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Literarische Archäologie

Perspektiven der Forschung zur »Décadence in Deutschland«

  • Dieter Kafitz: Decadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 209) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2004. 505 S. Gebunden. EUR (D) 56,00.
    ISBN: 3-8253-1613-0.
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Literatur-Archäologie

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Fachlexika und Handbücher sind ein zuverlässiger Indikator für die Konjunkturen und Baissen in der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung und Beschreibungssprache. Wenn im Zuge der Neubearbeitung der Eintrag zur ›Décadence‹ im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ersatzlos gestrichen worden ist, ist dies daher auch ein Hinweis darauf, daß die systematische Bedeutung des Begriff und der damit bezeichneten Sache in Frage steht.

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In seinen »Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts« fragt nun Dieter Kafitz nach den systematischen wie den historischen Gründen für diese Abwertung und wirft die Frage nach der Relevanz und der Berechtigung von ›Décadence‹ als literaturwissenschaftliche Kategorie für den deutschen Sprachbereich auf. Das Buch stellt nicht nur eine Summe von Kafitz’ langjährigen Forschungen zur Literatur der »Décadence in Deutschland« dar, zugleich handelt es sich um ein nachdrückliches Plädoyer für eine systematische und methodische Neuausrichtung der deutschsprachigen ›Décadence‹-Forschung.

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Kafitz’ Ausgangsthese, das Phänomen der ›Décadence‹ sei in der deutschsprachigen Literatur »bisher nur unzureichend untersucht« (S. 12), bedarf angesichts einer hohen Dichte von Publikationen, die diesen Begriff im Titel führen, der Begründung. Eine Erläuterung gibt Kafitz in einem knappen Einleitungskapitel, das der kritischen Auseinandersetzung mit der Forschung gewidmet ist. Ausgangspunkt von Kafitz’ Überlegungen ist der Befund, daß eine »übergreifende Diskussion« (S. 7) fehle, die eine systematische Bestimmung leisten würde. Im Gegenzug dominiere in der Forschung die Tendenz, den Gegenstand ›Décadence‹ inhaltlich, d.h. über die Rekurrenz bestimmter Themen und Motivkomplexe zu erfassen.

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Als Exponenten dieses »Paradigma[s]« (S. 12) wendet Kafitz sich insbesondere gegen Wolfdietrich Rasch, der in seiner nach wie vor einflußreichen Monographie Die literarische Décadence um 1900 ›Décadence‹ als »Darstellung von Niedergang und Verfall« definiert und sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich gegen eine Bestimmung des Gegenstandes von seinen sprachlichen und stilistischen »Strukturen« her ausspricht. 1 Dieser status quo der deutschsprachigen Forschung nun ist in den vergangenen Jahren bereits zu wiederholten Malen kritisiert worden, und es ist dem – insbesondere von Seiten einer komparatistisch ausgerichteten Forschung – die Forderung nach einer stärker form- und sprachbezogenen Perspektivierung der ›Décadence‹ in der deutschsprachigen Literatur entgegengehalten worden. 2

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Eine erste kritische These ist es, daß die in der deutschsprachigen Forschung dominante und von Kafitz als philologisch unbefriedigend und »reduktionistisch« (S. 13) kritisierte, inhaltsbezogene Zugangsweise ihrerseits das Ergebnis einer spezifisch begriffs- und konzeptgeschichtlichen Entwicklung im deutschen Sprachraum sei. Zu einem erheblichen Maße beruhe die anhaltende Fokussierung auf »Themen, Motive, Figuren« (S. 12) auf einem Mangel an sprach- und formbezogenen Denkalternativen, und in diesem Mangel wirke bis heute das Vergessen fort, dem die – aus Frankreich kommenden – originären ästhetischen Konzepte von ›Décadence‹ im deutschsprachigen Raum spätesten nach 1900 anheim gefallen seien.

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Diesen vergessenen und »versunkenen« Strang der Begriffs- und Konzeptgeschichte von »Décadence in Deutschland« zu dokumentieren und durch die Rekonstruktion seiner argumentativen Logik »wieder zum Sprechen zu bringen« (S. 14), ist das zentrale Anliegen der Studie. Dabei geht es Kafitz nicht in erster Linie um eine noch einmal differenzierte Begriffs- und Konzeptgeschichte von ›Décadence‹. Zugleich – und dies kann als das eigentliche Anliegen der umfangreichen Arbeit gelten – verspricht Kafitz sich von der Rekonstruktion dieser frühen und anderen, auf die »sprachkünstlerische Seite« (S. 8) gerichteten Konzeptualisierung von ›Décadence‹ Impulse für eine systematische Neuperspektivierung und
-erschließung der ›Décadence‹-nahen deutschsprachigen Literatur.

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Einen Neueinsatz stellt Kafitz’ historisierende Auseinandersetzung mit der »Décadence in Deutschland« dabei nicht nur in Hinblick auf die außergewöhnliche Fülle und Breite des ausgewerteten Quellenmaterials dar. Neben Texten von Baudelaire, Gautier, Bourget, Nietzsche und Bahr, Hofmannsthal, Schnitzler, den Brüdern Mann und George wertet Kafitz ein Korpus von »etwa 500« (S. 159) literaturkritischen und -programmatischen Beiträgen aus deutschsprachigen Literaturzeitschriften zwischen 1890 und 1914 aus. Dieses Vorgehen bedeutet nicht nur eine so noch nie unternommene Verbreiterung der Textbasis, es ist auch verbunden mir einer neuartigen Erschließung dieses Materials, die sich methodisch und in ihren Erkenntnisinteressen an »Foucaults Archäologie des Wissens« (S. 12) orientiert.

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Von dem diskursarchäologischen Zugriff auf das Textmaterial verspricht Kafitz sich eine Öffnung der Begriffs- und Konzeptgeschichte auf eine Analyse der Rederegularitäten und Positionierungen, der diskursiven Ein- und Ausschlüsse, die sich im deutschen Sprachraum seit den 1890er Jahren mit der Qualifizierung von literarischen Texten durch den Begriff ›Décadence‹ verbinden. Innerhalb der aktuellen – eher auf eine disziplinäre Entgrenzung angelegten – Forschungslandschaft ist der Gebrauch, den Kafitz von den methodischen Angeboten der Diskursarchäologie macht dabei eher antizyklisch. Er erfolgt im Zeichen einer erklärten Selbstbeschränkung auf das Literatursystem der frühen Moderne: ›Décadence‹ wird als ein »Diskurs« untersucht, der sich innerhalb des literarischen Feldes entfaltet.

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Ausgehend von dieser in der »Einleitung« explizierten Vorentscheidungen in Bezug auf Material und Methodik geht die Studie in der Folge in drei Schritten vor: Ein erstes Kapitel zeichnet die Ausbildung einer ästhetischen »Theorie« der ›Décadence‹ bei den französischen »Diskursivitätsbegründern« (S. 15) Baudelaire, Gautier, Bourget und deren deutschen »Multiplikatoren« (S. 15) Bahr und Nietzsche nach; in einem zweiten und dritten Kapitel wird untersucht, wie diese Theoriebausteine im deutschsprachigen Bereich als dezentraler und in sich heterogener »Diskurs« zirkulieren. Ein abschließendes Kapitel erprobt die Erträge der vorangegangenen Begriffs- und Diskursgeschichte autorbezogen an der Lektüre einzelner Werke.

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Theorie-Geschichte

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Wie Maria Moog-Grünewald kritisch angemerkt hat, hat sich die »Entfaltung der Geschichte des Begriffs ›décadence‹«, die den eigentlichen Analysen vorangeht, zu einer Art »Pflichtübung« vieler Arbeiten verselbständigt, ohne daß deren Ertrag als ausgemacht gelten könnte. 3 Kafitz kann auf einen derartigen begriffsgeschichtlichen Vorlauf nicht nur deswegen verzichten, weil Roger Bauer ihn in seiner Monographie Die schöne décadence vor kurzem noch einmal in aller wünschenswerten Differenziertheit vorgelegt hat (vgl. S. 11). Bedenkenswerter ist der systematische Einwand, daß erst der veränderte diskursive Kontext dem – der Sache nach alten und auch in der Kunst bereits bekannten– Begriff ›décadence‹ in Frankreich seit den 1860er Jahren innerhalb der Literatur eine neuartige Bedeutung zuweist.

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Kafitz geht im ersten Kapitel, »Diskursivitätsbegründer und Multiplikatoren«, von Foucaults Abhandlung Qu´est-ce qu´un auteur? aus. Baudelaire und Gautier werden als »Diskursivitätsbegründer der literarischen Décadence« (S. 15) aufgefaßt. Daher läßt Kafitz seine Rekonstruktion auch erst mit diesen beiden Autoren beginnen. Die Leistung Baudelaires und Gautiers sieht er dabei in erster Linie in einer neuartigen argumentativen Verknüpfung eingeführter Begriffe und Konzepte, die eine Reihe von »Möglichkeiten diskursiver Anschlüsse und Erweiterungen eröffnete« (S. 12), die in den folgenden Jahrzehnten konstant bleiben. Als entscheidenden Aspekt der Recodierung des Begriffs »décadence« durch Baudelaire und Gautier stellt Kafitz dabei die Virtualisierung der älteren – ihrer Tendenz nach negativen – lexikalischen Semantik von biologischem und kulturellem ›Verfall‹ heraus, die vor allem in der Kulturgeschichte verbreitet ist.

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In einem genauen und geduldigen close reading der – in der Forschung zur französischen ›décadence‹ der Sache nach bekannten und gut erschlossenen – Texte Baudelaires und Gautiers arbeitet Kafitz zunächst noch einmal das Bündel von ästhetischen Konzepten und sprachlichen Verfahren heraus, die in Frankreich in den 1860er und 70er Jahren unter dem Schlagwort »décadence« zu einer »Theorie« der literarischen Moderne verknüpft werden: der forcierte Abbau von mimetischen Funktionen, ›Dunkelheit‹ des Stils, Selbstreflexivität und sprachliche Selbstreferenz.

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Diese formalen und stilistischen Merkmale, die Kafitz an den ästhetischen Theorien der »Diskursivitätsbegründer« herausarbeitet, decken sich zum Einen mit Befunden, die Gotthart Wunberg in neueren Arbeiten zum Zusammenhang von ›Décadence‹-Semantik und modernen Textverfahren in den Vordergrund gestellt hat. 4 Anders als Wunberg allerdings (vgl. S. 10 f. und S. 145 f.), dem es eher um eine generalisierende Typologie moderner Textverfahren geht, verfolgt Kafitz einen ausdrücklich historisierenden Ansatz und plädiert dafür, den Begriff ›Décadence‹ der Beschreibung jener literarischen Texte vorzubehalten, die tatsächlich auf die Baudelaire-Gautier-Tradition und deren theoretische und konzeptuelle Vorgaben bezogen sind.

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Dieser historisierende Ansatz hat den Vorzug, daß er deutlich machen kann, daß ›Décadence‹ innerhalb der Ästhetik und Literatur des 19. Jahrhunderts eher eine Übergangssemantik darstellt und weniger eine emphatische Theorie der literarischen Moderne. Dies unterstreicht nicht zuletzt der von Kafitz mit besonderem Nachdruck herausgestellte Befund, daß auch in Frankreich der Begriff ›décadence‹ in dem Moment wieder in den Hintergrund tritt, als mit dem Begriff ›symbolisme‹ innerhalb der Ästhetik eine semantisch neutralere Beschreibungsalternative für dieselben sprachlichen und stilistischen Verfahren zur Verfügung steht.

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Ein weiterer wichtiger Ertrag dieses ersten Kapitels zur »Theorie« der »Décadence« – und darin ist bereits eine Erklärung für die in den folgenden Kapiteln erörterte Dynamik der Aneignung dieser »Theorie« im deutschen Sprachraum enthalten – ist der Nachweis, daß das entscheidendes Relais für die deutschsprachige Rezeption gar nicht die originäre Theoriebildung bei Baudelaire und Gautier ist. Aufgrund der späten, gegenüber Frankreich um wenigstens ein Jahrzehnt verschobenen Rezeption kommt in Deutschland den Schriften Paul Bourgets aus den 1880er Jahren die zentrale Vermittlerrolle zu.

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Eine entscheidende Weichenstellung ist mit dieser Vermittlung nach Kafitz Einschätzung deswegen verbunden, weil Bourget die genuin literarische »Theorie« der »Diskursivitätsbegründer« durch eine sozial-›psychologische‹ Perspektivierung – Kafitz spricht etwas mißverständlich von einer »Anthropologisierung« (S. 47) – überschreibt. Kafitz kann deutlich machen, daß diese Öffnung der literarischen Argumentation auf eine übergreifende kulturelle Perspektive für die »Theorie« der ›Décadence‹ durchaus zweischneidig ist: Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, die der semantischen Logik des Begriffs geschuldet zu sein scheint, (re)aktiviert die von Bourget vollzogene Öffnung der ästhetischen Begriffsbildung auf den kulturellen Kontext die – begriffsgeschichtlich ältere und negative – lexikalische Semantik von geschichtlichem und physiologischem Niedergang.

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Mit dieser Geschichte der ästhetischen »Theorie«, die Kafitz von Baudelaire bis Bourget für Frankreich rekonstruiert, sind im Wesentlichen bereits die argumentativen Möglichkeiten abgesteckt, die die in Frankreich ausgebildete »Theorie« der literarischen ›Décadence‹ bereitstellt. Abschließend verfolgt Kafitz in diesem ersten Kapitel die ›Übersetzung‹ der »Theorie« nach Deutschland durch die »Popularisatoren« (S. 15) Bahr und Nietzsche. Ausgehend von der Auswertung der Zeitschriftenliteratur gelangt Kafitz dabei zum Schluß, daß die Bedeutung Nietzsches als Vermittler der französischen »Theorie« der ›Décadence‹ in Forschung bei weitem überschätzt wird. »Fragt man nach dem Stellenwert der Reflexionen Nietzsches im deutschen Décadence-Diskurs der 90er Jahre, ist zunächst einmal entgegen verbreiteten Vorstellungen darauf hinzuweisen, daß er in diesem Rahmen nur eine geringe Rolle spielt.« (S. 86 f.). Der Abwertung Nietzsches steht bei Kafitz eine komplementäre Aufwertung Bahrs als dem maßgeblichen und in der zeitgenössischen Rezeption beachteten Vermittler der französischen ›Décadence‹-»Theorie« ins deutschsprachige Literatursystem gegenüber.

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Der Ertrag dieses Kapitels ersten Kapitels zur »Décadence als Theorie« ist in erster Linie in der synoptischen Zusammenschau der literaturprogrammatischen Theoriebildung seit Baudelaire und ihrer zentralen poetologischen Topoi zu sehen, die zugleich eine Reihe von Präzisierungen und Neuakzentuierungen erbringt, was die Positionen der einzelnen Autoren einerseits und der Kanäle der Popularisierung und Vermittlung nach Deutschland andererseits angeht. Als eigentlicher Ertrag von Kafitz Lektüren aber ist die ausgehend von diesen Befunden in den folgenden beiden Kapiteln geleistete Rekonstruktion und Dokumentation der internen Dynamik zu sehen, die diese begrifflichen und theoretischen Vorgaben aus Frankreich zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg innerhalb des deutschsprachigen Literatursystems entfalten.

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Feld-Forschung

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Es ist bekannt, daß die affirmative literarische Theoriebildung von ›Décadence‹ in der französischen Literatur der 1860er bis 1880er Jahre, sieht man von den kurzzeitigen Aktivitäten von »Bahr als Propagandisten« (S. 89) ab, in Deutschland über kein gleichwertiges Pendant verfügt. Kafitz kann demgegenüber einen überzeigenden Nachweis erbringen, daß diese Theorie- und Programmabstinenz keineswegs gleichbedeutend ist mit einer diskursiven Leerstelle. Dies wird deutlich an der – in dieser Breite so noch nie geleisteten Auswertung und Systematisierung der rund 500 Beiträgen aus den deutschsprachigen Literatur- und Kunstzeitschriften (Vgl. die Aufstellung auf S. 149 f.).

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Dieses Korpus nun perspektiviert Kafitz – anders als im ersten Kapitel zur »Theorie« – nicht mehr von den einzelnen Autorpoetiken her, sondern untersucht es in den Kapiteln zwei und drei als »diffuse[s] Feld« (S. 150) und als heterogen und dezentral zirkulierenden »Diskurs«:

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Unter Décadence-Diskurs wird im folgenden der Gebrauch des Wortes Décadence in Zeitschriftenartikeln und Monographien der Jahre 1890 bis 1914 verstanden. [...] es geht [...] um eine quantitative Aufschlüsselung im Sinne einer historischen Aussagenanalyse nach Michel Foucault. Die einzelne Äußerung wurde nicht auf ihre Originalität hin befragt, sondern als ›Element in einem Feld der Koexistenz‹ gelesen. [...]. Zu fragen ist, welche semantischen Zuschreibungen erfolgen, welche Assoziationen sich um den Begriff kristallisieren, welche Analogien und Oppositionen ihn kontextualisieren und zu seiner Stabilisierung oder zu seiner Problematisierung beitragen? (S. 149 f.)
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Der methodische Ertrag von Kafitz’ diskursgeschichtlicher Vorgehensweise wird in den Kapiteln zwei und drei besonders deutlich. Mit dem Instrumentarium der breit gestreuten Aussagenanalyse läßt sich zeigen, daß ein »Décadence-Diskurs« sich in Deutschland nach 1890 durchaus entfaltet und in der Folge den »Bezugshorizont für die deutschsprachige Begriffsdiskussion abgibt« (S. 12). Der entscheidende Unterschied – und er wird in der Tat erst vor dem Hintergrund eines umfangreichen Korpus’ in dieser Deutlichkeit sichtbar – ist hingegen in der Umakzentuierung innerhalb der dezentralen und von den Vorgaben der »Diskursivitätsbegründer« abgelösten Begrifflichkeit und Konzeptbildung zu sehen.

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Wie Kafitz herausarbeitet, wird im Diskurs der deutschsprachigen Literaturkritik ›Décadence‹ nicht nur auf andere Gegenbegriffe bezogen als in Frankreich – zu nennen ist hier insbesondere der Naturalismus (Vgl. S. 219–229); vor allem wird in Deutschland einseitig – und in vielen Fällen aus schierer Unvertrautheit mit der französischen »Theorie« – die begriffsgeschichtlich ältere lexikalische Bedeutungsschicht reaktiviert »im Sinne von Verfall und Niedergang, die zwar eine neutrale Verwendung zuläßt [...], die aber in der Regel mit zivilisationskritischen Konzepten verbunden wurde und damit eine Abwertung implizierte« (S. 283).

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Dagegen treten die formalen und stilistischen Semantiken der französischen »Theorie« nach einem kurzen Intermezzo (Bahr, Weigand, Christensen) zu Beginn der 1890er Jahre zugunsten von Verfallskonnotationen wieder weitgehend in den Hintergrund. Es dürfte wenig überraschen, daß diese semantische Umakzentuierung innerhalb des »Décadence-Diskurses« und die damit verbundene Verengung und Verkürzung der originären modernistischen Literatur-»Theorie« auf die thematische Darstellung von – meist negativ bewerteten – Verfalls- und Krankheitsprozessen vor allem von den Verfechtern einer traditionellen und antimodernistischen – und wie Kafitz herausstellt in eins damit in vielen Fällen auch antifranzösischen und national ausgerichteten – Ästhetik ausgeht (Bartels, March, Nordau).

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Bemerkenswerter ist die Tatsache, daß diese Umakzentuierung innerhalb der Logik des Begriffs ›Décadence‹ sich in Deutschland offensichtlich bereits früh, in den 1890ern, als so durchschlagend erweist, daß in der Folge auch Schriftsteller und Kritiker, die durchaus in der ästhetischen Tradition der »Formkunst« (Vgl. S. 268 – 280) Baudelairescher und Gautierscher Provenienz stehen, den Begriff ›Décadence‹ als positive Kategorie der literarischen (Selbst)Beschreibung spätestens seit der Jahrhundertwende preisgeben und im Gegenzug auf neutralere und unbelastetere Begriffe wie ›Symbolismus‹ oder ›Ästhetizismus‹ ausweichen.

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Dieser begrifflichen Ausweichbewegung der literarischen Moderne steht nach 1900 im deutschsprachigen »Diskurs« dann ein komplementärer Verlust – oder trivialer und kontingenter: das Vergessen und die schiere Unkenntnis – der originären form- und sprachanalytischen Bedeutungskomponenten des Begriffs in Frankreich gegenüber. Von hier schließt sich für Kafitz der Kreis zur gegenwärtigen »literaturwissenschaftlichen Erforschung der Décadence in Deutschland« (S. 285), deren überwiegend thematisch und motivliche Zugangsweise in der »Einleitung« Gegenstand der Kritik war und den Ausgangspunkt bildete für Kafitz’ Forderung nach einer stärker an sprachlichen und formalen Kriterien ausgerichteten Forschung.

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Zur Bestimmung der Décadence werden primär solche Merkmale angeführt, die im Rahmen des Décadence-Diskurses der 90er Jahre von kulturkonservativen und nationalistischen Kritikern zur Abwehr des Begriffs gebraucht wurden. Die Pejorisierung der Décadence (Décadence als Verfall und Entartung) sowie der als Beleg dafür aufgespießte Motivbereich der dekadenten Erotik einschließlich pikanter Frauentypen und exzentrischer Männergestalten [...] werden oft wie selbstverständlich als Objektkategorien der Décadence verstanden. Der latente Gegendiskurs der Décadence [gemeint ist die sprachkünstlerische, französische Tradition] ist dabei in Vergessenheit geraten. (S. 285)
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Dieser bedenkenswerte begriffs- und diskursgeschichtliche Befund wirft nun im Gegenzug die Frage auf, wie denn Lektüren literarischer Texte auszusehen hätten, die die von Kafitz skizzierte diskursgeschichtliche Verdrängungsarbeit rückgängig machen und die in der deutschsprachige Kritik nach 1900 diskreditierten, ursprüngliche und affirmative ästhetische »Theorie« der »Décadence« zum Bezugsrahmen für die Interpretation literarischer Texte der frühen Moderne machen würden. Der Beantwortung dieser Frage ist das abschließende, vierte Kapitel der Studie gewidmet.

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Applikationen

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Das paradoxe Ergebnis der historischen »Feld«-Analyse – einerseits das Ausweichen der die ›Décadence‹ affirmierenden Autoren auf alternative Begriffe (Symbolismus, Ästhetizismus) und die negative und thematisch-reduktive Aneignung des Begriffs durch eine antimodernistische Kritik andererseits – ist nun in der Tat dazu angetan, ein zentrales Dilemma der literaturwissenschaftlichen Forschung zur »Décadence in Deutschland« zu erhellen: Welche Texte lassen sich unter diesen Umständen überhaupt sinnvoller Weise mit dem Begriff ›Décadence‹ erfassen? Ist die programmatische Selbstbeschreibung der Verfasser ein notwendiges Kriterium? Ist die Rekurrenz bestimmter Sprach- und Textverfahren entscheidend? Oder soll doch die – von Kafitz als philologisch anspruchslos beanstandete – Rekurrenz von einschlägigen Themen, Figuren und Motiven als hinreichend gelten?

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Antworten auf diese – in der Tat zentralen und in der Forschung zu selten reflektierten – Fragen zu geben, unternimmt das letzte Kapitel, »Exkurse zur deutschen Literatur aus der Perspektive des Décadence-Diskurses«. Teilkapitel sind Heinrich und Thomas Mann, Hofmannsthal, Schnitzler, George und einer Reihe von heute weitgehend »vergessenen Lyrikern« (S. 475) der Jahrhundertwende gewidmet. Kafitz zieht auch hier die in der diskursarchäologischen Zugangsweise angelegte Konsequenz, ›Décadence‹ nicht von Neuem als abgegrenzte literarische Bewegung oder Schule zu substantialisieren, sondern sie als Beobachtungs- und Beschreibungsperspektive für Texte der frühen Moderne zu behandeln.

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Vor dem Hintergrund der in den voraufgehenden Kapiteln erarbeiteten Rekonstruktion von ›Décadence‹ als historischer Theorie- und Diskursgrammatik kann Kafitz’ Argumentation überzeugen, die Rekurrenz dieser Grammatik als entscheidendes Kriterium für eine Lektüre einzelner Texte und Werke aus der »Perspektive der Décadence« anzusetzen. Diese strukturbezogene Zugangsweise hat den großen Vorzug, daß sie auch dort greifen kann, wo Autoren bei grundsätzlicher Affinität die Begrifflichkeit der ›Décadence‹ – wenigstens in ihren zur Publikation bestimmten Texten – eher vermeiden (etwa George oder Hofmannsthal).

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Für die Lektüre der literarischen Texte selbst ergibt sich aus dieser Beschränkung allerdings ein eher minimalistisches Interpretationsprogramm. Kafitz rechnet – wenigstens bei den kanonischen und in der jeweiligen Spezialforschung gut erschlossenen Autoren wie Hofmannsthal, Thomas Mann oder Schnitzler – realistischerweise auch nicht auf spektakuläre neue Ergebnisse. Eher ist es ihm um eine historische Kontextualisierung der Texte und ihrer Bedeutungskonstitution zu tun. Für dieses letzte, wohl mit Bedacht betont zurückhaltend lediglich als »Exkurse« bezeichnete Kapitel läßt sich daher verallgemeinern, was Kafitz für das Frühwerk Thomas Manns als Ergebnis seiner Lektüren zusammenfaßt:

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Im ganzen vermag die Beachtung des Décadence-Diskurses zu einer Entmythisierung [...] beitragen, ferner zu einer Historisierung des literaturwissenschaftlichen Zugriffs, d. h. zu einer Überordnung der Positivität der Aussagen des zeitgenössischen literarischen Diskurses über ideengeschichtliche Interpretationen und biographistische Psychologisierungen. Dadurch mag das philosophisch-existentielle Aussagepotential der Werke an Gewicht verlieren, als Gewinn wäre allerdings ein größere Aufmerksamkeit für die sprachartistische Qualität der Texte zu erwarten. (S. 424)
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Insgesamt ist über dieses vierte der Lektüre literarischer Texte gewidmete Kapitel zu sagen, daß es sich eher um eine übersichtige Überprüfung und Präzisierung etablierter Interpretationsperspektiven am zuvor aufgearbeiteten begriffs- und diskursgeschichtlichen Material handelt, – noch – nicht jedoch um genuine interpretatorische Neueinsätze. Der Übergang von der Arbeit am Begriff zu der von Kafitz so nachdrücklich eingeforderten Arbeit am Text bleibt daher – ausgehend und unter Berücksichtigung des von Kafitz aufgearbeiteten Materials – von künftigen Arbeiten erst noch zu leisten.

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Ergebnisse und Perspektiven

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Ganz ohne Zweifel ist Kafitz’ Studie ein bedeutender Beitrag zur historischen Erforschung der »Décadence in Deutschland«, und künftige Forschungen zu diesem Gegenstand werden die Ergebnisse dieser Arbeit zu berücksichtigen haben. Zum einen macht Kafitz’ Analyse deutlich, daß unter dem Stichwort ›Décadence‹ in Deutschland überaus heterogene, mitunter gänzlich »konträre Bewertungssysteme« (S. 375) zirkulieren. Man wird daher künftig im Einzelfall noch sehr viel genauer danach zu fragen haben, welche der konkurrierenden Semantiken und Deutungsperspektiven von ›Décadence‹ ein Text eigentlich aktualisiert.

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Zum anderen wird eine Forschung, die den Gegenstand »Décadence in Deutschland« stärker von seiner »Formensprache« (S. 10) her zu perspektivieren sucht, in Kafitz’ Studie eine Reihe von bedenkenswerten historischen Anhaltspunkten und Argumenten finden. Neue Einsichten verspricht hier insbesondere eine weitere Auswertung des von Kafitz erfaßten Quellenmaterials aus den deutschsprachigen Literaturzeitschriften. Um so bedauerlicher sind die Hindernisse, die das Buch der Erschließung gerade dieses Textmaterials in den Weg stellt. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen werden die ausgewerteten Zeitschriftenbeiträge lediglich in den Fußnoten der Kapitel zwei und drei bibliographisch erfaßt, nicht aber im Literaturverzeichnis am Ende des Bandes (Vgl. S. 479). Zugleich verfügt das Buch über keinerlei Sach-, Werk- oder auch nur Namensregister. Das Auffinden von Einzelbeiträgen, wiederholt und in mehreren Kapiteln behandelten Sachaspekten, Einzeltexten und Autoren wird so unnötig erschwert.

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Die Bedeutung von Kafitz’ Studie steht ganz außer Frage. In Anbetracht des vehementen und oft polemischem Plädoyers für eine systematische Neuausrichtung der deutschsprachigen Forschung am Leitfaden des rekonstruierten »sprachkünstlerischen« Konzepts von ›Décadence‹ ist allerdings auch auf die systematischen Ausschlüsse und Begrenzungen des Untersuchungsfeldes hinzuweisen, die sich aus der von Kafitz favorisierten Untersuchungsperspektive ergeben. Kafitz’ Thesenbildung und Kritik verdanken ihre Stringenz nicht zuletzt der Vorentscheidung, den Begriff ›Décadence‹ der Beschreibung der literarischen Theoriebildung und Diskursivität in der Tradition der »Formkunst« vorzubehalten.

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Diese Vorentscheidung ist vor dem Hintergrund der Desiderate der deutschsprachigen Forschung zu sehen, und hier gelingt es Kafitz mit seiner Studie in der Tat, eine große »literaturwissenschaftliche [...] Leerstelle« (S. 14) zu schließen. Dieses Vorgehen reißt aber auch neue Lücken auf, und man wird daher danach fragen müssen, welche Aspekte und Bereiche des historischen Diskursphänomens ›Décadence‹ durch die von Kafitz vorgeschlagene formalanalytische Neukonturierung ihrerseits aus dem Bereich der Analyse ausgeschlossen werden. Vor allem ein gravierender Ausschluß ist hier zu nennen: Was in Kafitz’ Argumentation keinen Ort mehr findet, ist die als »reduktiv« und inhaltistisch zurückgewiesene Konzeptualisierung von ›Décadence‹ als kulturgeschichtliches und pathologisches Verfallsgeschehen, die im deutschsprachigen »Décadence-Diskurs« so ausgeprägt ist.

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In die Zurückweisung dieser Konzeptualisierung von ›Décadence‹ spielt bei Kafitz erkennbar eine – mit dem Gestus des neutralen Diskursarchäologen letztlich kaum zu vereinbarende – persönliche Abneigung hinein. So verbreitet dieser Aversion in der deutschsprachigen Forschung – aus wiederum historischen Gründen – sein mag, so sehr steht sie doch im Widerspruch zu den Ergebnissen der breit angelegten Korpusanalyse. Denn diese macht deutlich, daß vielleicht in eben dieser »Umwertung« (S. 147) des originären literarischen Décadencekonzepts aus Frankreich zu einem kulturgeschichtlichen Interpretament – und weniger in den letztlich erfolglosen Bemühungen um die adäquate Vermittlung der ästhetischen »Theorie« – der spezifische Beitrag der deutschsprachigen Literatur und Kritik zum gesamteuropäischen Diskursphänomen ›Décadence‹ in der frühen Moderne zu sehen ist.

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Will man im Zuge einer – der Sache nach gebotenen – stärker sprach- und formanalytischen Neuausrichtung der Forschung zur »Décadence in Deutschland« diesen offensichtlich zentralen und dominanten Bereich nicht zur Gänze als Forschungsgegenstand preisgeben, so wird man innerhalb eines formalen und sprachbezogenen Paradigmas nach alternativen Perspektivierungsmöglichkeiten fragen müssen. Hier ist insbesondere danach zu fragen, ob es denn überhaupt zutreffend ist, daß die in Deutschland historisch so dominante Auslegung von ›Décadence‹ als geschichtliches Niedergangs- und Krankheitsgeschehen von vorneherein eine überwiegend thematische und inhaltsbezogene Untersuchungsperspektive präjudiziert.

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Daß ein solcher Zusammenhang – anders als von Kafitz und der älteren Forschung unterstellt – keineswegs zwingend ist, legt eine Reihe von neueren Forschungsbeiträgen zur ›Décadence‹ nahe, die sich wie Kafitz auch den methodischen Ansätzen der Foucaultschen Diskursarchäologie bzw. deren Aneignungen im New Historicism verpflichtet zeigen. In ihrem erklärten Ausgehen von den Formen der sprachlichen Aussagen können diese Beiträge deutlich machen, daß auch Auslegungen von ›Décadence‹ als kulturgeschichtliches oder physiologisches Verfalls- und Niedergangsgeschehen nicht ohne spezifische sprachliche Verfahren denkbar sind und ihrerseits eine spezifische »Formensprache« (S. 10) ausbilden.

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So stellt Charles Bernheimer in seiner Studie Decadent Subjects die rhetorischen und tropologischen Verfahren ins Zentrum, mit denen die medizinische und kulturgeschichtlichen Rede von der ›Décadence‹ im späten 19. Jahrhundert operiert. 5 Walter Erhart spricht sich im Zuge einer »Poetik der Kultur« dafür aus, die literaturwissenschaftliche Forschung zur ›Décadence‹ auf die Wissenschafts- und Medizingeschichte der frühen Moderne zu öffnen und stellt als vermittelnde formale Struktur zwischen den Wissenschaftsdiskursen und der Literatur das »narrative Element« heraus, das in all jenen Konzeptualisierungen von ›Décadence‹ besonders ausgeprägt ist, in denen die temporale und geschichtliche Semantik akzentuiert wird. 6

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Geht man diesen Hinweisen auf die spezifischen rhetorischen und narrativen Formen nach, die sich auch in der auf den ersten Blick eher literatur- und ästhetikfernen Teilbereichen des deutschsprachigen »Décadence-Diskurses« nachweisen lassen, so zeichnet sich – jenseits von Thematismus und Motivgeschichte – auch hier ein genuin sprach- und formanalytische Untersuchungsfeld ab, das es verdient hat, mit ähnlicher philologischer Genauigkeit rekonstruiert zu werden, wie Kafitz dies für die »Formkunst« mit der vorliegenden Studie bereits geleistet hat.



Anmerkungen

Wolfdietrich Rasch: Die literarische Décadence um 1900. München: C.H. Beck 1986, S. 13 und S. 12 [Hervorh. C.P.].   zurück
S. Maria Moog-Grünewald: Poetik der Décadence – eine Poetik der Moderne. In: R. Warning / W. Wehle (Hg.): Fin de Siècle (Romanistisches Kolloquium, Bd. 10) München: Fink 2002, S. 165–194 und Roger Bauer: Die schöne décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons (Das Abendland NF, Bd. 28) Frankfurt / M.: Klostermann 2001.   zurück
Moog-Grünewald (Anm. 2), S. 167.   zurück
Gotthart Wunberg: Historismus, Lexemautonomie und Fin de Siècle. In: Arcadia 30 (1995), S. 31–61 und Moritz Baßler / Christoph Brecht / Dirk Niefanger / Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs. Tübingen: Niemeyer 1996.   zurück
Charles Bernheimer: Decadent Subjects. The Idea of Decadence in Art, Literature, Philosophy, and Culture of the Fin de Siècle in Europe. Hg. von J. Kline und N. Schor. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2002.   zurück
Walter Erhart: Die Wissenschaft vom Geschlecht und die Literatur der décadence. In: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 256–284, hier: S. 262.    zurück