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Das vorliegende Buch ist die erste umfassende kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit den »Faits divers«, dem französischen Sammelbegriff für die ›bunten Meldungen‹, die zeitgleich mit dem Durchbruch der französischen Massenpresse ab den 1870er Jahren zur populären und charakteristischen Form in den französischen Tageszeitungen avancierten. Zwar sind die »Faits divers« von der bisherigen Forschung nicht übergangen worden,
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doch fehlte bislang eine Untersuchung, die pressehistorische, literaturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Zugänge vereinen konnte. Ambroise-Rendus Buch, das eine gekürzte Version ihrer Dissertation von 1997 darstellt,
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schließt diese Lücke nicht nur auf gekonnte Weise, sondern wirft zudem eine Reihe von weiteren Forschungsfragen auf.
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Was sind die »Faits divers«?
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Während das Englische die ›Human interest story‹ kennt, fehlt im Deutschen ein eindeutiger Begriff für die »Faits divers«. Darunter fallen nach französischem Verständnis Meldungen von Verkehrsunfällen ebenso wie von Selbstmorden, Naturkatastrophen und gesellschaftlichen und politischen Skandalen mit begrenzter Reichweite. Aus dieser Themenvielfalt mischte der Journalist täglich von neuem einen massenwirksamen Cocktail, den Ambroise-Rendu nach den in ihm enthaltenen Bestandteilen, den unterschiedlichen Themen und den jeweiligen sozialen Funktionen analysiert. Sie sieht die französischen »Faits divers« als ambivalente und zugleich aufschlussreiche Texte für die Gesellschaft der ›Belle Époque‹ an:
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Le faits divers est un objet culturel appartenant au système de représentations qui caractérise une société. Ambivalent, voire contradictoire, le monde de la chronique dévoile d’un côté le panorama des anxiétés fin de siècle: produit culturel, il condense; d’un autre côté, l’entrée dans la modernité de la culture de masse. (S. 309)
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Ihre Quellenbasis sind einschlägige Artikel aus vier französischen Tageszeitungen: aus der französischen Hauptstadt wertete Ambroise-Rendu das »Petit Journal« und den »Figaro« aus, ergänzt um die in Toulouse erscheinende Tageszeitung »La Dépêche« sowie die weithin unbekannte Lokalzeitung »Le Courrier de la Montagne« aus dem Arrondissement Pontarlier. Durch eine solche Auswahl konnten die Unterschiede in der Berichterstattung zwischen Stadt und Land, Nord und Süd berücksichtigt werden. Um die Materialfülle zu bewältigen, hat Ambroise-Rendu in Abständen von jeweils zehn Jahren einen Zeitraum von zwei Monaten komplett nach einschlägigen Artikeln ausgewertet; allein diese ›Stichproben‹ aus den Jahren 1870, 1880, 1890, 1900 und 1910 ergaben eine Textmenge von 16.496 »Faits divers« (S. 321).
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Im Gegensatz zur ursprünglichen Dissertation findet sich im vorliegenden Buch keine quantitative Aufschlüsselung der Textmenge nach Genres, Themengebieten etc. Die von Ambroise-Rendu genannte Gesamtzahl der von ihr gesichteten Texte steht etwas allein da, zumal eine genaue Abgrenzung der »Faits divers« von anderen Textsorten kaum möglich sein dürfte.
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Realität und Theater
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Dieser Stoffmenge versucht Ambroise-Rendu in drei großen Abschnitten gerecht zu werden. Ein ausführlicher Teil beschäftigt sich mit der Produktion der »Faits divers«, ihrer Mischung von Fakten und Fiktionen, die dadurch zu Stande kommt, dass der Journalismus zwei sich zunächst entgegengesetzt erscheinende Prinzipien vereinen musste: einerseits den Anspruch, ›Realität‹ abzubilden, andererseits aber auch die Notwendigkeit, die journalistischen Texte zu dramatisieren und also literarische oder aus dem Theater bekannte Stilmittel einzusetzen. Diese Literarisierung zeigte sich besonders beim Umgang der Presse mit den sogenannten ›crimes passionels‹, den Verbrechen aus Leidenschaft. Dabei handelte es sich um eine eigens von den französischen Zeitungen geschaffene Kategorie, unter der insbesondere ab 1880 Mordtaten aus Eifersucht, gekränkter Ehre oder aus anderen ›emotionalen‹ Gründen begangene Straftaten gefasst wurden. Die Presse führte aus Anlass der einschlägigen Gerichtsprozesse ein regelrechtes »Sittentheater« (S. 101) auf, das nicht nur seine handelnden Personen denen des Theaters anglich.
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Auch die Struktur der Zeitungsmeldungen sowie die verwendete Sprache orientierten sich an literarischen Texten, wobei unmittelbare Vorbilder, die stilbildend für die »Faits divers« gewirkt haben, nicht genannt werden. Die Autorin verzichtet auf einen Abschnitt, der sich mit der literaturgeschichtlichen Herausbildung dieser Gattung beschäftigt, so wie es etwa Norbert Bachleitner für den deutschen Sprachraum unternommen hat,
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und betont eher die pressehistorische ›Innovation‹ der »Faits divers« und ihre soziologische Funktion.
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Von der Ästhetisierung zur Nachsicht gegenüber den für die ›crimes passionels‹ Verantwortlichen sei es nur ein kleiner Schritt gewesen (S. 103). Genau diese Nachsicht, wie sie von den zeitgenössischen Schwurgerichten oft geübt wurde, nahmen die Zeitungen andererseits auch zum Anlass für Kritik, ohne dass sie damit fundamentale Einwände gegen die Schwurgerichtsbarkeit oder das bestehende Justizsystem insgesamt verbanden. Im Gegenteil: die offiziellen Einrichtungen der Justiz und die dort tätigen Personen wurden von der Presse durchgehend mit Wohlwollen oder zumindest »respektvoller Neutralität« behandelt (S. 117). Dabei stellt Ambroise-Rendu fest, dass die juristischen Institutionen im Untersuchungszeitraum wieder zunehmend »anonymisiert« wurden. Sie erklärt diesen Wandel damit, dass einmal eine Identifikation mit den Berufsjuristen weniger möglich war als mit den Laien im Schwurgericht. Ein anderer Grund sei gewesen, dass die juristischen Folgen der rein mit Berufsrichtern besetzten Kammern für die Beteiligten weniger schwer wogen, eine Todesstrafe durften sie beispielsweise nicht verhängen (S. 117). Fraglich ist jedoch, ob nicht auch pressegesetzliche Neuregelungen oder die politische Stabilisierung der III. Republik die Berichterstattung von Strafprozessen oder über die Justiz insgesamt beeinflusst haben.
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»Faits divers« und öffentliche Moral
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In einem weiteren Abschnitt fragt Ambroise-Rendu nach den verschiedenen in den »Faits divers« behandelten Ereignissen und ihren Funktionen. Wenn die Journalisten von Tierquälerei, Heldentaten einzelner in Unglückssituationen oder auch von Tätern eines »crime passionel« berichteten, so wurde deutlich, dass sie ihre Erzählungen stets moralisch aufluden und gerade die Fälle aus dem Grenzbereich zwischen erlaubten und verbotenen Handlungen dazu nutzten, die herrschende Moralordnung zu untermauern bzw. die Grenzen dieser Moral zu verschieben. Werte wie Solidarität wurden ebenso beschworen wie die Autorität staatlicher Institutionen gestärkt. So kämen in drei Viertel aller »Faits divers« staatliche Interventionen, zumeist der Polizei, zur Sprache (S. 56). Seit ungefähr 1900 dominierte zudem mehr und mehr ein »Sicherheitsdiskurs«, auf den die Zeitungen je nach politischem Standpunkt reagierten, sei es mit dem Hinweis auf überforderte Sicherheitsorgane und dem daraus abgeleiteten Bedarf einer weiteren Verbesserung von Polizei und Justiz, sei es mit dem Herausstellen der Folgen mangelhafter Polizeiarbeit, unter der ein Bürger zum Beispiel als zu Unrecht Verdächtigter zu leiden habe (S. 66 f.).
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Aus Anlass von Naturkatastrophen wie den Überschwemmungen von 1910 betonte die Presse die Solidarität der Franzosen und inszenierte persönliche Heldengeschichten, die dem Leser deutlich machten, dass er angesichts sich grundlegend verändernder Lebensumstände nicht allein seinem Schicksal ausgesetzt war (S. 78). Zugleich kam auch in diesen Fällen der Staat wieder ins Spiel. Die Allgegenwart des zentralistischen Staates machte deutlich, dass persönliche Hilfe und Solidarität nur vor dem Hintergrund eines gutmeinenden starken Staates wirksam werden konnten (S. 79).
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Topographie der Gefahren
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In einem dritten Abschnitt beschäftigt sich Ambroise-Rendu zunächst mit der Frage, in welcher Weise die Faktoren Ort und Zeit in den »Faits divers« geprägt wurden. Die Autorin zeigt, dass die Zeitungen in der Masse ihrer Meldungen eine regelrechte Topographie der Gefahren entwickelten, die den Lesern Orientierungspunkte für ihr eigenes Verhalten gaben. Als Folge konnten sie gefährliche Stadtbezirke ebenso meiden wie sie sich auf einer Zugreise zumindest der dort möglicherweise lauernden Gefahren bewusst sein konnten. Die »Faits divers« erfüllten so in einer Zeit zunehmender Mobilität und Anonymität die wichtige gesellschaftliche Funktion, individuelle Erfahrungen kollektiv nutzbar zu machen. Die ständigen Wiederholungen bestimmter Themen und Orte sowie die ›Banalität‹ vieler »Faits divers« war zudem funktional: sie reduzierten Komplexität und erlaubten es dem Leser, die Vielzahl der täglichen Informationen in bekannte Strukturen, eine Matrix aus Raum und Zeit einzupassen – die freilich maßgeblich durch die vorangegangene Lektüre anderer »Faits divers« geprägt war.
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Gegen Ende ihrer Analyse geht Ambroise-Rendu noch auf einige politische Auseinandersetzungen ein, die über den engen Rahmen des »Faits divers« hinausreichen. Sowohl der Umgang der Presse mit der Dreyfus-Affäre als auch der Fall Liabeuf im Jahr 1910 (ein von Gustave Hervé in der Zeitschrift »La Guerre Sociale« zum Politikum hochstilisierter Mordprozess) macht deutlich, dass die Tageszeitungen keinesfalls wahllos alles Sensationelle veröffentlichenswert fanden. In den beiden genannten Fällen bestimmte diskretes Schweigen die Berichterstattung; die politische Relevanz und Brisanz der Affären wurde bewusst heruntergespielt. Gleiches lässt sich vom Antisemitismus sagen: auch die untersuchten rechtsgerichteten Blätter nutzten dieses Propagandamittel nicht (S. 305). Unterscheidbar waren die Zeitungen eher in sozialen Fragen; allerdings spricht Ambroise-Rendu auch in diesem Fall eher von »Nuancen« als von radikalen Gegensätzen (S. 306). Auch gab jede Zeitung vor, im Namen des «Volkes« [gens] zu sprechen:
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Elle prétend parler au nom de ceux qu’elle met en scène, et affirme ainsi sa capacité de représenter tout ou partie du groupe auquel elle s’adresse dans l’exercise d’une forme de contrôle sociale et politique. [...] Elle est indisponsable du progressif élargissement des pratiques politiques qu’impose la République. Mais elle préfigure aussi [...] ce que va devenir le système des mass media: une parodie balbutiante du réel dans laquelle tous sont invités à exhiber le non-événement que constitue leur existence. (S. 306)
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In ihrem Fazit betont Ambroise-Rendu die Grenzen der journalistischen Sinnstiftung. Das zeige die Schaffung der Figur des »Kriminellen«, an der die Zeitungen die Fremdheit und Andersartigkeit von der ›normalen Gesellschaft‹ betonten. Den »Kriminellen« zeichneten sie als »unverständlich« oder gar »monströs«, insbesondere bei schweren Straftaten. Dies zeige die Grenzen der gesellschaftlichen Bindewirkung der Berichterstattung auf (S. 313). Insgesamt seien die »Faits divers« auf profunde Weise »modern«: nicht nur als Schlüsselelement der sich herausbildenden Massenkultur mit ihrer Leidenschaft für das »Wirkliche«, die weder Entfernung noch Geheimnis auf Dauer akzeptiere, sondern auch in ihrer Doppelrolle, die zugleich Selbstbeobachtung wie Selbstdisziplinierung einer Gesellschaft ermöglichte. In ihrer narzisstischen Fixierung wiesen die »Faits divers« zugleich den Weg zu dominanten Kommunikationsmustern im 20. Jahrhundert (S. 317–318).
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Kritikpunkte
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Ambroise-Rendus Buch argumentiert klar und ist stilistisch hervorragend geschrieben. Die detaillierte Gliederung erlaubt es, einzelne Themen schnell nachzuschlagen, aber auch die großen Linien des Projektes zu verfolgen. Den Stärken des Buches stehen einige kleinere Schwächen gegenüber. So wird der Erfolg der »Faits divers«, der mit dem rasanten Anstieg und der Ausdifferenzierung der französischen Presse zusammenhängt, nur in Ansätzen aus medienhistorischen, politischen oder wirtschaftlichen Überlegungen heraus begründet. Auch legt das Buch nahe, dass Themen und Darstellungsweise sich im Untersuchungszeitraum von immerhin rund vierzig Jahren kaum geändert hätten. Eine stärkere Berücksichtigung der genuin politischen Geschichte hätte diesen Aspekt sicherlich klarer beleuchten können.
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Es mag der Entstehungsgeschichte des Buches geschuldet sein, dass die Forschungsliteratur der letzten Jahre weitgehend unberücksichtigt geblieben ist. Nicht erklären kann dies jedoch die Beschränkung auf beinahe ausschließlich französischsprachige Untersuchungen. So fehlt beispielsweise die thematisch einschlägige Arbeit von Vanessa Schwartz, die in ihrer Dissertation ähnlich wie Ambroise-Rendu die hauptstädtischen »Faits divers« als Teil einer sich ausbildenden modernen Massenkultur interpretiert und sie zu anderen großstädtischen Vergnügungen wie dem Besuch der städtischen Leichenhalle oder dem frühen Kino in Beziehung setzt. Es habe sich bei diesen kollektiven Handlungen um eine positive Aneignung und Selbstkonzeption moderner Individualität gehandelt.
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Ebenso unbeachtet bleibt bei Ambroise-Rendu auch das Standardwerk von Robert Nye, dessen genaue Untersuchung des kulturpessimistischen und alarmistischen Diskurses in der französischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende auf den ersten Blick in einem deutlichen Gegensatz zu den ›modernitätsoptimistischen‹ Grundtönen bei Ambroise-Rendu und Schwartz steht. Ein stärkeres Eingehen auf diesen ›Gegendiskurs‹ hätte vor allem die recht knappen Ausführungen Ambroise-Rendus zur Inszenierung der Verbrecherpersönlichkeit als ›Fremden‹ stärker in die Kulturgeschichte der III. Republik einbetten können.
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Fazit
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Ambroise-Rendu hat eine fundierte und anregende Untersuchung vorgelegt, die gekonnt die schwierige Aufgabe der interdisziplinären Aufgabenstellung meistert, ohne ihre Darstellung theoretisch zu überfrachten. Ihr gelingt es überzeugend, die unterschiedlichen Themengebiete der »Faits divers« vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Probleme, Diskussionen und Hoffnungen der Zeitgenossen zu erläutern – kurz, sie erklärt, warum diese journalistische Gattung gerade in der ›Belle-Epoque‹ ihren Durchbruch erlebte. Im Anschluss an dieses Buch ist es lohnend, die Geschichte der »Faits divers« und ihrer Themen im 20. Jahrhundert weiter zu verfolgen und sie auch mit den Pressetraditionen anderer Länder zu vergleichen.
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Ambroise-Rendu breitet dem Leser nicht nur ein Panorama des gesellschaftlichen Lebens in Frankreich um die Jahrhundertwende aus, sondern zeigt auch bislang kaum beschrittene Wege auf, wie Historiker und Literaturwissenschaftler mit diesen Texten in der Grauzone von Fakten und Fiktionen sinnvoll umgehen können. Deshalb ist das Buch nicht nur für ›Frankreich-Spezialisten‹ zu empfehlen, sondern auch für alle, die sich für die Verbindung von Medientheorie, Literatur und Geschichtswissenschaften interessieren.
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