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Antigone: Geschichte als Schicksal?

  • Otto Pöggeler: Schicksal und Geschichte. Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin. München: Wilhelm Fink 2004. 197 S. Kartoniert. EUR (D) 27,90.
    ISBN: 3-7705-4047-6.
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Produktive Inkongruenz

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Auffällig ist an Pöggelers Buch die produktive Inkongruenz zwischen einer äußerlich klaren Disposition von vier Kapiteln und einem Stoff, der sich dieser Ordnung gleich in mehrfacher Hinsicht nicht fügen will. Produktiv ist diese Inkongruenz, weil sie keinem Darstellungsmangel entspringt. Zwar ist der Text nicht leserfreundlich unter dem Aspekt, daß Pöggeler oft genug elliptische Parataxen konstruiert, die es dem Leser überlassen, wie ein Zusammenhang zu bilden sei. Aber man sieht dem Buch nicht nur an, daß ihm ein langjähriges Studium vorausgegangen ist und daß es auf einem bibliographisch soliden Fundament ruht. Es wird vielmehr von echten Problemen bestimmt, die Pöggeler und mit ihm auch den Leser nicht zur Ruhe kommen lassen.

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Denn den Verfasser beschäftigt mehr als die bloße Beschreibung der Wirkungsgeschichte der Sophokleischen Antigone und er verfällt auch als Philosoph nicht in den naheliegenden Fehler seiner Zunft, literarische Texte am Maßstab von Ideen zu messen. Zudem weist er implizit auf einen anderen Fehler gegenwärtiger Literaturtheorie hin, die nicht mehr nach dem ›Sitz im Leben‹ von Literatur fragt. Das ist vorab gesagt kein geringer Ertrag dieses Buches, das auf die »sozialgeschichtlichen Voraussetzungen für die Zuwendungen zur Antigone« (S. 14) hinzuweisen versucht. Pöggeler hat diese Voraussetzungen nicht nur in historisierender Absicht, sondern auch als Zeitzeuge im Blick. Er ist sich der pragmatischen Bedeutung von Literatur bewußt und er weiß auch, daß diese mehr noch als die Philosophie ein gefährliches Feuer sein kann.

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Applikationszwänge

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Und doch verführt gerade dieses Bewußtsein den Verfasser zu Applikationszwängen, die ihn weniger den Leser als den Text aus dem Blick geraten lassen: Nicht von Antigone selbst ist in der Einleitung (S. 7–24) die Rede, sondern von einer Assoziationskette, die die SS unmittelbar mit der preußischen Heeresreform, diese dann mit dem spanischen Partisanenkampf, Algerien, Vietnam verbindet, um schließlich und natürlich »die beiden Türme des World Trade Centers« (S. 16) folgen zu lassen. Der geistige Kampf gegen Terrorismus und Fanatismus bestimmt dieses Buch, dessen ethische Absichten hier nicht in Frage stehen oder gar in Abrede gestellt werden sollen. In Frage steht indes, was eine solche ›Einleitung‹ denn mit der Antigone zu tun haben soll: Es handelt sich bei ihr um ein politisch-persönliches Bekenntnis, das in seltsamem Kontrast zum Hauptteil steht, der in vier Kapiteln die Deutungsgeschichte der Antigone von Hegel (S. 25–77) und Hölderlin (S. 79–110) bis zu Heidegger (S. 111–174), Carl Orff, Bertolt Brecht und jüngsten Bearbeitungen (S. 175–191) auf weiten Strecken autorfixiert paraphrasiert.

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Gemeinsam ist Einleitung und Haupttext, daß Pöggeler bewußt das Risiko eingeht, die Differenz zwischen Objekt- und Metasprache aufzulösen: »Man greift zur Gestalt der Antigone, wenn man den Widerstand gegen politische Machtausübung Pathos geben will« (S. 18). Dies ist deskriptiv verstanden ein wahrer Satz; Pöggeler begreift diese Deskription jedoch auch als normatives Movens seines Schreibens: Seine Darstellung ist einer Aktualisierung geschuldet, die sich von vornherein gegen wissenschaftliche Historisierungen wendet: Angesichts der Problematik des historischen Neuhegelianismus des 19. Jahrhunderts, dessen Rekonstruktion weite Strecken des Buches einnimmt, versucht Pöggeler nicht nur neohegelianisch zu argumentieren, sondern mit den Mitteln Hegels noch über Hegel selbst hinauszugehen.

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Politisch-moralisches
Bekenntnis

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Ein solcher Versuch könnte sich nun theoretisch-abstrakt vollziehen und rechtfertigen. Pöggeler aber nivelliert bewußt die Differenz zwischen Objekt- und Metasprache durch eine persönliche Erfahrung, die »durchaus nicht mit der Gestalt der Antigone verknüpft« ist (S. 20). Es geht vielmehr um ein Gedenken an den Widerstand gegen das Hitlerregime (S. 20) und weiter um die Einsicht, daß »Politik eine ernste Sache sei, dass Philosophieren auch um eine politische Orientierung sich mühen müsse« (S. 20). Diesem Bestreben könnte man nun zwar gewiß beipflichten, indes ist die Frage, ob hierzu eine agitatorische Darstellung angemessen ist, wenn etwa Orffs Rezeption der Antigone gegen die Brechts mit einem schlechten argumentum ad hominem ausgespielt wird (S. 179–181):

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Brechts Leben und Wirken wurde biographisch und historisch aufgearbeitet (so durch John Fuegi: Brecht & Co). Dabei wurde sichtbar, wie Brecht die Geldströme aus Urheberrechtsverträgen gut kapitalistisch in seine Taschen geleitet, die Verleger und Mitarbeiter gegeneinander ausgespielt, Schauspielerinnen sich in vielfacher Hinsicht gefügig gemacht hatte. Brechts Wirkung trug den Keim der Selbstzerstörung in sich. Orff hatte die bleibendere Wirkung. (S. 181)
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An Stellen wie dieser setzt Pöggeler die ›Wirkung‹ ästhetischer Artefakte mit ihrer faktischen Rezeption gleich, obwohl er selbst zeigt, daß vor Brecht schon Hölderlin mit dem Mittel der Verfremdung arbeitete: Hölderlin verfremdete die Sophokleische Antigone durch das Christentum, Brecht die Hölderlinsche Antigonä durch die Situation des Jahres 1945. Die ästhetische Struktur erweist sich so gerade durch den Nachweis Pöggelers als wesentlicher und langlebiger als ideologische Differenzen.

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Hegels
Antigone-Rezeption

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In seinen Analysen zu Hegels Antigone-Rezeption hätte Pöggelers Buch folgenden Gedanken noch stärker profilieren können: Antisemitismus ist keine bloße Frage der Ideologie und ›politischer‹ Entscheidung, sondern kulturgeschichtlich vorprogrammiert. Man wird es dem Verfasser danken, wenn er präzise nachzeichnet, wie Hegel Lessing sukzessive aus seinen Aufzeichnungen tilgt, um schließlich das Kulturmodell ›Jerusalem‹ durch das Kulturmodell ›Athen‹ zu ersetzen (S. 31). Pöggelers Verdienst besteht darin, daß er Hegels These von der kulturellen ›Entfremdung‹, nach der uns die griechische Antike angeblich näher als die biblische und mit ihr die jüdische Tradition stehen soll, genetisch rekonstruiert: Er geht also auf die ›Vorstufen‹ der Phänomenologie des Geistes zurück, um an ihnen in akribischer Lektüre zu belegen, daß Hegels Phänomenologie kein abstrakter Text begrifflicher Spekulation ist, sondern daß ihm eine konkrete Geschichte und wiederum einseitige Sicht auf Geschichte zugrunde liegt. Dies weist Pöggeler detailliert in seinem zweiten Unterkapitel, ›Phänomenologie von Mann und Frau‹ (S. 41–51), nach. Hier finden sich auch interessante Beobachtungen zu Antigone als Schwester Hegels.

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Pöggeler verweigert sich nicht der Erkenntnis, daß Hegel Antigone als Kulturkampf inszenierte: Hegel hatte nicht nur öffentlich in einer Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft (1818 / 19) mit dem Verweis auf Antigone als die »schönste Schilderung der Weiblichkeit« die Bildungs- und Emanzipationsbestrebungen von Frauen zurückgewiesen und deren eigentliche Aufgabe zudem durch die »Kochkunst« präzisiert (S. 62 f.). Schon in seinen Frankfurter Aufzeichnungen zur Phänomenologie des Geistes wird der jüdische Geist als »Entfremdung« und schlechter Ursprung der abendländischen Geschichte dargestellt, um ihm die griechische Tragödie als wahre Sittlichkeit gegenüberzustellen (S. 49).

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In von späteren Herausgebern benannten Aufzeichnungen Der Geist des Christentums und sein Schicksal wird der Verlust der schönen Religion der Griechen auf die Juden zurückgeführt, deren jenseitiger Gott nur dazu diene, alles Irdische als das Nichtige beherrschen zu können (S. 33 f.). Dies gibt dann nicht nur das Modell für Bruno Bauer ab, sondern kennzeichnet insgesamt, wie Hegel Philosophie als Geschichte und diese wiederum am Modell der Dichtung beschreibt: Das Schicksal des jüdischen Volkes sei das Schicksal Macbeths [!], »der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing, und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden« 1 mußte: »Das Trauerspiel [!] des jüdischen Volks ist kein griechisches Trauerspiel, es kann nicht Furcht und Mitleiden erwecken, denn beide entspringen nur aus dem Schicksal des notwendigen Fehltritts eines schönen Wesens«. 2 Mendelssohn wird nicht wie bei Hamann rechtfertigt, sondern nachträglich verdächtigt, als Jude keinen Anteil am Ewigen haben zu können. 3

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Hegel und die Folgen

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Pöggeler beschränkt sich nicht auf die Hegelianische Deutung der Antigone und ihre problematischen Konsequenzen. Charakteristisch für seine Applikation ist der paradoxe Versuch, eine als Schicksal begriffene und erlittene Geschichte gleichwohl revidieren zu wollen. Dieser paradoxe Revisionsversuch scheint durch eine innerhegelianische Auseinandersetzung mit der Wirkungsmächtigkeit Hegels und des Hegelianismus bestimmt zu sein: Mit den Mitteln Hegels versucht Pöggeler gegen die Auffassung von Geschichte als Geschichte der Sieger zu streiten. Er zeigt hier nicht nur, wie die Gedankens Hegels durch seine Schüler (zum Beispiel Hinrichs) umgedeutet wurden, um so erst bei Goethe ihre Resonanz finden zu können (S. 68); er weist nicht nur auf Denker wie Boeckh hin, die trotz ihrer Nähe zu Hegel selbständige Wege gingen (S. 69–73), so daß es gegen Hegels Verdikt zu einer musikalischen Aufführungspraxis der Antigone im Sinne Mendelssohn-Bartholdys kommt (S. 61–77). Vielmehr geht Pöggeler zu Hölderlin über, und mit diesem Übergang dürfte sich innerhalb des gegenwärtig wiedererwachten Hegelianismus in Deutschland die Gefolgschaft um Pöggeler etwas lichten.

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Zwar wird Hölderlin gegenwärtig gegen Heidegger nicht nur im Kontext des Deutschen Idealismus situiert, sondern durchaus als eigenständiger Denker anerkannt. Vor allem die Arbeiten Dieter Henrichs sind hierfür der wohl prominenteste Beleg. Doch bereits durch die Überschrift seines zweiten Kapitels »Hölderlins Abseits« (S. 79–110) markiert Pöggeler eine Differenz, die weniger auf das persönliche Schicksal Hölderlins zielt, sondern die grundsätzliche Kontroverse zwischen Dichten und Denken meint.

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Hölderlins
Antigonä-Rezeption

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Pöggeler geht tendenziell hinter Henrich auf Heidegger zurück: Ergoß noch Hegel selbst mit Voß, Schiller und Schelling seinen beißenden Spott über Hölderlins Antigonä, forderte Heidegger darum zu einem Umdenken auf, weil er klar sah, daß der Spott Hegels und anderer nicht etwa in einer Kritik der vermeintlich stilistisch unsicheren wörtlichen Übertragung Hölderlins begründet war. Hölderlin versuchte vielmehr mit seiner Übersetzung eine ›hesperische‹ Tragödie zu ermöglichen, das heißt die Antigone ins Christliche zu transponieren. Hölderlin ging es zwar nicht um ein christliches Drama: Aber er ging davon aus, daß das Christentum Bedingung des hesperischen Dramas sei und durchsetzte das griechische Drama mit Begriffen wie ›Hölle‹, ›Anfechtung‹ etc. Wichtiger jedoch ist, daß Hölderlin durch eine solche Verfremdung ein Drama schuf, das mit Hegels Geschichtsphilosophie selbst konkurrierte und dem Philosophen unheimlich und suspekt war. Denn Hölderlin erzeugte erst durch den Stil seiner Übersetzung die Frage nach den historischen Bedingungen der Moderne, die er ganz anders beantwortete als Hegel.

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Der Streit zwischen Hölderlin und Hegel konzentriert sich nicht auf die Frage nach dem Christentum, sondern geht um die Einschätzung der Französischen Revolution, die Hölderlin in den Anmerkungen zur Antigonä als Kulturrevolution fortführte: So wie das Drama Antigone den Übergang von der Antike zur Neuzeit markiert, verlangt die durch die Französische Revolution eingeleitete Umbruchszeit eine neue Sprache und Darstellung, neue Dramen, die die »vaterländische Umkehr« als »Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen« bewirken. 4 Damit meinte Hölderlin nichts weniger als die Anwendung der von der Französischen Revolution ausgehenden Umwertung auf die Philosophie selbst: Ihre alten Vorstellungen sollten gleichsam von innen gesprengt werden und das Dichten ein Denken revolutionieren, das sich durch Systembildung der Anstrengung wirklichen Denkens gerade zu entziehen versuchte.

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Hölderlin verfremdet hierzu die Antigone des Sophokles und zeigt Hämon und Antigone als christliche Märtyrer, die in ihrem Untergang die Tyrannis zur konstitutionellen Monarchie (Kreon) verwandeln und bereits eine republikanische Verfassung ankündigen: das »Vaterländische« muß »so wahrhaft das Fremde sich an[...]eignen« (StA VI 1, S. 425 ff.). Zwar verband Hölderlin und Hegel die Auffassung, daß Sophokles und besonders seine Antigone ein Zeugnis dafür sei, wie ein Dichter das Volk erreichen könne.

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Hegel aber ging es nicht um die kulturgeschichtliche Bedeutung der Französischen Revolution; sondern um eine spezifisch deutsche Auffassung von Innerlichkeit: Antigone verkörpert für ihn die Familienpietät und das Weibliche, Kreon steht für den Mann und den staatlich-politischen Geist, der wie das Denken über das Dichten und wie die Prosa über die Poesie immer triumphiert.

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Auch wenn Pöggeler diese Kontroverse in seinem zweiten Kapitel weitgehend referiert, Zitationen nicht immer nachweist (zum Beispiel S. 90 f.), auch manchmal in fragwürdiger Weise die Biographie mit dem literarischen Text gleichsetzt (S. 88, 102) und das Faktum der Wirkungsgeschichte, den historischen Abstand, rückgängig zu machen versucht (S. 107: »Muss man Hölderlin nicht genauer einordnen in den Kreis der Freunde, mit denen er wirklich lebte?«), werden ihm doch diejenigen dafür danken, die in Hölderlins Antigonä mehr sehen wollen als eine bloße Stümperei.

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Heideggers Hölderlin:
Heißt Denken Dichten?

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Unter diesem Aspekt ist es nicht nur chronologisch zwingend, sondern auch sachlich geboten, daß Pöggeler in seinem dritten Kapitel zu »Heideggers tragische[r] Welterfahrung« (S. 111–174) übergeht. Auch diese Überschrift signalisiert eine Auffassung von Geschichte als Schicksal, die Pöggeler anläßlich der politischen Verfehlung Heideggers so zuspitzt: »Darf man diese Blindheit, die in guter Absicht sich verirrt in politische Schuld, als Tragik ansprechen, wie Heidegger sie über Hölderlin mit Sophokles beansprucht?« (S. 142)

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Heidegger trennte zwar Hölderlin von Hegel und dem Deutschen Idealismus, verstand seine Dichtung aber als Notwendigkeit für das Denken, sich verwandeln zu müssen: »Hölderlin denkt noch metaphysisch. Aber er dichtet anders«. 5 Heidegger war der Ansicht, daß es nicht genüge, wie der Hegelianismus die Leistungen des Dichtens in Begriffe zu fassen; er verstand das Dichten vielmehr als Grund und Grenze des Denkens selbst, zu dem das Denken wieder zurückzuführen sei, wenn es sich seine Lebendigkeit bewahren wollte. Deshalb inszenierte er einen philosophischen Stil, der unter der Perspektive der modernen analytischen Philosophie als fragwürdig erscheinen muß. Gleichwohl wäre es zu einfach, Heideggers Denken auf seinen politischen Kurzschluß und seine eigenwillige Sprache zu reduzieren. Denn er forderte nicht zuletzt aus politischen Gründen zu einer radikalen Umkehr innerhalb der Philosophie auf, wie sie Hölderlin schon lange vollzogen hatte.

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Damit gab Heidegger freilich dem Dichter Paul Celan nicht jenes Wort des Denkens, das sich jener von ihm angesichts des Holocausts erhofft hatte. Heideggers Antwort blieb zu allgemein und war dennoch wesentlich über die Sprachphilosophie hinaus: Nur das Dichten kann der Not des Daseins begegnen und nur das Dichten verändert ein in sich selbst gefangenes Denken. Gefangen ist ein Denken in sich selbst, wenn es seine Bedingung, die Sprache, überspringen zu können glaubt. Während Philosophie wie Alltag meinen, Sprache sei ein bloßes Mittel des Denkens, ging es Heidegger um die Einsicht, daß der Mensch nicht die Sprache als Werkzeug hat, mittels derer er denkt, sondern daß die Sprache zuvor schon den Menschen hat, bevor er sie als Instrument gebrauchen kann. Sprache als Dichten umgreift das Denken.

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Könnte mit einer solchen Argumentationsskizze Heidegger auch partial gerechtfertigt werden, so leistet ihm Pöggeler durch die Art und Weise, wie er Heideggers Argument präsentiert, keinen guten Dienst: »Heidegger verknüpfte also Hölderlin mit seiner engeren Heimat, dem Tal der oberen Donau nahe bei Beuron. Jeder Besucher des Tals wird auch heute noch staunen, wie genau Hölderlin die überhängenden Felsen und die Wirbel im Strom beachtet hat« (S. 145). Hier verzerrt sich die Applikation Heideggers auf Hölderlin in unfreiwilliger Komik zur Groteske. Denn die sprachliche Leistung Hölderlins ist sicherlich nicht in einem kruden mimetischen Literaturbegriff zu sehen; seine Dichtung ist nicht mimesis, sondern universale poiesis. Unfreiwillig ist diese Komik, da Pöggeler selbst wenige Seiten später über jene spottet, die auf den »Tübinger Hausaltären« (S. 157) das ewige Sein beschwören und sich durch ein solches Nachbuchstabieren »für die Präsidentschaft in der Hölderlin-Gesellschaft empfahlen« (ebd.), um dann selbst in einem Nachbuchstabieren von Heideggers Flucht zur Burg Wildenstein emphatisch auszurufen: »Unterhalb dieser Burg im Donautal hatten Heideggers Vorfahren gelebt!« (S. 162)

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Geschichte als Schicksal?

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So stilistisch unerfreulich diese Auslassungen Pöggelers nun auch sind, er beschönigt wenigstens nicht das, worum es ihm eigentlich geht: »die Berufung auf das Tragische [kann] dazu dienen, dem Nationalsozialismus eine geschichtliche Notwendigkeit zu lassen, ohne ihn durch eine politische Erörterung zu anderen möglichen Wegen zu stellen und damit konkret zu kritisieren.« (S. 164) Solche Sätze trösten über das unfreiwillig Komische und manche Weitschweifigkeit hinweg wie sein hellsichtiges, antihegelianisches Verständnis von Hölderlins Antigonä: »Er [Hölderlin] wollte Sophokles nicht zurückversetzen in einen Ur-Sophokles, sondern ihn [...] auf unsere, die hesperische Zeit, beziehen.« (S. 165)

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Mit dieser Sicht aber hätte der Titel »Schicksal und Geschichte« eine sorgfältigere Erörterung verdient: Heideggers philosophische Sicht auf eine Geschichte des Seins als Tragödie ist mindestens ebenso fraglich wie Hegels Geschichtsphilosophie, die die Geschichte des jüdischen Volkes am Maßstab des Trauerspiels nicht etwa in Benjamins Sinn, sondern am Maßstab der attischen Tragödie mißt. In diesem Sinne besteht die eigentliche Tragik nicht nur Heideggers, sondern Pöggelers selbst, darin, daß es kein Wort des Denkens »nicht nur zum Schicksal deutscher Kriegsgefangener, sondern auch zur Verjagung und Ermordung der Deutschen jüdischer Herkunft« (S. 167) gibt. Hier verwandelt sich das zuvor unfreiwillig Komische in ein unfreiwillig Tragisches in der Verwendung und Kombination der Ausdrücke ›Deutsche jüdischer Herkunft‹ mit ›auch‹, bei der zumindest Paul Celan zusammengezuckt wäre.

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Überraschend ist unter diesem Aspekt der Rückblick (S. 192–193), mit dem Pöggeler die disparate Wirkungsgeschichte der Antigone zu resümieren versucht: Er steht wie die Einleitung in auffälligem Kontrast zum Haupttext. In diesem Rückblick wird die Gestalt der Antigone nur als Opernstoff thematisiert und auf die Differenz zwischen Orff und Brecht zugespitzt. Weite Passagen des eigenen Textes, gerade die philosophisch und philosophiegeschichtlich interessanten, werden ebenso ignoriert wie das, was man als den ›Subtext‹ bezeichnen könnte, der das Schreiben dieses Buches motivierte: »›Die griechische Sprache, der griechische Vers setzen eine Gemeinschaft voraus und besitzen eine gemeinschaftsbildende Macht, wie sie heute nicht mehr vorstellbar sind.‹« (S. 182) In diesem von Pöggeler nicht nachgewiesenen Zitat (von Thrasybulos Georgiades, Walter F. Otto oder einem anderen Autoren?) wird das Dilemma deutlich, Geschichte als Schicksal im Kontext einer modernen Gesellschaft, die keine Gemeinschaft mehr kennt, begreifen zu wollen: Nur noch die Revision der Geschichte und der Rückgang auf ihren ›Ursprung‹ scheint ›Gemeinschaft‹ stiften zu können. Dann aber wäre nicht nur weiter zu fragen, ob in Pöggelers Revision alle Stimmen zur Antigone zur Sprache gekommen sind. Die grundsätzliche Frage bleibt, ob Geschichte als Schicksal die angemessene wissenschaftliche Sicht auf die Geschichte selbst ist, auch wenn nicht bestritten werden soll, daß in individueller Perspektive Geschichte zumeist als Schicksal erfahren und erlitten wird.



Anmerkungen

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Der Geist des Christentums und sein Schicksal. Hg. von Gerhard Ruhbach. Gütersloh: Mohn 1970, S. 23.   zurück
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Anm. 1), S. 17.   zurück
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Anm. 1), S. 27 f.   zurück
[Johann Christian Friedrich] Hölderlin: Große Stuttgarter Ausgabe. Im Auftrag des Württembergischen Kult[!]ministeriums hg. von Friedrich Beißner. Sämtliche Werke. Bd. V. Hg. von Friedrich Beißner. Stuttgart: Kohlhammer 1952, S. 271.   zurück
Martin Heidegger: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944. Bd. 52: Hölderlins Hymne Andenken. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1941 / 42. Hg. von Curd Ochwadt. Frankfurt / Main: Klostermann, S. 120.   zurück