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»Ein geselliger Mensch giebt einem jeden Gelegenheit sich zu zeigen«

  • Wolfgang Adam / Markus Fauser / Ute Pott (Hg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 4) Göttingen: Wallstein 2005. 332 S. 1 Abb. Kartoniert. EUR (D) 32,00.
    ISBN: 3-89244-833-7.
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»Geselligkeit und Bibliothek« – ein solcher Titel weckt Neugierde, ist doch die Bibliothek im allgemeinen Verstande nicht gerade jener Ort, der zu geselligem Umgang einlädt. Eher gilt sie als eine Institution, deren matt erleuchtete Lesesäle zu individuellem Lesevergnügen auffordern, von dem allenthalben ein nicht völlig unterdrückter Lacher oder Seufzer künden, wobei der so sich Äußernde die mißfälligen Blicke der über anderen Büchern sitzenden Leser in Kauf nehmen muß. Auch kann man sich der Bibliothek zu heimischem Gebrauch bedienen, wobei ebenfalls der individuelle Lesegenuß im Vordergrund steht – allerdings mit dem Vorteil, daß der Genießende sich unbehelligt seiner Lacher und Seufzer entledigen kann. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Klagen ob solcher Isolierungen der Leserschaft immer lauter artikuliert. So meinte der hallesche Ästhetiker Georg Friedrich Meier: »Man kann die Anständigkeit und Freyheit der Sitten weder aus Büchern, noch durch den mündlichen Unterricht, noch durch die Gelehrsamkeit, noch durch das eigene Nachdenken in seine Gewalt bekommen. Sondern«, und damit verweist er auf ein dringliches Erfordernis der Zeit, »der blosse Umgang artiger Leute ist die Schule der Ehrbarkeit und des anständigen freyen Wesens.« 1

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Die hier vorgelegte Publikation weist nach, daß sich Geselligkeit und Bibliothek durchaus in einen Zusammenhang bringen lassen. Auch Meier, der die Vereinzelung des Lesers beklagte, wußte natürlich um die gesellige Wirkung von Autoren, Verlegern, Buchdruckern, Buchhändlern und Bibliothekaren. Deren Produkte, Bücher also, seien in der Lage, Personen, »die dem Orte nach sehr weit voneinander entfernet sind, in eine genaue gesellige Verbindung« zu bringen. 2 Markus Fauser stellt denn auch in seinen einleitenden Bemerkungen zu dem Projekt drei Bereiche vor, die, nicht in Gänze, aber doch substantiell, den Rahmen ausmachen, in dem die Themenstellung behandelt werden könne: einen soziologischen, einen medialen und einen anthropologischen. Geselligkeit, so betont er mit Recht, sei kein »eindeutig faßbarer Begriff«, sondern eher ein »Sammelbegriff für unterschiedliche Sozialitätsformen« (S. 15).

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Zu fragen wäre demzufolge, »wie das Zusammenspiel dieser Ebenen funktionierte« (S. 16)? Soziologisch betrachtet ließe sich die Problematik »als eine Abfolge von Intellektuellengenerationen beschreiben, die jeweils durch eine nachdrückliche Entwertung der Erfahrungen vorangegangener Generationen geprägt war«. Ergänzt man diese durch den »Medienaspekt«, zeigt sich, daß sich »Geselligkeit und Lesekultur [...] kaum linear, sondern im Verhältnis zu den jeweils produzierten oder zur Verfügung stehenden Medien [entwickeln]« (S. 18). Wobei zu berücksichtigen sei, daß »die regionale und urbane Vielfalt der Geselligkeiten wohl aus einer im 18. Jahrhundert beschleunigten Multiplikation von Unterhaltungskulturen hervorgeht« (S. 18 f.).

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Schließlich verweist Fauser auf den anthropologischen Aspekt, der im Hinblick auf die Geselligkeitstheorie im 18. Jahrhundert in der jüngeren Forschung einen »Aufschwung« erlebte, indem auf »den engen Zusammenhang von Psychologie, Lebensphilosophie, Medizin und Pädagogik« (S. 23) verwiesen und dieser thematisiert wurde; dabei fanden diese ihren »geheimen Fluchtpunkt auch in der Ästhetik« (S. 25). Am Ende, so der Wunsch Fausers, könne mit dem »Brückenschlag zwischen der Alltagsästhetik der Popularphilosophen und der ästhetischen Theorie im engeren Sinne« eine »Kommunikationsgeschichte der Geselligkeit im 18. Jahrhundert« entstehen, »die zu einer grundlegenden Neueinschätzung der Sattelzeit beitragen und die Modernität der Epoche festlegen könnte« (S. 26).

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Geselligkeit
und Lesekultur

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Am Anfang dieser Sektion steht der Aufsatz von Emilio Bonfatti, der sich dem Briefwechsel zwischen Gleim und Lessing widmet und diesen als einen einseitigen literarischen Briefwechsel herausstellt, in dem Lessing als Sachwalter Gleimscher Texte auftritt und in dem Lessings literarische Ambitionen dem Halberstädter weitgehend vorenthalten bleiben.

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Ausgehend von dem ›Verriß‹ der Gedichte Gottfried August Bürgers durch Friedrich Schiller in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung widmet sich Wolfgang Braungart einer Umbruchsituation innerhalb der literarischen Kommunikation in Deutschland, die in den siebziger Jahren zu konstatieren ist. Bürgers Programm der Volkspoesie, gegen das Schiller später polemisiert, war noch stark an einer »Ästhetik der Mündlichkeit« ausgerichtet, die einer »literarische[n] Geselligkeit« (S. 50) bedarf, im Falle Bürgers: der des Göttinger Hainbundes. Hier konnte, im Ambiente einer »kritische[n] Produktionsgemeinschaft« (S. 48), ein literarisches Meisterwerk wie die Ballade Lenore entstehen. Der Erfolg, den Bürger mit dieser Ballade erzielte, verführte ihn dazu, das Muster in seinem Balladenschaffen immer wieder zu bemühen. Bürger wurde zum »Epigonen seiner selbst« (S. 46). Braungart fragt nach der Ursache für diese Schaffensweise und antwortet mit einer interessanten These: Die sich in den siebziger Jahren etablierende Sturm- und Drang-Poetik setzte nicht mehr auf die abgegrenzte Gruppe als Medium für die Hervorbringung literarischer Texte, sondern vielmehr auf die ungesellige individuelle Kunstleistung, die ihre Steigerung durch eine fortwährende Überbietung erfährt. »Jede neue künstlerische Handlung wird zum Tod der ihr vorausliegenden«, eine solche Ästhetik »forciert das immer schnellere Altern von Kultur« (S. 52). Diesem neuen Anspruch konnte die Programmatik der Volkspoesie Bürgerscher Prägung, die ja gerade die Authentizität eines »idealisierten Volkskörper[s]« nachzuahmen suchte, also nicht das »Autorsubjekt« (S. 51) in den Vordergrund stellte, nicht gerecht werden. Daran scheiterte Bürger.

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Das intertextuelle Motiv der Lektüre und des Lektüreverhaltens von Romanhelden stellt Gonthier-Louis Fink in den Vordergrund seiner Überlegungen zum empfindsamen europäischen Roman des 18. Jahrhunderts. Dabei konstatiert er eine Änderung im Übergang vom Roman der frühen Aufklärung zum empfindsamen Roman. War es den Romanciers in der frühen Aufklärung noch relativ gleichgültig, was oder wie ihre Helden lesen, weisen die empfindsamen Romane deutliche Neuansätze auf. Der Leser wird mit unterschiedlichsten Leseintentionen konfrontiert und erfährt, daß die Wahl des Buches ein »zusätzliches Mittel der Charakterisierung der Protagonisten« (S. 80) sein kann. So etwa in Prévosts Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut; oder aber in Rousseaus Nouvelle Héloïse, wo Zitate aus römischen Klassikern nicht in den »Dienst der Empfindsamkeit« gestellt werden, vielmehr sollen diese vornehmlich »durch die fremde Sprache und die klassische Verskunst« eine »Distanz gegenüber der verwirrenden Liebe« (S. 103) zwischen Héloïse und Saint-Preux herstellen.

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In Goethes Werther erkennt Fink drei unterschiedene Arten des Umgangs mit Literatur: Einerseits dienen hier Autoren und Werke als »Mittel der Charakterisierung oder der Kommunikation«, andererseits werden sie genutzt, um eine »Analogie zwischen der Situation des Protagonisten und der eines literarischen Helden« aufzuzeigen. Drittens schließlich biete der Roman längere »Auszüge eines Werks«, die von den Liebenden durch »gemeinsame Lektüre« genossen werden, und »deren Rückwirkung auf die beiden Rezipienten« (S. 104) subtile Auskünfte über die Seelenverfassung Lottes und Werthers geben. Goethes Roman markiere hinsichtlich der Behandlung des intertextuellen Motivs ›Lektüre‹ einen nicht wieder erreichten Höhepunkt im europäischen Roman des 18. Jahrhunderts.

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Auf Lektüreweisen und -vorlieben von Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland, die ihrem Briefwechsel zu entnehmen sind, geht Gunter E. Grimm ein. Bei ihr lasse sich eine »Tendenz zur Identifizierung« mit bestimmten Figuren feststellen, während Herder eher als ein rationaler Leser zu qualifizieren ist, dessen »Blick auf die ästhetische Struktur« (S. 128) des jeweiligen Werkes gerichtet sei. Dabei deutet Grimm den Briefwechsel als einen Selbstverständigungsprozeß, in dem der Blick der Schreibenden auf eine künftige Heirat eine nicht unwesentliche Rolle spielt.

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Herder schätzt die tugendhaften und opferbereiten Dulder, Caroline bevorzugt die großgearteten Täter; Herder liebt die leidenden unschuldigen Frauen, Caroline achtet mehr die eigenständigen Frauen. In der bevorzugten Idealgestalt findet sich die jeweilige Wunschprojektion des künftigen Partners. Herders Bekehrungskampagne erreichte nicht immer ihr Ziel: die Frau einzustimmen auf ihre Aufgabe als ›zweite Geige‹ im heimischen Konzert. (S. 129)
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Unter der Hand werde der gesellige Briefwechsel »zum Liebesroman«, zum Testfall für eine mögliche gemeinsame Lebensführung. »Allen Widerständen und allen Mißverständnissen zum Trotz erschreiben sich die beiden Briefpartner geradezu eine Liebesheirat, setzen die Ideale der von ihnen hochgeschätzten Literatur ins eigene Leben um« (S. 129).

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Dem vielfach beschworenen Diktum, daß die Lyrikrezeption im 18. Jahrhundert eher ein Hör- denn ein Leseerlebnis war, widerspricht Johann Nikolaus Schneider. Gerade Klopstocks Odendichtung sei so strukturiert, daß sie eher durch eindringliches Lesen als durch Hören verstanden wird. So stehe beispielsweise die Teone »ambivalent zwischen Lesetext und Hörerlebnis« und führe deshalb die seinerzeit aufgestellten Forderungen nach »Wiederherstellung von Mündlichkeit« ad absurdum (S. 148). In Anlehnung an Leif Ludwig Albertsen 3 hält Schneider eine »graphische Anordnung der Wörter als ästhetisch relevante Ebene des Gedichtes« für überlegenswert (S. 147). »Jenseits von Lesetext und akustischem Ereignis etabliert sich [...] der Seh-Text als dritte Variante ästhetischer Wahrnehmung« (S. 148).

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Institutionen
und Medien

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Daß auch der isolierte Lesegenuß eine gesellige Funktion haben kann, verdeutlicht Rosmarie Zeller am Beispiel Ulrich Bräkers. »Lesen ist bei Bräker nicht Ersatz für fehlende Geselligkeit, sondern es ist selbst ein Akt der Geselligkeit« (S. 152). Anhand seiner Tagebuchnotizen weist Zeller nach, daß der Schweizer Autodidakt die fiktive Unterhaltung mit einem Buch oder dessen Verfasser weitaus mehr schätzte als die mit Personen aus seiner näheren Umgebung, die seinen Problemen verständnislos begegneten. Lektüre war deshalb für ihn »eine Art Flucht aus der Wirklichkeit«, die für Zeitgenossen seinesgleichen keine anderen Fluchtpunkte bereit hielt (S. 164).

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Anhand des Briefwechsels zwischen Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Karl Wilhelm Ramler und Johann Peter Uz versucht Peter J. Brenner eine neue Sicht auf die »Freundschaftskonzeption« der Teilnehmer zu entwickeln. Diese sei nicht mehr der Empfindsamkeit verpflichtet, zu stark träte hier »das Moment der Kalkulation und der stilistischen Inszenierung« in den Vordergrund (S. 183). An die Stelle des im Freundeskreis gepflegten Gedankenaustauschs rücke eine bewußt initiierte »Entkörperlichung und Entmaterialisierung«, die die »soziale Exterritorialität« geradezu provoziere. Diese sei einem »absoluten Exklusivitätsanspruch«, einer Hermetik verpflichtet, die sich dem Zutritt von »Außenseiter[n], zu denen etwa Ehefrauen gehören können«, verweigere (S. 184). Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß solche Aspekte hier eine Rolle spielen. Es ließen sich jedoch auch eine Reihe von Gegenbeispielen anführen, die diese These in Frage stellen. Zu denken wäre an die inständigen Bitten Gleims, Uz möge sich mit Ewald Christian von Kleist in Verbindung setzen. Uz kam dem Wunsch nach – und brach nach geraumer Zeit die Korrespondenz wieder ab: offenbar, weil eine persönliche Bekanntschaft beider nicht zustande kam – wie Kleist vermutete: »Es ist doch nur eine halbe und interessirte Freundschaft, wenn man sich nicht persönlich kennt und Umgang mit einander gehabt hat.« 4

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Daß auch Ehefrauen in diese »Freundschaftskonzeption« passen können, verdeutlicht die Gattin von Samuel Gotthold Lange, die ›Doris‹, der im Laublinger Dichterkreis und in den Briefwechseln ein nicht unwesentlicher Platz eingeräumt wurde.

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Ähnliches läßt sich auch von der »physische[n] Absenz und Distanz« sagen, die diese, so, Brenner, veränderte »Freundschaftskonzeption« erforderlich mache (S. 184). Auch hier muß differenziert werden. Kleist schreibt an Gleim: »Er [Uz, H.-J. K.] ist der unglücklichste unter unsrer ganzen Bande von Freunden, weil er Ihren Umgang am Wenigsten hat«. 5 Ramler besuchte Gleim des öfteren in Halberstadt, Gleim erwiderte die Besuche, wenn er in Berlin weilte. Oder: Die Freundschaft Gleims zu dem in Halle weilenden Johann Georg Jacobi lebte nicht nur von den Briefwechseln. Jacobi machte Gleim die Aufwartung, wenn dieser in Bad Lauchstädt weilte, umgekehrt reiste dieser des öfteren nach Halberstadt – auf Kosten Gleims. Schließlich ließ er sich gänzlich in der Nähe Gleims nieder, wobei Gleim die »physische Absenz« des Freundes, der sich häufig von Halberstadt aus auf längere Reisen begab, bitter beklagte.

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Barbara Becker-Cantarino untersucht die Lektüre in den Schriften von Sophie La Roche und stellt fest, daß diese wenig systematisierend, auch nicht extensiv, sondern vielmehr intensiv-exzerpierend erfolgte. Zusammenfassend könne gesagt werden: »Ihre Lektüren und Lektüreanleitungen sind programmatisch für die Bildung und Literarisierung von Frauen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« (S. 214).

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Zwar kommt der Bereich ›Institutionen und Medien‹ insgesamt ein wenig zu kurz, doch wird dieser Mangel durch Hinweise in Beiträgen der anderen Sektionen kompensiert; eine deutlicher strukturierte Auswahl wäre jedoch wünschenswert gewesen.

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Bibliothek
und Lesekultur

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Giulia Cantaruttis Beitrag handelt von der Bibliothek des 1792 verstorbenen römischen Gelehrten Gian Cristoforo Amaduzzi, der für den »deutsch-italienischen Kulturtransfer« des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung war (S. 225). Insbesondere durch die Propagierung der Idyllen Salomon Geßners bereitete Amaduzzi dem Dichter den Boden für eine nachhaltige Rezeption in Italien. Die Idyllen Geßners wurden im geselligen Kreis der italienischen Aufklärer verstanden als eine Gegenposition zu den »extrem korrupten Sitten des römischen Hofes« (S. 249).

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Von einer »virtuelle[n] Bibliothek« ist in Elena Agazzis Ausführungen die Rede (S. 254). Gemeint ist die der Brüder Schlegel, die sich aus den Rezensionen der Brüder in der Zeitschrift Athenaeum, aus Gesprächen, Briefen und Essays zusammenstellen ließe und die insgesamt großen Einfluß auf den Literaturkanon der frühen romantischen Bewegung ausübte.

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Daß sich die Geselligkeitsformen im Zuge dieser Bewegung veränderten, weist Peter Seibert anhand zweier kleiner, weithin unbekannter Texte aus der Feder Ludwig Tiecks nach. Beide handeln von der Produktion beziehungsweise der Rezeption von Literatur, beide nutzen aufklärerische Topoi und hinterfragen diese angesichts neuer Bedingungen für die Entstehung und Verbreitung von Literatur. Ein Roman in Briefen schildert die »gesellige Entstehung eines literarischen Kunstwerks«, eben eines Briefromans, in einer literarischen Gesellschaft (S. 272). Um der Versuchung, sich literarischer Muster zu bedienen, zu entgehen, mischt der Hauptinitiator der Veranstaltung authentische Briefe von Teilnehmern der Runde unter deren fiktive Texte – ohne sie davon in Kenntnis zu setzen. »Fakt und Fiktion werden durchmischt«, sind nicht mehr unterscheidbar (S. 274). Empört zerreißen die Teilnehmer ihre privaten Briefe, verzichten damit auf die Öffentlichkeit von Literatur, um ihre private »Geselligkeit garantieren zu können« (S. 275).

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Anders in der Gelehrten Gesellschaft. Hier entsteht ein Gedicht in der Einsamkeit des Studierzimmers. Sein Dichter trägt dieses in einem Freundeskreis vor, nutzt also die private Kommunikationsform, an der sich sein »Dichterselbstverständnis« ausgebildet hat (S. 276). Die Ästhetik des Textes folgt jedoch nicht mehr den Regeln der dort gepflegten Gelehrtenpoesie, sondern versucht, innovative Momente wirksam werden zu lassen. Der Autor fühlt sich deshalb bemüßigt, dem Publikum seine Schreibintentionen vor der Lesung mitzuteilen. Dieses, äußerst heterogen zusammengesetzt, reagiert entsprechend verständnislos, inszeniert ein Gespräch, in dem es nicht mehr um den vorgetragenen Text geht. Dieser dient lediglich als »Projektionsfläche eigener Egozentrik« (S. 279). Eine Umbruchsituation deutet sich hier also an: Die obsolet gewordene private Kommunikationsform von Poesie muß durch andere Kommunikationsformen ersetzt werden, beispielsweise durch die Nutzung des literarischen Marktes. Dies bedeutet freilich, daß Produktion, Distribution und Rezeption völlig anderen Gesetzen zu folgen haben.

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Auf eine solche veränderte Situation innerhalb des Literaturbetriebs im ausgehenden 18. Jahrhundert verweist York-Gothart Mix. Er stellt eine Differenzierung innerhalb der Literaturkritik fest. War diese bislang bestrebt, möglichst viele Werke und Autoren mit Rezensionen zu bedienen, das heißt ein möglichst vollständiges Bild der Literaturgesellschaft zu zeichnen, seien nunmehr, unter den Auspizien eines expandierenden Literaturmarktes, Tendenzen, »zwischen anrüchiger Fabrikware und den für rezensionswürdig gehaltenen Werken« zu differenzieren, in der Literaturkritik spürbar: »Geltungsansprüche von Autoren werden von den Leitmedien propagiert oder gezielt negiert«. Als eines jener Medien, das sich »die kompromißlose Scheidung von Kunst und Nichtkunst sowie die Aufwertung der Kritik zur exegetischen Instanz« zum Ziel gesetzt hatte, kennzeichnet Mix die Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung (S. 303). Die von Braungart bereits angedeutete Kontroverse zwischen Schiller und Bürger interpretiert Mix als ein signifikantes Zeichen jenes Differenzierungsprozesses. Schiller mußte Bürger als einen unliebsamen Konkurrenten auf dem Literaturmarkt empfinden, den es zu vernichten galt. Seine Rezension Über Bürgers Gedichte gehöre zu jenen »Diskreditierungen und von der Literaturkritik inszenierten symbolischen Morden, die darauf abzielen, dem Gros der Konkurrenten die Existenz und Integrität als ernstzunehmende Autoren abzusprechen und sie ein für allemal als Lohnschriftsteller abzustempeln« (S. 309).

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Am Ende der Publikation werden, gewissermaßen resümierend, »Geselligkeit und Bibliothek« in einen Zusammenhang gebracht. Es geht um Johann Peter Uzens gesellige Verbindungen in seiner Heimatstadt Ansbach. Entgegen der in der Forschung häufig vertretenen Auffassung, daß sich Uz in Ansbach einer bedrückenden geselligen Situation ausgesetzt sah, zeichnet Ernst Rohmer ein Bild, das die Stimmigkeit dieser These in Frage stellt. Die Zusammenkünfte in der Bibliothek des Hofkammerrats Georg Ludwig Hirsch, an denen anfangs auch der früh verstorbene Dichter Johann Friedrich von Cronegk teilnahm, bekamen bald das Ambiente einer gelehrten Geselligkeit, in der ein »konservativer Geist« heimisch war. Gemeinsame Horaz-Übersetzungen trugen »zur Ausbildung einer Gruppenidentität bei den an der Übersetzung beteiligten Personen« bei (S. 329). Die Treffen können als ein »Gegenentwurf zur vom Hof geprägten Lebenswelt der Residenzstadt Ansbach« gesehen werden (S. 331). Darüber hinaus waren diese für die Entwicklung des geistigen Lebens dieser Stadt (Erarbeitung des Ansbacher Gesangbuchs, Gymnasium) von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

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Die Publikation ist der Protokollband einer Tagung im Gleimhaus Halberstadt, die im November 2000 unter dem gleichen Titel stattfand. Beginnend mit einer Veranstaltung zu Lessing und Spinoza, die das Germanistische Institut der Martin-Luther-Universität bereits 1980 zusammen mit dem Gleimhaus initiierte – und der sporadisch weitere Tagungen folgten –, 6 stellt diese museale Stätte ab 1999 jährlich ein Forschungs-Kolloquium bereit, für dessen Vorbereitung und Leitung Wissenschaftler verschiedener Disziplinen verantwortlich zeichnen. Behandelt werden vornehmlich Forschungsdesiderata, die im Zusammenhang mit Fragen der mitteldeutschen Spätaufklärung und deren Ausbreitung stehen. Verständlicherweise wird dabei dem genius loci, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dessen Bibliothek, die Brief- und Bildnissammlung bieten einmalige Quellen zur Kultur der deutschen Spätaufklärung.

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Auch der vorliegende Sammelband demonstriert die Ergiebigkeit des Halberstädter Forschungs- und Tagungskonzepts und steht in einer eindrucksvollen Kontinuität. 7 Es ist zu wünschen, daß diese Kontinuität von Stetigkeit begleitet wird.



Anmerkungen

[Georg Friedrich Meier]: Über eine Musikgesellschaft in Halle. In: Der Mensch. Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Martens. Teil 12 (1756), 458. Stück. Hildesheim u.a., S. 63 f.   zurück
[Georg Friedrich Meier]: Nutzen des Buchhandels zum geselligen Leben. In: Der Gesellige (Anm. 1), 47. Stück, S. 388.   zurück
Leif Ludwig Albertsen: Die freien Rhythmen. Rationale Bemerkungen im allgemeinen und zu Klopstock. Aarhus 1971, S. 138–149.   zurück
Kleist an Gleim, 9.2.1755, zit. nach: Ewald v. Kleist: Werke. Hg. u. m. Anm. von August Sauer. 2. Tl.: Briefe von Kleist. Berlin o. J. [Ndr. Bern 1968], S. 281.   zurück
Kleist an Gleim, 6.6.1751; ebd., S. 198.   zurück
Vgl. Thomas Höhle (Hg.): Wieland-Kolloquium Halberstadt 1983. Halle 1985; T. H. (Hg.): Reiseliteratur im Umfeld der Französischen Revolution (Kongreß und Tagungsberichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) Halle 1987; T. H. (Hg.): Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung (Kongreß und Tagungsberichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) Halle 1988; Hans-Joachim Kertscher (Hg.): G. A. Bürger und J. W. L. Gleim (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 3) Tübingen 1996.   zurück
Vgl. Laurenz Lütteken / Carsten Zelle (Hg.): Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 2) Göttingen 2003; Achim Aurnhammer et al. (Hg.): Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung (Frühe Neuzeit 98) Tübingen 2004; Manfred Beetz / Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Anakreontische Aufklärung (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 28) Tübingen 2005.   zurück