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Vorschläge zur Fundierung des
topographical turn

Die Münchner Arbeitsgruppe Raum - Körper - Medium
stellt ihre Ergebnisse vor

  • Jörg Dünne / Hermann Doetsch / Roger Lüdeke (Hg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 360 S. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 3-8260-2842-2.

Inhalt des Bandes

I. Raum – Körper – Medium

Hermann Doetsch: Intervall. Überlegungen zu einer Theorie von Räumlichkeit und Medialität

Andreas Mahler: Semiosphäre und kognitive Matrix. Anthropologische Thesen

II. Räumlichkeit und Schriftkultur

Jörg Dünne: Pilgerkörper – Pilgertexte. Zur Medialität der Raumkonstitution in Mittelalter und früher Neuzeit

Kirsten Kramer: Frühneuzeitliche Räume des Visuellen: Zur Medialität des Spiegels in Garcilaso de la Vegas Égloga II

Inken Schmidt-Voges: Raum als Kategorie der frühneuzeitlichen Ständegeschichte. Das Herzogtum Bremen als Beispiel

Roger Lüdeke: Zum Schrifttum von William Blakes Song of Experience: »Introduction«

Thomas Stöber: Stendhals Auto-Graphie. Handschrift und Schriftraum im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit

Wolfram Nitsch: Vom Mikrokosmos zum Knotenpunkt. Raum in der Kulturanthropologie Leroi-Gourhans und in Balzacs Ferragus

III. Räume und technische Medien

Matei Chihaia: Spektrale Räume des Stummfilms in der argentinischen Avantgarde

Sabine Friedrich: Die Dynamisierung mythischer Räume im Zeichen technischer Medien. Strukturen avantgardistischer Raummodelle am Beispiel von Pedro Salinas’ Filmlyrik

Caroline Pross: »Hier ist der Apparat.« Von der Ästhetik des Mediums zur Sprache der Kommunikation: Brechts Hörspiel Der Flug der Lindberghs

Rainer Zuch: Bildraum vs. Räumlichkeit im Bild. Der Zusammenhang der Raumdarstellung in der bildenden Kunst mit der ›Weltanschauung‹

Victor Andrés Ferretti: Der hypostasierte Raum in David Lynchs Mulholland Drive

Dietrich Scholler: Raum und Hypertextliteratur: Miguel Angel Garcías Hyper-Erzählung Border Line

Florian Leitner: Computerspiele und die Räume der postorganischen Theatralität

[1] 

Nachdem in den Kulturwissenschaften der achtziger und frühen neunziger Jahre die Neukonzeption des Körpers Priorität hatte, ist seit einiger Zeit an dessen Stelle der Raum als Matrix der Theoriebildung getreten. Vor bald zehn Jahren schon bemerkte Georg Christoph Tholen bezüglich der Tendenzen innerhalb der Kultur- und Medienanthropologie, der Raum habe »zur Zeit Konjunktur«. 1 Im Jahr 2002 prägte Sigrid Weigel den viel zitierten Begriff des topographical turn der Kulturwissenschaften, und kurz darauf zog Karl Schlögel nach und rief den spatial turn der Geschichtswissenschaften aus. 2

[2] 

Die Wucht, mit der das Konzept des Raums derzeit in unterschiedlichste Diskussionszusammenhänge zurückkehrt, fällt umso mehr auf, als die vorausgegangenen Dekaden gerade durch eine mangelnde theoretische Auseinandersetzung mit Raumbegriffen gekennzeichnet waren – ein Umstand, der sich, zumindest für den deutschsprachigen Kontext, aus der historisch bedingten Belastung des Terminus erklärt. Lange Zeit noch war jede Rede vom Raum dem Generalverdacht ausgesetzt, mit derjenigen vom ›Volk ohne Raum‹, dem geopolitischen Großprojekt der Nationalsozialisten, ideologisch in Verbindung zu stehen. So fristete der Raum, wie Rudolf Maresch und Niels Werber in ihrem Band Raum Wissen Macht schreiben, »als theoretisch reflektierter Terminus jahrzehntelang ein kümmerliches Dasein«. 3

[3] 

Das hat sich in den vergangenen Jahren gründlich geändert. Gerade die seit den neunziger Jahren boomende Debatte um Erinnerungskulturen, insbesondere in Bezug auf das Gedenken der Opfer des deutschen Faschismus, hat den Raum, als mnemonischen apostrophiert, in die Diskussion zurückgebracht. Die von Tholen diagnostizierte Konjunktur des Raumbegriffs hält also an und verhilft ihm zu größerer Komplexität.

[4] 

Nun ist die 2002 gegründete Münchner Arbeitsgruppe Raum – Körper – Medium angetreten, eine, wie der Klappentext ihres im vergangenen Herbst erschienenen Sammelbandes erklärt, »theoretische Fundierung« der topographischen Wende innerhalb der Kulturwissenschaften zu leisten, die einen Bogen schlägt zu dem bereits obsolet geglaubten ›Vorgänger-Thema‹: dem Körper. Denn Raum ist hier zum einen nicht mehr »als naturgegebene Voraussetzung aller Kultur, sondern vielmehr selbst als kulturelle Setzung« (S. 175) gefasst – das entspricht dem aktuellen common sense –, zum anderen wird diese je spezifische Setzung – und das ist das Charakteristikum des Münchner Ansatzes – explizit »als Effekt körperlicher Praktiken und medialer Repräsentationen« (ebd.) verstanden, wie Wolfram Nitsch zu Beginn seines Beitrags erläutert. Die in dem Band versammelten Texte versuchen demgemäß, medienhistorische und kulturanthropologische Ansätze zur Erforschung kultureller Räume – das heißt hier zur Erforschung von Räumen und Räumlichkeit in literarischen Texten, Filmen und so fort – nutzbar zu machen.

[5] 

Ausgangsthese dabei ist, wie Jörg Dünne formuliert,

[6] 
dass bereits jeglichem Körpereinsatz eine prinzipielle Unterbrechung zu Grunde liegt, die den Körper zu einem Proto-Medium macht. Durch solche Unterbrechungen werden überhaupt erst beschreibbare kulturelle Räume konstituiert, sei es als geographische Räume, in denen sich Körper physisch bewegen, oder als technische Räume, die durch Körperextensionen wie z.B. durch Schrift eröffnet werden. (S. 79)
[7] 

Weder die Rede von der medialen Unterbrechung des körperlichen Selbstverhältnisses ist neu – auch die ›traditionelle‹ Kultur- und Medienwissenschaft nach McLuhan oder Leroi-Gourhan begreift den Körper als Primär-Medium – noch die These von der perzeptionellen Bedingtheit oder der medialen Codiertheit aller Raummodelle. Als Trias jedoch sind Räumlichkeit, Körperlichkeit und Medialität in dieser engen Verknüpfung bislang nicht theoretisiert, geschweige denn für die konkrete literatur- beziehungsweise kulturwissenschaftliche Analyse künstlerischer Produktionen genutzt worden.

[8] 

Raumgenese
und Raumpraktiken

[9] 

Der 360 Seiten starke Band ist in drei Teile gegliedert: Die beiden einleitenden Texte von Hermann Doetsch und Andreas Mahler, die unter der Überschrift »Raum – Körper – Medium« zum ersten Kapitel zusammengefasst sind, wollen das theoretische Fundament bilden, auf dem die weiteren Beiträge basieren. Indem sie grundsätzlich nach der Konstitution von Räumen fragen, bilden sie die Folie, auf der in den folgenden Einzelanalysen die historisch je spezifischen Raummodelle und -praktiken untersucht werden.

[10] 

So versammeln der zweite und dritte Teil Fallstudien, die sich am Leitfaden mediengeschichtlicher Epochenschwellen orientieren, woraus sich die chronologische Anordnung der Texte innerhalb des Bandes ergibt: In Kapitel 2 zu »Räumlichkeit und Schriftkultur« finden sich neben einem historischen Text zur Frühen Neuzeit fünf literaturwissenschaftliche Beiträge, die sich Texten vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert widmen. Dass hier insbesondere französische und spanischsprachige Literatur in den Blick genommen wird, entspricht der Zusammensetzung der zwar durchaus interdisziplinären, vorwiegend jedoch aus Romanisten bestehenden Arbeitsgruppe. Die Spannbreite der Gegenstände des dritten, sich dem 20. Jahrhundert zuwendenden Kapitels, »Räume und technische Medien«, reicht vom Stummfilm über Hörspiele bis zu Computerspielen und Hypertexten.

[11] 

Im einleitenden Theorieteil fällt die klare Arbeitsteilung ins Auge: Während Hermann Doetsch den Schwerpunkt auf medientheoretische Überlegungen setzt, positioniert sich Andreas Mahler eher im Bereich der Kulturanthropologie mit Bezugnahme auf strukturalistische Zeichentheorie und Lacansche Psychoanalyse. Dennoch verfolgen beide Beiträge dasselbe Ziel: Versucht wird eine differenztheoretisch begründete Beschreibung der Genese von Raum als Effekt eines medialen Gefüges, in dem der wahrnehmende Körper eine Sonderstellung einnimmt. Konstitutiv für diese Beschreibung ist bei beiden die Figur der Unterbrechung – »ein Spalt, ein Intervall, eine Falte« (S. 59), so Mahler –, die jeder Raumkonstituierung eingeschrieben ist.

[12] 

Medialität als Gefüge

[13] 

Was Doetsch in seinem umfangreichen, »Intervall« übertitelten Beitrag anstrebt, ist nicht weniger, als den Neuentwurf einer Medientheorie zu skizzieren, »die sich den anthropologischen und philosophischen Herausforderungen stellen will« (S. 47). Es müsse, so Doetsch, die Kluft überwunden werden, die die heutige Medientheorie beherrsche. Unversöhnlich stünden sich auf der einen Seite die soziologisch-anthropologisch Argumentierenden, die dazu neigten, die Materialität allen Kommunizierens zu missachten, und auf der anderen Seite die ›Technik-Fetischisten‹ gegenüber, die den oft gerügten Fehler begingen, von einem Apriori der Technik auszugehen. Der ›dritte Weg‹, den Doetsch vorschlägt, versucht, in Anlehnung an Bergson und Deleuze Medialität als Gefüge zu fassen, »als dynamisches Gefüge zwischen ›energetischen Materialitäten‹, die sich einerseits zum Körper, andererseits zum Ding formieren, und semiotischen Strukturen, die sich performativ im sozialen Gebrauch heraus- und umbilden« (ebd.). Jedes mediale Gefüge erzeuge einen je eigenen Raum, der dementsprechend immer doppelt codiert sei: als materielles Faktum einerseits und als semiotische Struktur andererseits.

[14] 

In der Einleitung zum dritten Teil des Bandes, »Räume und technische Medien«, untermauert Roger Lüdeke die These Doetschs, anhand des Versuchs, Medialität als ein solches Gefüge zu begreifen, könne vermieden werden, die bisherigen Fehler der Medientheorie zu wiederholen. In Abgrenzung vor allem von Kittlers Ansatz bemühe sich ihre in diesem Band dargelegte Neuperspektivierung, so Lüdeke, Deleuze zitierend, »der medientheoretischen Überzeugung zu entsprechen, dass es ›das Prinzip jeder Technologie [ist], zu zeigen, dass ein technisches Element abstrakt und völlig unbestimmt bleibt, wenn man es nicht auf ein Gefüge bezieht, das es voraussetzt‹« (S. 190).

[15] 

Differenztheorie
und Distanzerfahrung

[16] 

Andreas Mahlers »anthropologische Thesen«, so der Untertitel seines Beitrages, schlagen einen anderen Weg ein, um an einen ähnlichen Punkt zu gelangen. Er geht von der Frage aus, welche Rolle Räumlichkeit für die menschliche Kognition in Abgrenzung von der des Tieres spielt. Leiten lässt Mahler sich dabei von Lotmans Unterscheidung zwischen Bio- und Semiosphäre und Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität. Anders als das Tier bewegt sich der Mensch Lotman zufolge immer in zweierlei Sphären: der sinnlich erfahrbaren, biosphärischen Umwelt und der bereits kulturell codierten, semiosphärischen Welt der Vorstellungen. Heidegger hatte in diesem Zusammenhang, auf von Uexküll rekurrierend, die Differenz von Haben und Sein als Vergleichsgröße eingeführt, indem er sagte, der Mensch sei nicht nur ein Stück der Welt, sondern habe sie zugleich als ihr Herr und Knecht. 4 Die Bezugnahme des Menschen auf sich selbst geschieht also immer aus einer Distanz.

[17] 

Unter dieser Vorgabe liest Mahler Lacans Spiegelstadium als den entscheidenden Schritt in der Psychogenese zur ›semiosphärischen Expansion‹ des Menschen. Die Dezentrierung setzt mit der Aufspaltung des Ich ein, der Eintritt ins Symbolische verbirgt jedoch sogleich die entstandene Kluft – das Intervall – zwischen je und moi, zwischen Imaginärem und Realem. Sprach- und literaturtheoretisch gewendet heißt dies: Jeder Sprachgebrauch verdeckt die grundlegende Metaphorizität der Sprache – Mahler nennt Sprache die »Illusionsapparatur des ›Sich-ganz-Habens‹« (S. 65) –; allein literarisches Sprechen macht die Kluft wiederum sichtbar, indem es Sprache eben nicht diskursiv, nicht als »Agentur symbolischer Rezentrierung« (ebd.) nutzt, sondern im Gegenteil die prinzipielle Fiktionalität allen Sprechens ausstellt.

[18] 

Originell an Mahlers Zusammenschau anthropologischer und sprachphilosophischer Theoreme ist, dass er sie auf ihre raumtheoretischen Implikationen hin liest. Er macht darauf aufmerksam, inwiefern die differenztheoretische Rede von der ›Kluft‹ oder dem ›Spalt‹ durchaus nicht nur eine räumliche Metapher ist, sondern darauf verweist, dass die Dezentrierung des Menschen konkret an die Erfahrung räumlicher Distanz geknüpft ist.

[19] 

Raummodellierungen
erster und zweiter Ordnung

[20] 

Sehr deutlich wird dies auch in Wolfram Nitschs Lektüre der Kulturanthropologie des Prähistorikers André Leroi-Gourhan. Mit dessen 1965 erschienenem Buch Hand und Wort, das trotz Derridas Rekurs darauf in der Grammatologie erst seit kurzem in größerem Ausmaß über die Fachgrenzen hinaus rezipiert wird, lässt sich der Lacanschen Erzählung von der Psychogenese des Einzelmenschen eine evolutionstheoretische Geschichte ähnlichen Verlaufs anfügen. Ein wichtiges Stichwort bei Leroi-Gourhan ist das ›Relationsfeld‹: Zwischen Gesicht und Händen erwächst beim aufrecht gehenden Menschen ein Spielraum, aus dem die menschliche Fähigkeit und Neigung entsteht, immer mehr nach außen zu verlagern. Leroi-Gourhan spricht vom Entwicklungsprinzip der Exteriorisierung, das bei Derrida dann zeichentheoretisch gewendet und zum Strukturprinzip aller Sprachverwendung ausgedeutet wird.

[21] 

Nitsch macht plausibel, inwiefern Leroi-Gourhans Thesen, vor allem aus dem bislang vernachlässigten dritten Teil von Hand und Wort, über die kulturgeschichtlich je verschiedenen symbolischen Ordnungen des Raums für die gegenwärtigen Raumdiskussionen allgemein, vor allem aber für die Theoretisierung des Zusammenhangs von Raum, Körper und Medium nutzbar gemacht werden könnten.

[22] 

Das zeigt er im zweiten Teil seines Beitrages exemplarisch anhand seiner Analyse der Raumdarstellungen in Balzacs Ferragus, schlägt allerdings vor – und das ist meines Erachtens eine sehr hilfreiche Anregung für die literaturwissenschaftliche Arbeit zu Raumkonzeptionen allgemein –, »schärfer als Leroi-Gourhan selbst zwischen primärer und sekundärer Modellierung des Raums zu differenzieren« (S. 180). Das Handwerkszeug, das heißt die notwendigen Begrifflichkeiten, um »das anthropologisch Erschlossene philologisch zu wenden« (ebd.), böten beispielsweise Lotmans Unterscheidung zwischen einem räumlichem Kulturmodell und dessen narrativer Erschütterung, de Certeaus Differenzierung zwischen strategischer Raumorganisation und deren Unterwanderung oder diejenige Bachtins und Warnings zwischen historischem Ort und fiktionalem Chronotopos.

[23] 

Pilgern als
körperlicher Vollzug

[24] 

Auch der Beitrag von Jörg Dünne schließt sehr direkt an die im einleitenden Theorieteil aufgestellten Thesen an. Dünne wendet sich gegen die medienhistorisch verkürzende These Hans Ulrich Gumbrechts und anderer, dass das Aufkommen der volkssprachlichen Schrift- und Druckkultur mit dem Verlust von Körperlichkeit verbunden gewesen sei, und gegen die sich daraus ergebende Tendenz zur Verklärung oraler Kulturen in den Kulturwissenschaften. Gumbrecht behauptete bereits in den achtziger Jahren eine Opposition zwischen der vermeintlich allein auf Körperpräsenz beruhenden Raumkonzeption des Mittelalters und der neuzeitlichen, durch die Schrift vermittelten Abstraktion vom Körper, und dies bekräftigt er erneut in seiner jüngsten Buchveröffentlichung, wo er seine Unterscheidung zwischen Sinn- und Präsenzkulturen am Raum- und Körperverständnis der jeweiligen Kultur festmacht. 5 Dünne dagegen besteht auf der medialen Unterbrechung jedes Weltbezugs – selbstredend auch des mittelalterlichen.

[25] 

Körperliche Wahrnehmung ist Dünne zufolge niemals ungeformt und rein präsentisch, denn er begreift in Übereinstimmung mit Doetschs und Mahlers Ausführungen den Körper seinerseits nicht als etwas, das vor der Medialisierung kommt, sondern als das Proto-Medium schlechthin. Daher sei am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit kein Abschied von einem ›präsenten‹ Körper-Raum zu beobachten, wie Gumbrecht sagt, sondern eine neue, andere Art der Medialisierung von Körpern und entsprechend der damit zusammenhängenden Raumkonstrukte. Das führt Dünne aus am Beispiel der empirischen Raumpraxis mittelalterlicher Pilger und der Transformation dieser Raumpraxis in eine spezifische Schriftpraxis im frühneuzeitlichen spanischen Schelmenroman.

[26] 

Besonderen Wert legt er darauf, dass schon das Pilgern selbst an bestimmte mediale Praktiken gebunden sei. So beginne »die mediale Körperextension bereits beim lebensweltlichen Pilgern des Mittelalters, indem der Körper in bestimmte Dispositive der Inszenierung des Heiligen eingespannt wird« (S. 80). Das Aufkommen der Schrift setze den Körper also nicht erstmalig in ein Verhältnis zu Medien, sondern verändere das immer schon bestehende Verhältnis und mache es zusehends komplizierter.

[27] 

Methodische Vielfalt

[28] 

Nicht in sämtlichen Beiträgen des Bandes sind die Bezugnahmen auf die Thesen Doetschs und Mahlers so explizit wie bei Dünne; man hat bei weitem nicht bei allen den Eindruck, dass tatsächlich, wie im Klappentext und im Vorwort nahe gelegt, anhand paradigmatischer Fallstudien die Theorie aus dem ersten Teil erprobt würde, zumal Teil 1 keine eigene Methodik entwirft, die sich quasi in einem Testdurchlauf am Beispiel der Analysen spezifischer Raummodelle zu bewähren hätte.

[29] 

Die einzig klare methodische Vorgabe aus dem ersten Teil ist die in Dünnes Vorwort konzipierte, an Charles Morris’ Zeichenmodell angelehnte Unterscheidung zwischen technischen, semiotischen und kulturpragmatischen Räumen; doch gerade die Rekurse auf diese Typologie wirken in den Beiträgen zuweilen eher etwas bemüht und nicht sehr ergiebig. Das ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass nicht ganz klar wird, auf welche Weise die vorgeschlagene »Differenzierung eines dreifachen Raumbegriffs« (S. 16) für die Arbeit an Texten, Filmen und so fort operationalisierbar zu machen ist. Hilfreicher als diese Trias erscheint Nitschs bereits erwähnte Trennung zwischen primären und sekundären Modellierungen des Raums oder beispielsweise die Unterscheidung, die Karin Wenz in ihrer prämierten, textsemiotisch ausgerichteten Dissertation getroffen hat. 6 Wenz arbeitet mit den Begriffen Raum – verstanden als Raumkognition, die ihrerseits immer schon das Ergebnis eines semiotischen Prozesses ist –, Raumsprache und Sprachraum, das heißt Nitschs Differenzierung ist dort um die Kategorie der dem Text eigenen Räumlichkeit, des Sprachraums, ergänzt. Man denke auch an die drei Ebenen von Räumlichkeit – in der Textwelt konkret vorhandene, begehbare Räume, Raummetaphern und Texträume –, die Elisabeth Bronfen in ihrer (bereits vor zwanzig Jahren vorgelegten) Dissertationsschrift Der literarische Raum zu trennen vorschlägt. 7

[30] 

Die meisten der Einzelanalysen im Münchner Sammelband sind jedoch ohnehin zu eigenständig, um sich auf einen gemeinsamen methodischen Nenner bringen zu lassen. Der oftmals eher lose Bezug zum ersten Teil ist aber insofern durchaus von Vorteil, als einige der Aufsätze nochmals gänzlich neue Ansätze für die Analyse von ›Raummodellierungen zweiter Ordnung‹ einbringen – wie schon an Nitschs Rekurs auf Leroi-Gourhan gesehen – und den Theorieteil um wichtige Ergänzungen bereichern. So referiert Sabine Friedrich in ihrem Text ausführlich die Kinotheorie Deleuzes, um dann in Anlehnung an dieselbe die dynamischen, an kinematographischen Räumen orientierten Raummodelle der spanischen Avantgardelyrik aufzuzeigen. Rainer Zuch erinnert in seinem kunsthistorischen Beitrag an die lange Geschichte der Entstehung und Dekomposition des zentralperspektivischen Bildraums und legt im Anschluss dar, inwiefern in der abstrakten Kunst der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuer metaphysischer Raumbegriff den Willen zur Überwindung des Zeitlich-Historischen zum Ausdruck bringt. Und Kirsten Kramer widmet sich in einer konzentrierten Studie dem Zusammenhang von optischem Apparat und literarischer Darstellung von Perzeptionsvorgängen in der Frühen Neuzeit. Sie analysiert die Funktionen des ›Leitmediums‹ Spiegel respektive katoptrischer Apparate in der petrarkistischen Liebesdichtung und zeichnet nach, wie die neuartigen Formen der Erfahrbarkeit des Raums, die durch diese technischen Erneuerungen möglich geworden sind, in der Literatur nachgebildet werden.

[31] 

Am stärksten überzeugt der Sammelband durch die teilweise überraschenden und unkonventionellen Konjunktionen, die in den Beiträgen vorgeschlagen werden. So finden sich hier zwar durchaus die für eine raumtheoretische Publikation erwartbaren und ja auch wünschenswerten Referenzen auf die Klassiker der Raumtheorie. Der Band geht aber aufgrund seiner explizit körper- und medientheoretischen Ausrichtung bei weitem über eine Zusammenschau der bekannten Raumtheoreme Lotmans, de Certeaus, Deleuzes und so weiter und deren Nutzbarmachung für die Analysen hinaus.

[32] 

Abschließend sei für Interessierte auf die schöne Webpage der Arbeitsgruppe hingewiesen: Neben aktuellen Informationen zum Münchner Projekt, Hinweisen auf andere raumtheoretische Publikationen, Veranstaltungen und so fort und (demnächst) einer ausführlichen Bibliographie findet sich unter URL: http://www.raumtheorie.lmu.de die materialreiche, für Ergänzungen weiterhin offene Präsentation von Kommentaren zu Apollinaires Bild-Text Lettre-Océan, dessen Lektüre ganz am Anfang der Münchner Beschäftigung mit Fragen des Raums gestanden hatte.



Anmerkungen

Georg Christoph Tholen: Einschnitte. Zur Topologie des offenen Raumes bei Heidegger. In: G. C. Th. / Michael Scholl (Hg.): DisPositionen, Beiträge zur Dekonstruktion von Raum und Zeit. Kasseler Philosophische Schriften 33 (1996), S. 23–35, hier: S. 23.   zurück
Vgl. Sigrid Weigel: Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, Nr. 2 (2002), S. 151–165, und Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München, Wien: Hanser 2003, v. a. S. 60 ff.   zurück
Rudolf Maresch / Niels Werber (Hg.): Raum Wissen Macht. Frankfurt / Main: Suhrkamp 2002, S. 12.   zurück
Vgl. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1983, S. 263.   zurück
Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt / Main: Suhrkamp 2004, S. 98–110.   zurück
Vgl. Karin Wenz: Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung. Tübingen: Narr 1997.   zurück
Vgl. Elisabeth Bronfen: Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage. Tübingen: Niemeyer 1986.   zurück