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Der Krimi und das wahre Leben

Gesellschaftskonstruktion im modernen Kriminalroman

  • Stefanie Abt: Soziale Enquête im aktuellen Kriminalroman. Am Beispiel von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann. (Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft) Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2004. 219 S. Paperback. EUR (D) 35,90.
    ISBN: 3-8244-4605-7.
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Der Kriminalroman als Gesellschaftsroman

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Kriminalromane haben Hochkonjunktur. Stefanie Abt stellt sich die Frage, warum das so ist und hat zur Beantwortung ein anregendes und unterhaltsames literaturwissenschaftliches Buch mit soziologischer Färbung vorgelegt, das aber auch einige wichtige Fragen offen lässt.

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Kriminalromane, so ihre These, sind Gesellschaftsromane: Das »eigentlich Interessante« (S. 13) am neueren Kriminalroman sind die Alltagsprobleme der literarischen Personen, die vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Lagebeschreibung erzählt werden – und diese hat etwas mit der sozialen Wirklichkeit zu tun.

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Abt stellt ihrem Text ein Zitat von Friedrich Glauser voran, wonach man die Handlung eines Kriminalromans auf eineinhalb Seiten darstellen könne – die übrigen hundertachtundneunzig Seiten bestünden aus Füllseln, und auf die käme es an. Stefanie Abt hat sich vorgenommen, diese Füllsel zu untersuchen und sich mit den »Details« zu befassen, »die den Roman örtlich, zeitlich und sozial in ein klar definiertes Umfeld stellen« (S. 13). Zum einen will sie zeigen, dass der moderne Kriminalroman ein »realistischer Roman« (S. 15) ist, der ethnographische Qualität gewinnt, weil es ihm darum geht, »die Gesellschaft in ihrem Ist-Zustand zu beschreiben und Veränderungen zu beobachten« (S. 15) 1 . Zum anderen will sie herausfinden, mit welchen literarischen Mitteln ein solcher Realitätsbezug hergestellt wird.

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Dabei habe dieser Realitätsbezug grundsätzlich eine gesellschaftskritische Basis, denn die Genreregel verlange es ja, dass »in diesen Realitäten Morde geschehen« (S. 24). Das Verbrechen deute auf einen Missstand hin, der gesellschaftliche Ursachen haben könne. 2 Da die Genreregel es weiter erfordere, dass die Aufklärungsarbeit beschrieben werde, könne die Leserin die ErmittlerInnen bei deren Informationssuche durch die jeweilige Gesellschaft, ihre Milieus und ihre Verwerfungen begleiten. Und schließlich solle – eine dritte Genreregel – die gefährdete Ordnung wieder hergestellt werden, was den Kriminalroman zum konservativen Genre mache. Wie Abt zeigen wird, wird diese Genreregel im modernen Polizeiroman gedehnt, denn die ErmittlerInnen scheitern bei der Aufklärung ihrer Fälle. Die Suche nach der Lösung eines Falles sieht die Autorin als ein Angebot der Sinnsuche in einer unübersichtlichen Welt – angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften aber müsse das nicht glücken.

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Polizeiromane als Untersuchungsgegenstand

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Wie also wird »empirische Realität zum Textmaterial«, und wie wird umgekehrt »in einem Text Realität konstruiert und mit Inhalt gefüllt«? (S. 19) Abt verfolgt diese Fragestellung mit einer Analyse der Polizeiromane von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann. 3 Wer es nicht weiß: In den Romanen von Henning Mankell, die in Schonen im Süden Schwedens spielen, ermittelt der melancholische Kommissar Kurt Wallander, Ulrich Ritzel siedelt seine Romane um seinen Ermittler Berndorf und dessen Mitarbeiterin Tamar Wegenast in Ulm an und Pieke Biermanns Karin Lietze ermittelt mit ihrem Team in Berlin. Es handelt sich hierbei um Polizeikrimis: Sie sind für Abt das ideale Subgenre für ihre gesellschaftswissenschaftliche Fragestellung, denn die dortigen »Versuchsanordnungen« (S. 25) setzen, wenn man so will, die ErmittlerInnen unter sozialen Druck: Sie müssen sich in ein Team einfügen und mit Hierarchien auseinandersetzen, die extremen Arbeitsanforderungen erzeugen Vereinbarungsprobleme zwischen Beruf und Privatleben, und da die Polizei eine staatliche Ordnungsmacht ist, ist immer auch Gesellschaftspolitik ein Thema. So stehen auch Werte und Normen zur Disposition, und die ProtagonistInnen dürfen oder müssen ausprobieren, wie es sich lebt, wenn man vom mainstream abweicht. 4

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Fiktionaler Text als soziale Welt

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Mit welchen Mitteln nun bildet ein fiktionaler Text empirische gesellschaftliche Konstellationen ab und illustriert gleichzeitig auch, wie diese Realität erlebt wird? Um das herauszufinden, muss man etwas wissen über die Verfahren des Erzählens und über die Verfasstheit von Gesellschaften und deren Mechanismen. Man braucht also Literaturwissenschaft und Soziologie. Abt untersucht deshalb zum einen, welche Erzählverfahren benutzt und welche Erzählräume zur Verfügung gestellt werden, um einen Realitätsbezug zu konstruieren – das ist der literaturwissenschaftliche Zugang zum Thema; zum anderen fragt sie danach, »welche Parameter der Realität in einem Text auftauchen« (S. 26) – das ist der sozialwissenschaftliche.

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Über den jeweiligen wissenschaftlichen Hintergrund sowie die jeweiligen Untersuchungsmethoden erfahren wir nicht viel. 5 In einem winzigen Unterkapitel mit dem Titel »Methodische Anmerkungen« teilt uns die Autorin mit, sie habe für die Beantwortung der zweiten Frage Pierre Bourdieu herangezogen und seiner Anweisung Folge geleistet, »den fiktionalen Text als soziale Welt« (S. 26) zu lesen. Hierfür habe sie die Bourdieusche »Terminologie« herangezogen: einmal die Klassenlage, die über den Habitus mit der Person verknüpft ist, zum anderen den nutzenmaximierenden Einsatz der drei Bourdieuschen Kapitalsorten in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern – »im Text ebenso wie in der außerliterarischen Welt« (S. 26). Des Weiteren werde »die Terminologie Bourdieus […] ergänzt durch Fachbegriffe aus Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft«(S. 27). In einer Fußnote zitiert sie aus einem Standardwerk der Literatursoziologie einige Fragen, die »für die Analyse wichtiger Textstellen von Belang« seien (S. 26, FN 37). Wer will, kann diese Fragen als eine Operationalisierung von Bourdieus Anweisung lesen, aber die Autorin scheint keinen Wert darauf zu legen, über ihr methodisches Vorgehen aufzuklären.

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So übertreibt der Klappentext, wenn der davon spricht, dass Abt ihre Krimis »auf der Grundlage von Bourdieus Kultursoziologie« analysiert. 6 Vielmehr entsteht der Eindruck, dass sie die Soziologie als eine Sammlung von anregenden Begrifflichkeiten benutzt. So streut sie hin und wieder Verweise auf Bourdieu eher als Zierrat in ihren Text ein (S. 87, 104), konfrontiert die Leserin ganz unvermittelt »mit Luhmanns Systemtheorie« (S. 105) und benutzt die »individuelle Nutzenmaximierung«, angeblich eines ihrer theoretischen Instrumente, als moralische Kritik (S. 85, 121). Dennoch gelingt es ihr meines Erachtens, die fiktive Welt als eine soziale Welt zu lesen. Vielleicht bedient sie sich einer impliziten Heuristik, die sich als eine unorthodoxe rationaltheoretische Perspektive beschreiben ließe. Präferenzen, eingesetzte Mittel und Situationsdefinitionen verdanken sich dabei zum einen der inkorporierten Sozialstruktur und ihren Ungleichheiten, scheinen zum anderen aber auch stark von der Person abhängig zu sein. Hierüber hätte ich gerne mehr erfahren. 7

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All das wird bereits in der »Einleitung« (Kapitel 1) vermittelt. Hierauf folgt »Die Konstruktion von Realitäten und Lebenswelten« (Kapitel 2), sodann »Soziale Enquête I: Arbeitswelt« (Kapitel 3), »Mediale Enquête: Massenmedien« (Kapitel 4), »Soziale Enquête II: Privatleben« (Kapitel 5) und schließlich ein kurzes 6. Kapitel, das mit »Auswertung und Zusammenfassung« überschrieben ist. Kapitel 2 bezieht sich auf Abts Frage danach, wie Wirklichkeit durch Erzählverfahren konstituiert wird, die Kapitel 3, 4 und 5 behandeln die Frage, inwieweit die untersuchten Romane »realistische Romane« sind: ob das, was erzählt wird, mit der sozialen Wirklichkeit europäischer Gesellschaften an der Wende zum 21. Jahrhundert zu tun hat.

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Erzählverfahren

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Kapitel 2 verfährt also eher literaturwissenschaftlich als soziologisch: Welche Textverfahren machen den Polizeikrimi zum Gesellschaftsroman? Der Leserin lernt die ProtagonistInnen und ihre Lebensumstände kennen: den einsamen Kurt Wallander, Berndorf und seine KollegInnen und Karin Lietze, ihr Team und ihre Freundinnen. Abt bleibt zunächst in der fiktiven Welt und macht deutlich, dass es sich um literarische Personen handelt. Welche Verfahren des Erzählens findet sie nun? Henning Mankell diagnostiziert Abt eine realistische Erzählweise, identifiziert sie als das Erzählverfahren des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts – und lässt sie in einer Fußnote frech kommentieren (S. 45, FN 73). Mankell berichtet zahllose zeitliche und örtliche Details, man erfährt viel darüber, was der Protagonist tut 8 und denkt – all das soll nach Abt Künstlichkeit vertuschen und das Erzählte realistisch erscheinen lassen.

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Mankell formuliert demnach eine ungebrochene Realität, er erzählt sie (fast ausschließlich) aus der Perspektive Wallanders, am Ende ziehen sich alle Fäden zu einem Fall zusammen, der Schuldige wird immer gefasst. Abt fragt sich, ob die altmodische Erzähltradition dazu passt, dass Mankell von einer auseinanderfallenden Gesellschaft berichtet. Über das korrumpierte Schweden, das im Chaos versinkt, wird aus einer einzigen Perspektive und mit einer verbindlichen Interpretation erzählt – und damit eher Ordnung als Chaos suggeriert. Andererseits aber hält Abt dafür, dass die realistische Erzählweise die Missstände besonders deutlich machen kann und dass die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt selbst einen Kommentar zur Lage darstellt. Die Figur Wallander, so Abts Fazit, kämpft um eindeutige Zuordnungen in einer problematisch gewordenen Welt.

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Ritzel indes erzählt nach Abt mithilfe bewusster Fiktionalisierung eine gebrochene Realität. Mehrere gleichberechtigte ProtagonistInnen bieten mehrere Sichtweisen auf die Welt an, so dass die Leserin wählen kann, mit wem sie sich identifizieren möchte. Zudem webt Ritzel weitere literarische Texte in den Krimi ein und entlarvt so auch den Text erster Ordnung als fiction. Die Genreregel, dass durch die Ermittlungen die Ordnung wieder hergestellt wird, wird verletzt: die Fälle werden zwar gelöst, die Schuldigen aber nicht gefasst.

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Pieke Biermann schließlich entwirft mithilfe des Prinzips der methodischen Reihung eine erratische Realität. In ihren Krimis wirbeln viele Leute mit ihren Lebens- und Alltagsgeschichten herum, die nichts mit den jeweiligen Kriminalfällen zu tun haben – und auch was der Fall ist und ob es überhaupt einer ist, ist keineswegs klar. Wo sich bei Mankell alle Fäden am Ende zusammenziehen und bei Ritzel wenigstens noch Berndorf weiß, was gespielt wird, gibt es bei Biermann gar keine Zusammenhänge mehr – wenn doch, dann wird deren Künstlichkeit überdeutlich. Die Fälle werden nicht mehr aufgeklärt, und wenn ja, dann nicht durch die Polizei. Realität kann nicht mehr erkannt werden, so die Botschaft, sie ist nicht dechiffrierbar, und Biermanns Sätze fliegen auseinander.

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Auch hier unternimmt Abt eine vorsichtige Bewertung der Erzählverfahren: Ritzel und Biermann problematisieren die Konstruktion von Realität und zeigen durch ihre Erzählverfahren, dass die Dechiffrierbarkeit der Wirklichkeit nicht mehr gelingt. Beide reflektieren die Fiktionalität auf einer Metaebene. Ritzel vertuscht nicht wie Mankell die Künstlichkeit des Romans, sondern hebt durch den Einschub anderer literarischer Texte, die den Zusammenhang stiften, die Künstlichkeit hervor. Bei Biermann findet sich das Chaos der Großstadt Berlin im Chaos aus Erzählfäden und unvollständigen Sätzen wieder. Es ist klar, dass Abt die Erzählverfahren ihrer AutorInnen entsprechend der Reihenfolge der Analysen bewertet: Mankell gefällt ihr am wenigsten, Ritzel besser und Biermann findet sie richtig gut.

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Lebenswelten

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In den Kapiteln 3, 4 und 5 geht die Autorin der Frage nach, ob in den von ihr untersuchten Romanen gesellschaftliche Realität thematisiert und kritisiert wird, wie dies im klassischen Gesellschaftsroman der Fall war. In Kapitel 3, in dem es um die Arbeitswelt geht, untersucht sie zudem, ob es der Polizei gelingt, die Ordnung wiederherzustellen, wie es die Genreregeln verlangen – und wenn nein, woran dies scheitert. Hier erst folgt Abt Bourdieus Anweisung, die Romane als eine soziale Welt zu lesen und untersucht die »Erzählräume« Arbeitswelt, Massenmedien und Privatleben, denen sie jeweils ein Kapitel widmet. Das liest sich recht kurzweilig, auch weil Abt zu jedem ihrer Fragenkomplexe alle drei literarischen Welten miteinander vergleicht. Die Leserin wird von der Autorin in die erzählte soziale Welt hinein- und dort herumgeführt und erfährt so allerlei Erhellendes über das Personal der Romane und deren Handlungsumstände.

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In Kapitel 3, das die Arbeitswelt behandelt, vergleicht Abt die Art der »Verbrechen«, die »Ermittlungen«, die »Hierarchien« und die Rolle der »Frauen in der Arbeitswelt« und destilliert aus genau beobachteten Episoden viele interessante Erkenntnisse. Was die Verbrechen betrifft, sind die Täter bei Mankell Menschen, die nicht mehr gebraucht werden; Schuld ist die Politik, die den Rechtsstaat in Frage stellt. In Berndorfs Welt ist es ein unterirdisches Wurzelwerk, das die Täter motiviert – wie zum Beispiel eine nationalsozialistische Vergangenheit. Pieke Biermann indes breitet einen »Flickenteppich zwischenmenschlicher Beziehungen aus« (S. 88). Die Verbrechen sind zwar im privaten Bereich angesiedelt, immer aber gesellschaftlich überformt.

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Was den Umgang mit Hierarchien betrifft, vermischt Wallander Berufliches mit Privatem, was Abt nicht professionell findet; bei Biermann setzen Sympathien Hierarchien außer Kraft und Antipathien verstärken sie. Im Kapitel über »Frauen in der Arbeitswelt« arbeitet Abt Wallanders Einstellung zu Frauen als geprägt von gesellschaftlichen Vorurteilen heraus, während Berndorfs Kollegin Wegenast eine Frau liebt und deshalb in der Ulmer Polizei »wie ein Fremdkörper« (S. 137) wirkt. Bei Pieke Biermanns Personal geht es unter anderem um Vereinbarkeitsprobleme berufstätiger Mütter und deren Folgen für ihre berufliche Präsenz. Hier lässt sich exemplarisch zeigen, wie Abt zu belegen versucht, dass die Romane gesellschaftliche Realität thematisieren: Sie zitiert als einen Nachweis für die Realitätsnähe des Erzählten einen sozialkundlich aufbereiteten Artikel 9 über die Auswirkungen der Doppelbelastung von Frauen auf ihren beruflichen Aufstieg. Bourdieu braucht sie dafür nicht.

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Die Rolle der Massenmedien – in der Arbeitswelt und im Privatleben der ProtagonistInnen – wird in Kapitel 4 untersucht und vor allem deshalb als wichtig erachtet, weil es im Kriminalroman wie auch in den Medien um die Suche nach Informationen geht. Natürlich werden die Medien in den untersuchten Romanen kritisiert – sie konkurrieren mit der Polizei um Informationen und nutzen sie unverantwortlich – und die Leserin erfährt u. a. gut beobachtete Details über Wallanders Medienkonsum: Während er über die Presse die üblichen Vorurteile drischt, ist er in seiner privaten Mediennutzung so passiv und antriebslos wie auch sonst in seinem Privatleben.

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Kapitel 5 widmet Abt dem Privatleben. Wallander hat damit riesige Probleme und spiegelt noch einmal die desolate Situation der Beziehungslosigkeit in Schweden: Auch ihn braucht keiner mehr. Berndorf findet im Privaten ein glückliches Refugium, wenn Abt auch zwischen Berndorf und seiner Partnerin gängige Rollenmuster entdeckt. Für Lietze und ihre FreundInnen und KollegInnen ist das Privatleben die Gegenwelt, in der noch Sinn gestiftet werden kann – das gilt indes nicht für die traditionelle Familie. Die glücklichen Konstellationen finden sich fast alle in alternativen Lebensformen. Abt fragt sich, ob mit der Kernfamilie abgerechnet wird und konstatiert, dass Familie bei Mankell ein Ort der Gewalt und bei Ritzel ein Ort der Verdrängung ist. Bei Biermann arbeiten Familien mit Ausgrenzung – und können so nicht glücklich werden.

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Dass Abt genau, engagiert und gut gelaunt beobachtet, macht diese Kapitel so unterhaltsam. Die berichteten Details machen den Charme des Buches aus, auch wenn man mitunter nicht mehr genau weiß, welchen Stellenwert sie in Bezug auf die gestellten Fragen haben. So sind es in gewisser Weise auch hier die Füllsel, die das Buch lesenswert machen.

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Die Suche nach dem Sinn

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Das nur viereinhalb Seiten kurze Kapitel 6 kündigt eine »Auswertung und Zusammenfassung« an. Dort bescheinigt Stefanie Abt dem Polizeikrimi, ein Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung zu sein. So wie die ErmittlerInnen für die Lösung ihres Falles nach Informationen suchen, richtet sich diese Suche auch auf die Besonderheiten und Missstände der jeweiligen Gesellschaft. Freilich haben die KommissarInnen zunehmend Schwierigkeiten, die relevanten Informationen zu finden, um ihre Fälle zu lösen und die soziale Ordnung wiederherstellen zu können. Was für die Ermittlungsarbeit gilt, gilt auch für die Untersuchung der Gesellschaft – die soziale Enquête. Während sich Mankell akribisch auf die Darstellung der Ermittlungsarbeit konzentriert und sein Kommissar noch daran glaubt, verstehen zu können, was vor sich geht, haben Ritzel und Biermann grundsätzliche erkenntnistheoretische Probleme.

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Während in Ystad niemand daran zweifelt, dass die Zeichen etwas bedeuten, 10 sind sich Berndorf und seine KollegInnen da nicht mehr so sicher. Karin Lietze und ihr Team finden in der fragmentierten Wirklichkeit keinen Sinn mehr. Hier stehen die Welten vieler Personen nur noch unverbunden nebeneinander. Vor allem Pieke Biermann wird von der Autorin attestiert, sie nähere sich den »Inhalten der literarischen Moderne«, weil sie sich von einem mimetischen Realismus abgewendet habe und die Probleme der Erkenntnis von Wirklichkeit zum Thema mache. 11 Biermann und Ritzel dehnen die Genreregeln, während Mankell sie (zumindest fast) einhält. Doch Stefanie Abt hält das Motiv der Suche jenseits aller Formen des Erzählens für eine zukunftsträchtige Angelegenheit: »Die Frage, wie in einer uneindeutigen Realität eine Lösung und damit ein Sinn gefunden werden kann, ist für uns alle von außerordentlicher Bedeutung« (S. 213) – und deshalb brauche man sich keine Sorgen um die Zukunft des Kriminalromans zu machen.

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Erzählverfahren und Realitätsbezug bei Stefanie Abt

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Zum Abschluss stelle ich die beiden Untersuchungsfragen Stefanie Abts an ihren eigenen Text.

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Welche Möglichkeit hat Stefanie Abt gewählt, um ihre Beobachtungen in Textmaterial zu verwandeln? Ich sehe ein gelungenes Hin- und Herspringen zwischen drei Ebenen der Darstellung: der Interpretation der Intention der AutorInnen, der Beschreibung der Erzählweisen und der Analyse des Handelns der fiktiven Akteure in einer Weise, die sie als reale Personen erscheinen lässt. Der Eindruck verstärkt sich, als es sich die Autorin gelegentlich leistet, diese Personen in ihrem Verhalten zu kritisieren; manchmal macht sie sich sogar lustig, so zum Beispiel über Wallanders ewiges Gejammer.

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Was die Frage nach dem Realitätsbezug betrifft, muss man fragen, ob Abts Text der innertextlichen Wirklichkeit der Romane von Mankell, Ritzel und Biermann entspricht. Das kann jede Leserin selbst überprüfen. Denn wunderbarerweise steht bei diesem Untersuchungsgegenstand das Material der Öffentlichkeit zur Verfügung, was bei qualitativen soziologischen Untersuchungen ja in der Regel nicht der Fall ist. Ich kann also nur empfehlen, das Buch von Stefanie Abt und die besprochenen Krimis zu lesen.



Anmerkungen

Die Rezensentin ist Soziologin und befindet, dass die Diagnose des Ist-Zustands einer Gesellschaft und die Beobachtung sozialen Wandels auch die Aufgaben soziologischer Gesellschaftsdiagnose sind. Damit findet die Soziologie in der Gegenwartsliteratur eine ernstzunehmende Konkurrentin, zumal sich SchriftstellerInnen auch als gute BeobachterInnen relevanter sozialer Mechanismen bewähren. SoziologInnen nutzen deshalb zum einen Romane als empirisches Material und analysieren zum anderen »die Gesellschaft der Literatur« (Thomas Kron / Uwe Schimank (Hg.): Die Gesellschaft der Literatur. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2004).    zurück
Meines Erachtens stellt Mord die persönliche Sicherheit zur Disposition, die zu gewähren eine fundamentale Aufgabe des Staates ist. Dass dieser dazu nicht in der Lage ist, führt auch zur Kritik an der Aufklärungsarbeit der Polizei. Als Repräsentantin des Staates sollte sie wenigstens hier erfolgreich sein.    zurück
Die Auswahl wird nicht schlüssig begründet (dies nimmt gerade einmal 10 Zeilen in Anspruch). Deutsche und schwedische Krimis würden herangezogen, weil der Kriminalroman eine internationale Gattung sei. »Vorwiegend sollen jedoch deutsche Polizeikrimis analysiert werden« (S. 28). Aber warum? Wirklich problematisch aber ist Abts Bemerkung, dass sich aus der Themenstellung ergebe, »dass hierfür ausschließlich Romane mit gesellschaftskritischer Komponente von Belang sind« (S. 28). Ich hatte es eigentlich so verstanden, dass das eine der zu prüfenden Ausgangshypothesen sei.    zurück
Dass es sich bei den von ihr untersuchten Romanen um Serien handelt, bekommt indes keinen systematischen Stellenwert. Dabei kann man den Seriencharakter im Sinne einer Paneluntersuchung nutzen und – zum Beispiel – die Veränderung und Stabilität der »Alltäglichen Lebensführung« der ProtagonistInnen untersuchen (vgl. Margit Weihrich / Günter G. Voß: Alltägliche Lebensführung und soziale Ordnung im Kriminalroman. In: Thomas Kron / Uwe Schi­mank (Hg.): Die Gesellschaft der Literatur (Anm. 2), S. 313–340).   zurück
Abt schreibt, dass sie sich für ihre Fragestellung und deren Bearbeitung an Ulrich Schulz-Buschhaus orientiert hat, aber wir erfahren nicht viel mehr, als dass für ihn der Kriminalroman »die Interessen einer sozialen und/oder politischen Enquête« (S. 22) befördern kann und dass es auch für ihn nicht nur darauf ankommt, was erzählt wird, sondern auch, wie es erzählt wird. Der Terminus »Enquête« taucht bei Abt ganz prominent im Titel und in zwei zentralen Kapitelüberschriften auf, aber es wird nirgendwo erklärt, warum sie ihn verwendet. Dass er bei Schulz-Buschhaus vorkommt, ist natürlich eine heiße Spur, die ich aber hier nicht weiter verfolgen kann.    zurück
In der Literaturliste findet sich nur ein einziger Artikel von Bourdieu.    zurück
Es geht ja um zwei verschiedene Fragen: Was machen die Figuren in einer bestimmten Welt? Und inwieweit korrespondiert die Textwelt mit einer bestimmten außerliterarischen Sozialwelt? Fiktive Akteure in fiktiven Welten werden in Übereinstimmung mit sozialen Mechanismen handeln müssen, wenn ihr Handeln verstehbar sein soll. Der nutzenmaximierende Einsatz der Kapitalsorten in einer bestimmten Situation ist ein Mechanismus, der auch das soziale Handeln von Marsmenschen erklären kann. Damit ist nichts darüber ausgesagt, ob die jeweiligen Welten realistisch sind. Hier nun wird Bourdieu relevant: Über den Mechanismus des Habitus und den Besitz spezifischen Kapitals kommen in einer bestimmten Klassenlage in einer konkreten Gesellschaft sozialisierte Akteure ins Spiel, so dass man aus der Untersuchung dieser Spezifika Rückschlüsse auf gesellschaftliche Strukturen ziehen kann – eben auf »die Strukturen der Arbeits- und Privatwelt« (S. 26f.) und deren ungleichsheitsrelevante Aspekte. Ich will nicht sagen, dass Abt das nicht tut – aber für ein wissenschaftliches Werk würde ich doch eine Auseinandersetzung mit der theoretischen Grundlage der Untersuchung erwarten. Man könnte dann auch vergleichen, inwieweit der Habitus das geeignete Konzept für die hier verfolgte Fragestellung ist, oder ob sich nicht vielmehr das Konzept Alltäglicher Lebensführung anböte, das viel weniger starr als der Habitus ist und der Person als Produzentin ihrer Lebensführungsregeln einen viel größeren Stellenwert einräumt (siehe hierzu Margit Weihrich: Alltägliche Lebensführung und institutionelle Selektion oder: Welche Vorteile hat es, die Alltägliche Lebensführung in die Colemansche Badewanne zu stecken? In: Günter G. Voß / Margit Weihrich (Hg.): tagaus – tagein. Neue Beiträge zur Soziologie Alltäglicher Lebens­führung. München und Mering: Rainer Hampp Verlag 2001, S. 219–236).   zurück
Weswegen sich das fiktive Leben des Kurt Wallander auch wunderbar für eine Analyse der Mechanismen alltäglicher Lebensführung eignet.    zurück
Als weitere Belege dieser Art finden sich Verweise auf bunt zusammengewürfelte soziologische Literatur.    zurück
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In Fußnote 183, S. 102f. witzelt die Autorin darüber, dass die Erkenntnismöglichkeiten in Ystad offensichtlich wesentlich unproblematischer sind als in Berlin.   zurück
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Dass diese Erzählform die aktuelle Wirklichkeit besser abbildet als jede andere, lobt Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung vom 3. August 2005 anhand des Films L.A. Crash und dessen »Vignettenform«. Auch dort werden Akteure in eine ebenso überzufällige Verbindung zueinander gesetzt – im richtigen Los Angeles würde man sich kein zweites Mal begegnen. »Wenn man L. A. Crash also mit dem Gefühl verlässt, seit langem wieder einmal das echte Amerika erblickt zu haben – dann ist das auch ein fast paradoxer Triumph für die unerschrockene und kompromisslose Künstlichkeit dieses Films« (Tobias Kniebe: Hier berührt Dich niemand. In seinem Film »L. A. Crash« baut Paul Haggis eine emotionale Massenkarambolage. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 177, 3. August 2005, S. 11.). Damit wäre Stefanie Abt sicher einverstanden.    zurück