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Machiavelli-Lektüren um 1800

  • Paolo Carta / Christian Del Vento / Xavier Tabet (Hg.): Scritti sul Principe di Niccolò Machiavelli. Testi di Angelo Ridolfi, Ugo Foscolo. Rovereto (Trento): Nicolodi 2004. 176 S. EUR (D) 18,00.
    ISBN: 88-8447-128-1.
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Das Machiavelli-Bild zwischen Aufklärung und Historismus

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Die in der vorliegenden Ausgabe versammelten Texte von Angelo Ridolfi und Ugo Foscolo über den Principe, beide um 1810 entstanden, markieren in Italien den Wendepunkt, an dem die Machiavelli-Interpretation der Aufklärung in die historistische Lesart des 19. Jahrhunderts übergeht. Stark vereinfacht 1 lassen sich die beiden Extrempositionen folgendermaßen skizzieren:

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Rousseaus einflußreiches Urteil über Machiavellis Principe, das sich im dritten Buch des Contrat social findet, bringt in Kurzform die aufklärerische Lesart zum Ausdruck, mit der man den von allen Seiten angefeindeten Theoretiker der Macht im 18. Jahrhundert zu rehabilitieren versuchte:»En feignant de donner des leçons aux rois il en a donné de grandes aux peuples. Le Prince de Machiavel est le livre des républicains.« Der Principe sei also nicht das Handbuch für absolute Herrscher ohne moralische oder religiöse Skrupel, als das er seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in Misskredit geraten war, sondern eine drastische Darstellung der Verhältnisse in monarchisch regierten Staaten, aus der sich im Umkehrschluss eine Handlungsanleitung für Republikaner herauslesen lasse.

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Mit dieser Interpretation, die in der Zeit der Französischen Revolution noch einmal starken Zuspruch erfahren hat, versuchte man, Machiavellis offensichtlichen Amoralismus, der zu den früheren Verdammungsurteilen geführt hatte, als Ausdruck ironischer Absichten des Autors zu entschuldigen. Erst mit dem beginnenden Historismus wurde ein Blick auf Machiavelli möglich, bei dem die Frage der Moral in den Hintergrund trat und stattdessen die historische Funktion des von Machiavelli beschriebenen Fürsten hervorgehoben wurde. In Deutschland findet sich diese neue Lesart in Ansätzen bereits bei Herder, später bei Fichte und Hegel, die – ähnlich wie gleichzeitig Ridolfi und Foscolo in Italien – Machiavelli im Licht der aktuellen Erfahrung der napoleonischen Herrschaft und der Machtlosigkeit der eigenen Nation interpretieren.

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Zur Ausgabe von Carta, Del Vento und Tabet

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Mit der ausführlich kommentierten und mit drei einleitenden Essays versehenen Ausgabe machen die Herausgeber zwei Texte zugänglich, die zwar häufig zitiert, aber selten gelesen wurden, da sie bislang nur schwer greifbar waren. Ugo Foscolo, der in Deutschland fast nur noch Spezialisten als Verfasser des an Goethes Werther angelehnten Briefromans Le ultime lettere di Jacopo Ortis (zuerst 1802) bekannt ist, gilt in Italien als einer der großen Klassiker der Literatur des 19. Jahrhunderts und als Märtyrer des Risorgimento, der nationalen Einheitsbewegung. Schon im Alter von kaum zwanzig Jahren war er unter den Protagonisten der Revolution in Norditalien und blieb während der napoleonischen Herrschaft politisch und literarisch außerordentlich aktiv. Mit dem Ende des Königreichs Italien und dem Beginn der erneuten österreichischen Besatzung ging er 1815 ins Exil. 1827 ist er in London verarmt gestorben. Seine Betrachtungen über Machiavelli, die 1850 erstmals aus dem Nachlass ediert wurden, fanden sofort besonderes Interesse, weil sich hier der zum frühen Kämpfer des Risorgimento stilisierte Foscolo über einen weiteren Nationalhelden der Einheitsbewegung äußerte. In den einleitenden Essays erläutern die Herausgeber die Hintergründe der Entstehung von Ridolfis Pensieri (Paolo Carta, der in »Il Machiavelli di Angelo Ridolfi«, 9–30, auch ausführlich auf Ridolfis Rolle als Vermittler deutscher Rechtswissenschaft und Philosophie eingeht) und von Foscolos Betrachtungen (Christian Del Vento: »Le considerazioni di Ugo Foscolo«, 31–49). Xavier Tabet verortet schließlich die beiden Texte im größeren Zusammenhang der Machiavelli-Rezeption des 19. Jahrhunderts (»Alle origini del ›mito risorgimentale‹ di Machiavelli«, 59–78).

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Ridolfis Beitrag

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Anlass für Foscolos Beschäftigung mit Machiavelli waren die Pensieri intorno allo scopo di Niccolò Machiavelli nel libro il ‹Principe› (Gedanken über die Absicht von Niccolò Machiavellis Buch ›Il Prinicipe‹), die der Professor für öffentliches Recht und Rektor der napoleonischen Universität Bologna Angelo Ridolfi 1810 publiziert hatte. Von Ridolfis Pensieri kannte man üblicherweise nur die Passagen, die Foscolo in seinen Fragment gebliebenen Considerazioni sui ›Pensieri‹ di Angelo Ridolfi – so der Titel, den die Herausgeber statt der üblichen Bezeichnung Frammenti machiavelliani gewählt haben – zitiert hatte. Mit der neuen Edition liegt nun zum ersten Mal seit 1810 der gesamte Text wieder vor, dessen historische Bedeutung nicht nur darin liegt, dass er den Anlass für Foscolos Betrachtungen geliefert hat. Ridolfi publizierte als Anhang zu seinen Pensieri außerdem zum ersten Mal Machiavellis seither berühmten Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori, in dem Machiavelli dem Freund berichtet, er habe ein Werk mit dem Titel de Principatibus verfasst, dessen Anliegen er ihm knapp beschreibt.

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Der Brief war erst kurz vor der Veröffentlichung von Ridolfis Pensieri entdeckt worden und war geeignet, der republikanischen Machiavelli-Lektüre des 18. Jahrhunderts endgültig jegliche Grundlage zu entziehen, da Machiavelli darin sehr deutlich sagte, dass der Principe geschrieben sei, um einem Fürsten zu zeigen, wie er sich mit allen Mitteln die Macht sichern könne. Ridolfi interpretierte den Text deshalb, in Übereinstimmung mit seiner Hauptquelle – William Roscoes History of the Life and Pontificate of Leo the Tenth (Liverpool 1805, aber Ridolfi benutzte die französische Übersetzung von 1808) – bereits im Sinne der neueren Machiavelli-Forschung: der Principe sei in der Absicht verfasst worden, einem italienischen Fürsten den Weg zur Macht zu weisen, die notwendig wäre, um in Italien einen starken Staat zu gründen, wie der Diplomat Machiavelli ihn u. a. in Frankreich hatte beobachten können. Doch Ridolfi, Beamter von Napoleons Gnaden, konnte damit auch ein aktuelles Anliegen indirekt zum Ausdruck bringen, da um 1810 in Italien die Frage sehr präsent war, welche Rolle der französische Principe, unter dessen Kontrolle sich das Land befand, bei der Einigung Italiens spielen könne. Mit dem Königreich Italien schien zumindest ein erstes Resultat vorzuliegen, das sich mit dem modern gelesenen Machiavelli als die positive Auswirkung einer tyrannischen Herrschaft begreifen ließ.

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Foscolo zwischen Aufklärung und Desillusion

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Foscolo hatte bereits in seinem Gedicht Sepolcri (Die Gräber) von 1807 an prominenter Stelle den republikanischen Machiavelli gefeiert. Beim Anblick von Machiavellis Grabmal in Santa Croce in Florenz ruft er in dem Gedicht aus:

[12] 
Io quando il monumento / Vidi ove posa il corpo di quel grande, / Che temprando lo scettro a’ regnatori, / Gli allòr ne sfronda, ed alle gente svela / Di che lagrime grondi e di che sangue. 2
[13] 

In der von Christian Del Vento anhand der Manuskripte besorgten neuen Edition von Foscolos Considerazioni wird nun sehr deutlich, wie Ridolfis Publikation noch einmal den revolutionären Republikaner in Foscolo provoziert, wie er sich aber anscheinend selbst nicht mehr recht von der reinen republikanischen Lesart der Aufklärung überzeugen kann. In immer neuen Anläufen versucht er zunächst, eine Geschichte der Machiavelli-Interpretationen seit dem 16. Jahrhundert zu schreiben, dann einen Durchgang durch Machiavellis Gesamtwerk und schließlich eine Art Biographie, um dann von Machiavellis Charakter aus zu argumentieren, dass eine andere als die republikanische Lesart unvorstellbar sei:

[14] 
la vita del Machiavelli, e il carattere che si desume da questa vita contrasta evidentemente con le massime del Principe, il che mostra ch’egli intendeva di scriverle obliquamente 3 . (154)
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Noch bevor Foscolo Italien verließ, gab er das Projekt, in welcher Form auch immer, endgültig auf. Unter dem Eindruck der Lektüre der ersten Bände von Sismondis Histoire des républiques italiennes du moyen âge hatte er bereits 1813 in seiner mittelalterlichen Tragödie Ricciarda eine der Hauptfiguren nach einem Erlöser ausrufen lassen, der Italien befreien und einigen möge. Nach der Niederlage Napoleons bei Leipzig im Oktober 1813 und angesichts des sich abzeichnenden Endes der französischen Herrschaft in Italien gehörte Foscolo zu denjenigen unter den ehemaligen Republikanern, die bereit waren, für eine Einigung Italiens unter dem Vizekönig Eugène Beauharnais ihre republikanischen Überzeugungen zurückzustellen: besser ein geeintes Italien unter einem Principe, als überhaupt keinen Staat.

[16] 

Als auch diese Lösung sich zerschlagen hatte und Italien unter österreichische Kontrolle geraten war, emigrierte er. In einem der wichtigsten Texte aus der Zeit des englischen Exils, dem Discorso storico sul testo del Decamerone von 1825, hat sich Foscolo dann noch einmal zu Machiavelli geäußert, nun aber eindeutig im Sinne der neuen, historischen Interpretation, der »direkten Lektüre«, die er zwölf Jahre zuvor bei Ridolfi noch attackiert hatte:

[17] 
Niccolò Machiavelli, il più veggente fra gli scrittori politici, [...] non aspettava salute se non dalla riunione degli Italiani sotto un principe solo anche a patti che fosse tiranno. 4
[18] 
Machiavelli, der weitsichtigste unter den politischen Schriftstellern [...] erwartete die Rettung Italiens nur von der Einigung der Italiener unter einem einzigen Fürsten, auch unter der Bedingung, dass er ein Tyrann wäre.
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Die liebevolle Aufmachung des Buchs mit Fadenheftung und hochwertigem Papier verdient ebenso großes Lob wie die genauen Kommentare und die hilfreichen und gut lesbaren Einführungen, nur einen letzten Korrekturgang hätte der Band, der eine unvertretbar hohe Zahl von Druckfehlern aufweist, noch gebrauchen können.



Anmerkungen

Eine eingehende Untersuchung findet sich in Giuliano Procaccis grundlegender Studie Machiavelli nella cultura europea dell’età moderna. Bari: Laterza 1995.   zurück
V. 154–158, in der deutschen Übersetzung von Ernst Halter: »Ja, als ich das Denkmal / schaute, wo der Körper jenes Großen / ausruht, der, das Zepter den Herrschern richtend, / den Lorbeer reißt davon und enthüllt den Völkern, / von wieviel Tränen es trieft, von wieviel Blut«.   zurück
Machiavellis Leben und der Charakter der sich aus diesem Leben erschließen läßt, stehen in offensichtlichem Gegensatz zu den Maximen des Principe, was beweist, daß er beabsichtigte, ihn in indirektem Sinn zu schreiben.   zurück
Vgl. Foscolo, Edizione Nazionale delle Opere, Bd. 10, S. 315.   zurück