen‹ Stil zu pflegen. 2 Aber selbst gegenüber seinem Lehrer Karl Müllenhoff insistiert Scherer auf dem Recht auf heuristische Hypothesenbildung, weigert sich auf den Gebrauch von Bildern zu verzichten und betont die Bedeutung der Phantasie in der Genese wissenschaftlicher und literaturgeschichtlicher Texte. 3 Zwar charakterisiert er noch in der nachgelassenen Müllenhoff-Biographie diesen als Musterbeispiel eines der Sache verpflichteten, kompromisslos jede stilistische Konzession zurückweisenden Philologen, 4 behauptet aber gleichzeitig in provokativer Kadenz eine durchgängige Intention von Müllenhoffs kurzlebiger wissenschaftlicher Allgemeiner Monatsschrift über die nationalliberalen, ein primär akademisches Publikum ansprechenden Preußischen Jahrbücher bis zur populären bürgerlichen Deutschen Rundschau Julius Rodenbergs. 5

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Hinter diesen (vermeintlichen) Widersprüchen und wissenschaftsinternen Querelen verbergen sich zentrale Themen im Umbau des Wissenschaftssystems der Humaniora im 19. Jahrhundert wie in der Literatur – und um beider Verhältnis. Ihre ›esoterische‹ Seite hat zwei Aspekte: Zum einen geht es um die Methodisierung und Verwissenschaftlichung der Philologie, um ihre Abgrenzung vom Ideal humanistisch-philologischer Bildung und um den korrelierenden Prozess der Ausdifferenzierung der Sprachwissenschaft. Zum zweiten geht es um die Prinzipien literaturgeschichtlicher Darstellung. Dies ist wiederum ein Seitenzweig der Diskussion um die Methoden und Prinzipien der Geschichtsschreibung, die als ›Problem des Historismus‹ das geistesgeschichtliche Profil der Epoche bestimmt.

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Der Kritiker

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›Exoterische‹ Seite dieses Komplexes sind Fragen und Methoden der Organisation publizistischer Öffentlichkeit bis hin zu dessen literarischer Inszenierung, sowie die Problematik des Verhältnisses zwischen wissenschaftlichem zum öffentlichen Diskurs. 6

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Beispielhaft hierfür ist Scherers Auseinandersetzung mit dem Werk Gustav Freytags. 7 Hatte der ›Großdichter‹ des Kaiserreiches, habilitierter Germanist und erfolgreicher Publizist, doch nicht nur mit den Bildern aus der deutschen Vergangenheit ein vieldiskutiertes Modell kulturgeschichtlich orientierter Geschichtsschreibung geschaffen, sondern mit seiner Verlorenen Handschrift auch einen Philologenroman und mit den Ahnen einen Zyklus historischer Romane vorgelegt, der am Beispiel einer Familie die Geschichte des deutschen Volkes nicht nur inhaltlich, sondern bis in den sprachlichen Stil zu gestalten suchte. Scherers Auseinandersetzung mit Freytag zeigt die wissenschaftliche Grundlage jener Kanonrevision, die in ihrer Konsequenz zur weitgehenden Verdrängung des zeitgenössisch dominanten ›programmatischen Realismus‹ und seiner Substition durch den ›poetischen Realismus‹ führte. Ein Prozess, der im Wirken seiner Schüler über den Realismus hinaus an die Schwelle der Moderne führte. Schließlich ist The Naturalism’s Debt to Wilhelm Scherer 8 schon seit langem benannt, wenngleich wenig aufgearbeitet. Die vorliegende Edition legt diese Perspektive nahe, kann sie aber naturgemäß nicht ausführen.

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Resümee

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Mit seinem Leben wie seinem Werk steht Wilhelm Scherer exemplarisch für die Transformation der liberalen res publica litteraria des mittleren 19. Jahrhunderts zum funktional ausdifferenzierten Kultur- und Wissenschaftssystem des heraufziehenden 20. Jahrhunderts. Eine umfassende kulturwissenschaftliche Biographie kann diese Edition selbstverständlich nicht ersetzen; ihre Dringlichkeit nachgewiesen und ihrer Erstellung mit den Handreichungen des Apparats wesentlich erleichtert zu haben, darf sie beanspruchen. Mehr noch: In über weite Strecken entspannter Lektüre gibt sie Anlass zur Reflexion einer ›problematischen‹ Disziplin, die sich allenfalls aus Unkenntnis ihrer Geschichte von dieser freigesprochen glauben kann.



Anmerkungen

Daß dabei nur sechs von ingesamt 316 Briefen aufgenommen werden konnten, darf wohl als Anreiz verstanden werden.   zurück
Zunächst brieflich von Müllenhoff erhoben, entwickelte sich der Vorwurf bald zur standing phrase. Vgl. Eduard Schröder: Zur Einführung. In: Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. von Albert Leitzmann. Berlin, Leipzig 1937, S. VII-XXII, hier S. XIV f. , vgl. Wolfgang Höppner: Das »Ererbte, Erlebte und Erlernte« im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1993, S. 69–72.   zurück
Vgl. BW Müllenhoff / Scherer (Anm. 2), S. 69; Wilhelm Scherer: Rez. Des Minnesangs Frühling. Hg. von Karl Lachmann und Moritz Haupt. Zweite Ausgabe, besorgt von W. Wilmanns (1886). In: Wilhelm Scherer: Kleine Schriften. Hg. von Konrad Burdach und Erich Schmidt. 2 Bände. Berlin: Weidmannsche Buchandlung 1893, Bd. 1, S. 695–702, hier S. 700.   zurück
Über Müllenhoffs publizistische ›Taktik‹ im Nibelungestreit schreibt Scherer: »Er kannte keine Rücksichten der Klugheit. Er gab sich keine Mühe, die Gegner mit eleganter Leichtigkeit aus dem Sattel zu heben . Er ging mit einer Keule auf sie los, schlug sie nieder und trat auf ihnen herum.« (Wilhelm Scherer: Karl Müllenhoff. Ein Lebensbild. Berlin: Weidmannsche Buchandlung 1896, S. 90.)   zurück
Vgl. Wilhelm Scherer (Anm. 4), S. 92.   zurück
Über die angesprochen Themen hinaus liefert der Briefwechsel wichtiges Material zur politischen Biographie Scherers wie zu Fragen der schulischen Institutionalisierung der Germanistik und ihrer akademischen Praxis.   zurück
Vgl. Nr. 38; vgl. BW Müllenhoff / Scherer (Anm. 2), S. 88, 92, 102; vgl. Scherer: Über den Ursprung der deutschen Nationalität. In: W.S.: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1874, S. 1–20, bes. 1f., sowie die Rezensionen einzelnen Bände in: Wilhelm Scherer: Kleine Schriften 2 (Anm. 3), S. 3–36.   zurück
Vgl. Winthrop H. Root: Naturalism’s Debt to Wilhelm Scherer. In: Germanic Review 11 (1936), S. 20–29.   zurück