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Ludologie und Narratologie
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In der wissenschaftlichen Analyse des Computerspiels haben sich zwei Schulen herausgebildet. Zum einen die Ludologie, die den Spielcharakter des Computerspiels betont und seine erzählerischen Möglichkeiten als Forschungsgegenstand ablehnt. Auf der anderen Seite stehen die Literatur-, Film- und Medienwissenschaftler, die von ihren eigenen Disziplinen ausgehend natürlich einen anderen Ansatzpunkt in der Analyse vertreten. Bernd Hartmann versucht nun, diese beiden Schulen unter einer eigenen Betrachtungsweise zu vereinen, wobei er nicht verhehlt, dass er als Geisteswissenschaftler der naratologischen Sichtweise näher als der ludologischen steht.
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Hartmann betrachtet in seiner Arbeit das Verhältnis von Computerspiel, Film und Literatur unter dem Aspekt des Medienwechsels und aus einem poststrukturalistischen Blickwinkel. Theoretisches Rüstzeug entlehnt er dabei Seymour Chatman, Brian McFarlane und Patrick O’Neill. Von Chatman übernimmt Hartmann das Konzept von Kardinalpunkten, also Ereignissen, die die Handlung vorantreiben, und Satelliten, also Ereignissen, die die fiktionale Welt ausschmücken. Von McFarlane entlehnt Hartmann die Idee, wonach sich einige Elemente einer Handlung von einem Medium ins andere direkt transformieren lassen, während für andere eine neue Ausdrucksmöglichkeit gefunden werden muss. Bei Literatur und Film könne eine Verfilmung auch dann als Verfilmung gelten, wenn sie nicht originalgetreu sei. Sie müsse allerdings ein Mindestmaß an Strukturgleichheit aufweisen. Und schließlich greift Hartmann auf Patrick O’Neill zurück, der alle Manifestationen einer Geschichte in verschiedenen Medien nicht-hierarchisch auf einer textuellen Ebene anordnet.
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Für seine Untersuchung zieht Hartmann folgende Schlüsse. Zunächst müsse gefragt werden, »auf welche Weise ein Computerspiel überhaupt eine Geschichte vermitteln kann« (S. 43). Danach kommt die Frage, »was sich überhaupt in das neue Medium transferieren bzw. adaptieren lässt« (S. 43).
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Interaktivität und Hypertext
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In seiner Analyse von Computern und Computerspielen als Medium konzentriert sich Hartmann auf die Elemente Interaktivität und Hypertext. Interaktivität definiert er in Anlehnung an Brenda Laurel sehr pragmatisch, indem er die Entscheidung nach dem Grad der Interaktivität dem jeweiligen Benutzer zukommen lässt. Und anhand dieser beiden Punkte stellt er das Hauptproblem des Medienwechsels ins Computerspiel heraus: »Wie kann etwas ein spezifischer Ausdruck, eine spezifische Sicht der Dinge sein, wenn der Spieler in einem gewissen Maß an den Spielverläufen beteiligt ist?« (S. 55)
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In Anlehnung an Roger Caillois führt Hartmann aus der Spieltheorie die beiden Begriffe »ludus« (Fortschritt durch Befolgen der Spielregeln) und »paidia« (Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten, ohne einen Fortschritt zu beabsichtigen) ein. Die linearen Medien Film und Literatur ordnet Hartmann der »paidia« zu, das Computerspiel zeigt er vor allem in seinen Beispielanalysen am Ende des Buches als eine Kombination aus »ludus« und »paidia«. Dementsprechend betrachtet er auch nur Spiele,
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in denen die Geschichte selbst der Spielinhalt ist und nicht einfach nur ein austauschbarer Hintergrund. [...] Voraussetzung für den narrativen Charakter des Spiels ist so, dass das Spiel eine zusammenhängende narrative Sequenz produziert mit einer deutlichen Veränderung der Geschichte, was sich vor allem über die Kardinalpunkte ausdrückt. (S. 64)
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Hartmann findet seine Analyseobjekte im Genre »Interactive Fiction«, auch bekannt als »Adventures«, denn hier geht es darum
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eine lineare Geschichte spielbar zu machen. [...] Eine Interactive Fiction [...] operiert ausschließlich über Sinn, und auch die Eingaben des Spielers an den Spielcharakter müssen Sinn innerhalb der Fiktion der Erzählwelt des Spiels ergeben. Dies ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen Spielgenres. (S. 71)
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Unter Interactive Fiction subsummiert Hartmann alle Spiele, die eine Geschichte erzählen, ungeachtet ob mit textlichen oder mit graphischen Mitteln.
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Mediale Differenzen
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Auf die Unterschiede zwischen Computerspiel und Literatur und Film geht Hartmann ebenfalls ein. Er vergleicht die Art, wie die Geschichte im Computerspiel erzählt wird, mit dem Drama, allerdings habe es eine hybride Form, »denn der Spieler ist gleichzeitig Beobachtender und Handelnder« (S. 81).
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Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass die Geschichte im Computerspiel »modular« ist. »Die Teile der Geschichte existieren nur in Fragmenten, der Text ist zerstückelt und kann auf verschiedene Arten zusammengesetzt werden, die Reihenfolge der Ereignisse ist zu einem gewissen Grad austauschbar.« (S. 82)
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Ebenso weist er auf die unterschiedliche Funktion von Charakteren in Computerspielen hin. Sie müssten als Repräsentanten des Spielers in der Spielwelt »am besten nur lückenhaft erkennbar sein, um dem Spieler genügend Freiraum [zur Identifizierung] zu geben« (S. 84).
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Statt der Zeit macht Hartmann im Computerspiel vor allem den Raum als leitendes Organisationsprinzip fest, da die Zeit bei jedem Spieldurchlauf in Hinsicht auf verschiedene Faktoren unterschiedlich ablaufen könne. Und insofern sei auch ein linearer Durchlauf durch das Spiel auf keinen Fall gleich bedeutend mit dem Spiel selbst, denn dieses umfasse ja auch alle anderen Möglichkeiten, wie diese Geschichte erzählt werden könne. »Der Spieler ist dadurch in einer Position, die ihn bedingt vergleichbar mit dem Erzähler in einer Erzählung macht.« (S. 90)
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Erzählwelten
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Dies führt Hartmann zu seinem nächsten Themenkomplex, der Interaktion mit Erzählwelten. Er stellt fest, dass die linearen Medien Literatur und Film dem Computerspiel in punkto Plot überlegen seien, denn im Computerspiel müsse die Geschichte immer wieder auf Entscheidungen des Spielers hin komprimiert werden. Die Spieleentwickler müssten also eine Balance zwischen Interaktivität und Plot herstellen, wenn sie in ihrem Spiel auch eine Geschichte vermitteln wollten. Der Spieler als unberechenbarer Faktor während der Spielentwicklung werde vermutlich immer wieder auf Begrenzungen der Spielwelt stoßen, indem er Dinge tun wolle, die das Programm nicht vorsehe. Je nachdem, wie geschickt diese Begrenzungen ins Programm eingebaut seien, könne der in die Spielwelt eingetauchte Spieler dies durch »willing suspension of desbelief« (Samuel Taylor Coleridge) ignorieren.
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Der treibende Faktor des Computerspiels ist demnach weniger die Geschichte als vielmehr die Erforschung der Erzählwelt, in der die Geschichte spielt. »Eine Interactive Fiction enthält so nicht nur die ›Original‹-Geschichte, sondern auch eine große Anzahl von Variationen darauf, die gleichrangig nebeneinander stehen.« (S. 99) Interactive Fiction werde so zu einer »konkreten Anwendung des narratologischen Konzepts der Alternativgeschichte« (S. 100), also Geschichten, die eine Handlung in verschiedenen Variationen erzählen. Jorge Luis Borges’ Garten der sich verzweigenden Pfade oder auch der Film Und täglich grüßt das Murmeltier bringt Hartmann als Beispiele für Alternativgeschichten. Für die erfolgreiche Umsetzung eines Textes oder eines Films als Computerspiel gelte somit, dass Originaltreue eher hinderlich sein könne. »Die Welt des Spiels muss wie eine umfassende Erzählwelt vorkommen, die auch unabhängig von der Handlung der Geschichte des Spiels zu existieren scheint.« (S. 102) Die Variationsbreite der Handlung wäre demnach das entscheidende Kriterium für Interactive Ficiton. Verschiedene Strategien, eine Handlung aus einem linearen Medium ins Computerspiel zu überführen, präsentiert Hartmann in einem analytischen Teil.
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Bei »originalgetreuen« Umsetzungen fasst er die Definition von »Originaltreue« etwas weiter. Wichtig sei, dass das Spiel in seinen Kardinalpunkten der Vorlage folge, auch wenn unterschiedliche Wege zu den Kardinalpunkten führen würden. Dann könne von einer »originalgetreuen« Umsetzung gesprochen werden. In gewisser Weise problematisch sei das Ende des Spiels. Da sich der Spieler ja mit der Hauptfigur identifizieren solle, werde er meistens ein positives Ende anstreben. Allerdings gebe es in manchen Spielen auch »Sackgassen«, in denen der Spieler sterbe. Aus narratologischer Sichtweise wären allerdings auch Spieldurchgänge mit negativem Ende genau so vollwertige Geschichten wie Durchläufe mit positivem Ende.
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Eine andere Umsetzungsstrategie sei es, die Stimmung einer Vorlage einzufangen und darauf aufbauend eine neue Geschichte zu erfinden. »Auf Vorlagen beruhende Interactive Fiction kann so der überlegenen Qualität des Erzählens in anderen Medien ein Gegengewicht entgegensetzen: Ein stärkeres Konzentrieren auf die Figuren und die Erzählwelt.« (S. 107) Ein Beispiel für diese Art von Umsetzung, Indiana Jones and the Fate of Atlantis, analysiert Hartmann später.
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Bezüglich intertextueller Bezüge zwischen Vorlage und Computerspiel kommt Hartmann auf die Erzählstruktur von Fernsehserien zurück. Hier seien die erzählten Welten und die Charaktere wichtiger als die Handlung einer einzelnen Episode. Am Beispiel von Star Trek macht er deutlich, dass der Detailreichtum einer solchen Erzählwelt die Phantasie der Fans beflügeln könne. Viele von ihnen würden dann beginnen, eigene Geschichten auf der Basis der Lieblingsserien zu schreiben. Bei diesem Phänomen, »textual poaching« nach Michael de Certeau und Henry Jenkins, gebe es das Problem, dass diese Geschichten kein Teil der offiziellen Erzählwelt seien. Diese unterliege dem Urheberrecht, über das in der Regel Medienmultis verfügen würden. Die Frage sei also, was passe sozusagen in die Erzählwelt und was sprenge sie. In der Produktion der Interactive Fiction Indiana Jones and the Last Crusade wären die Spieldesigner vor dem gleichen Problem gestanden – Wie weit dürfen sie sich von der Geschichte des Films entfernen? Darf Indiana Jones sterben, wenn der Spieler einen Fehler macht?
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Das Verhältnis von Spieler, Handlung, Hauptfigur und Produzent ist Hartmanns nächstes Thema. Die These der frühen Forschung zu Hypertexten, wonach der Leser zum Autor des Textes werde, ist in der jüngeren Forschung schon widerlegt worden. Dementsprechend spricht Hartmann davon, dass »in Computerspielen die Autorenfunktion mit einer Art Herausgeberfunktion gekoppelt [wird], indem dem Spieler eine strukturierte Welt angeboten wird, die bestimmte narrative Stränge produzieren kann« (S. 118). Und da der Autor die Regeln für die Erzählwelt vorgibt, sieht Hartmann darin eine Stärkung der Autorenfunktion.
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Am Ende fragt Hartmann, wie Computerspiele interpretiert werden könnten. Die Schwierigkeit dabei sei ja, dass dem Interpreten nicht der gesamte Text auf einmal zugänglich sei. »Denn niemals kann der Spieler sicher sein, dass er selbst bei mehreren Spieldurchgängen alles vom Spiel gesehen hat.« (S. 123) Hartmanns Antwort auf diese Frage lautet: »Ein Computerspiel zu interpretieren heißt, die Ideologie zu interpretieren, die sich über die begrenzte Vielfalt der Spielmöglichkeiten und die Reaktionen auf die Eingaben ausdrückt.« (S. 123) Das sei eine Aufwertung der Spielform »paidia«: »Dem Spieler muss es viel mehr darum gehen, die Möglichkeiten der Erzählwelt des Spiels auszuloten und auch Dinge zu tun, die nichts mit der Lösung des Spiels zu tun haben« (S. 124).
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Im analytischen Teil der Arbeit untersucht Hartmann drei Interactive Fictions: The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy, weil es ein Textadventure und die ›Versoftung‹ eines Buches ist; Indiana Jones and the Last Crusade, weil dieses Graphikadventure die Umsetzung eines Filmes ist; und schließlich Indiana Jones and the Fate of Atlantis, denn hierbei handelt es sich um eine Fortsetzung der Indiana Jones-Reihe, also »textual poaching«.
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Fazit
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Hartmann ist es überzeugend gelungen, die Diskussion um Narration in Computerspielen zusammenzufassen und Widersprüchliches unter einem Dach zu vereinen. Dies gelingt ihm dadurch, dass er seine Diskussion teilweise sehr stark auf nur einige Aspekte fokussiert. Andere Meinungen werden zwar benannt, aber gleich im Anschluss wieder vom Tisch gefegt mit dem Hinweis, dass dies für seine eigene Fragestellung nicht wichtig sei.
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Inhaltlich kann Hartmann zwar überzeugen, aber an den Formulierungen hätte er teilweise noch feilen können. Immer wieder trifft man beim Lesen auf holprig oder gar ungenau formulierte Stellen. Beispielsweise schreibt er über den Film TRON: »Die filmischen Computerspielwelten wurden bereits vollständig mit dem Computer geschaffen – was angesichts der seitdem vollzogenen technischen Entwicklung heute antiquiert und kurios wirkt« (S. 25). Damit sagt er eigentlich, dass computergenerierte Bilder an sich im Film heute antiquiert und kurios wären und nicht, dass die Graphiken dieses Films aus den Achtziger Jahren antiquiert wirken würden, weil sich die Qualität in der Zwischenzeit stark verbessert habe.
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Insgesamt sind diese Unsauberkeiten allerdings so in der Minderzahl, dass sie nicht auf den Autoren zurückfallen, sondern auf seinen Verlag. Offensichtlich hat der LIT-Verlag zu sehr am Lektorat gespart. Dazu passen die billige Verarbeitung und das billige Papier des Buches – es fühlt sich in der Hand nicht gut an und die Seiten lassen sich schlecht umblättern.
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Trotz allem: Bernd Hartmanns Arbeit selbst ist eine sehr anregende Lektüre, die das Themenspektrum Computerspiel und Literatur gut abdeckt, verschiedene Ansätze zusammenfasst und zu einem runden Ganzen synthetisiert.
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