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Brockhaus: Die Fabrik der allgemeinen Bildung

  • Thomas Keiderling (Hg.): F.A. Brockhaus 1905-2005. Band 2 der Festschrift F. A. Brockhaus 1805-2005. Band 1 von Heinrich Eduard Brockhaus: Die Firma F.A. Brockhaus von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum. 1805-1905. Einführung von Thomas Keiderling. Leipzig, Mannheim: F.A. Brockhaus 2005. Buch und CD-ROM. Bd. 1: 466 S., Bd. 2: 448 S. Gebunden im Schuber. EUR (D) 75,00.
    ISBN: 3-7653-0084-5.
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»...wo auf jedem Band mit goldenen Buchstaben ›Brockhaus‹ gedruckt stand.« (S. 189)
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Der enzyklopädische Traum und die Industrialisierung des Graphischen Gewerbes sind in der Firma F.A.Brockhaus eine hochproduktive Verbindung eingegangen. Ist das ein Thema der Bildungsgeschichte oder der Wirtschaftsgeschichte? Der Mischbetrieb – Verlag, Kommissionshaus, Druckerei, Binderei – blieb fast 200 Jahre lang in Familienregie. Strategie oder Tradition? Der Leipziger Historiker und Medienwissenschaftler Thomas Keiderling, von dem wir zuletzt die Geschichte des Buchkonzerns Koehler & Volckmar in der NS-Zeit lesen konnten, 1 hat sich, von Disziplingrenzen ungeniert, mit der kompletten Unternehmensgeschichte von F.A.Brockhaus im 20. Jahrhundert beschäftigt. Als Herausgeber und Hauptautor und unter Mitarbeit von acht Beiträgern schließt er damit an die in mehrfacher Hinsicht historische Arbeit an, die Heinrich Eduard Brockhaus für die Zeit von 1805 bis 1905 zum 100-jährigen Firmenjubiläum vorgelegt hatte, und die der Verlag jetzt gleichzeitig als Faksimile erscheinen lässt. Was erfahren wir?

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Eine Firmengeschichte
unter fünf politischen Systemen

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Das erste Kapitel heißt »Bis zum Ende des Kaiserreiches« und enthält zunächst ein Resümee der Firmengeschichte von der Gründung im Jahr 1805 bis zur Jahrhundertfeier von 1905. 2 Merkwürdig bleibt, dass der Gründer des Traditionshauses, Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1832), als Geschäftsmann erst spät in den Buchhandel überwechselte, und noch später nach Leipzig kam. Rückgrat seines durchaus spekulativen, aber zunehmend erfolgreichen Geschäfts war die Übernahme und Fortführung eines Konversationslexikons. Schon unter seinen Söhnen entwickelte die Gründung Beständigkeit und Opulenz, 3 und beim Jubiläum 1905 beschäftigte die Firma F.A.Brockhaus in Druckerei und Verlag über 600 Mitarbeiter, verfügte über ein ständig wachsendes Industrie-Areal nebst Villa im Osten Leipzigs und über eine hochmoderne Ausrüstung der technischen Betriebe. Die Unternehmens-Chefs in vierter und fünfter Generation, Eduard (1829–1914) und Albert Brockhaus (1855–1921), spielten beide als Börsenvereins-Vorsteher eine führende Rolle im Buchhandel, Eduard wirkte zudem als Reichstags-Abgeordneter der Nationalliberalen Partei auch im politischen Leben. Im denkwürdigen ›Bücherstreit‹ um die Marktordnung des Buchhandels von 1903/04 vertrat Albert Brockhaus den Börsenverein gegenüber dem Akademischen Schutzverein (Beitrag von Alexandra Fritsch, S. 5–58). Die Marktmacht der Firma und die gesellschaftliche Stellung der Unternehmerfamilie hatten einen Höhepunkt erreicht.

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Nach 1918 bedurfte es einiger Anstrengung, die Firma durch die Krisenjahre zu bringen. Der Verlag konzentrierte sich nun auf Programm-Schwerpunkte: Vor allem natürlich auf die Renovierung und Fortführung des Konversationslexikons (1928–1935 erscheint als 15. Auflage unter beträchtlichem Werbeaufwand Der Große Brockhaus in 20 Bänden), außerdem auf den Ausbau der Reise- und Forschungsliteratur, für die Brockhaus seit Nansen und Sven Hedin einen Namen hatte. Zwei Beiträge, aufschlussreich illustriert, befassen sich mit der noblen Einrichtung der Verlagsräume (Christian Schatt) und mit den Privathäusern, der »herrschaftlichen« Villa Brockhaus sowie anderen Wohnungen und Sommersitzen der Familie (Sabine Knopf). Sie setzen den Beitrag von Christian Schatt über die Leipziger Verlagsbauten fort, Topographien firmengeschichtlicher Forschung.

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Zu Beginn des ›Dritten Reiches‹ galt F.A.Brockhaus als ein zu respektierendes, auch im Ausland anerkanntes Unternehmen, dessen konservativ gestimmte Geschäftsleitung sich mit den neuen Machthabern arrangierte, aber im Unterschied zum Konkurrenzverlag Bibliographisches Institut (Meyers Lexikon) keine NSDAP-Mitglieder aufwies. Trotzdem war eine Politisierung nicht zu verhindern, und vor allem die Lexikon-Redaktion musste Zensureingriffe hinnehmen und Auseinandersetzungen mit Parteistellen durchstehen. Wirtschaftlich ging es der Firma ausgezeichnet, zwischen 1933 und 1938 verdoppelte sich die Mitarbeiterzahl, das Lexikon-Programm konnte ausgebaut werden, die Reisebuch-Produktion erreichte zwischen 1938 und dem Kriegsjahr 1941 einen Höchststand. Erst durch die gravierenden Schäden beim Luftangriff auf Leipzig vom 4. Dezember 1943 geriet auch Brockhaus in den Sog der Katastrophe. Heereslieferungen des Verlages und Aufträge an den Rest der Druckerei ermöglichten eine improvisierte Weiterexistenz, die nach Kriegsende in eine Teilung des Unternehmens mündete: Während die amerikanische Besatzung bei ihrem Abzug aus Leipzig im Frühsommer 1945 einer Auswahl buchhändlerischer Firmen, darunter auch dem Brockhaus-Verlag, eine Niederlassung in Wiesbaden ermöglichte, blieb das Stammhaus unter der Sowjetischen Militär-Administration am Ort und erhielt 1946, als Privatunternehmen unter der Leitung von Fritz Brockhaus (1874–1952), seine Verlagslizenz.

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Dementsprechend teilt sich jetzt die Darstellung der Ereignisse zwischen 1949 und 1990 in zwei verschiedene Kapitel. Im Westen kamen neben und nach Hans Brockhaus (1888–1965) Vertreter der sechsten und siebenten Generation in die Firmenleitung, die aber beide nach kurzer Zeit verstarben, sodass erst mit Hubertus Brockhaus (geb.1949) die Familientradition fortgesetzt werden konnte. 1959 war deshalb Ulrich Porak in die Geschäftsleitung eingetreten, über den man gerne mehr erführe (S. 242). Die »Neuordnung des Buchhandels in der Bundesrepublik« (Beitrag von Volker Titel) erlaubte den schnellen Ausbau des Wiesbadener Hauses, zunächst als reinem Verlagsunternehmen, später ergänzt durch den Kauf einer eigenen Druckerei. Eine Graphik zeigt die Bilanzentwicklung zwischen 1949 und 1959 mit steil ansteigender Umsatzkurve (S. 242). Hauptprojekt, mit erheblichem Kapitalaufwand, wurde der zwölfbändige neue Große Brockhaus, gefolgt von der Brockhaus Enzyklopädie (1966–1974). Aber schon in den siebziger Jahren gab es erste Anzeichen einer Konjunkturwende, der Markt für Großlexika wurde enger, die Computertechnik zog in die Redaktionen ein, Beteiligungen wurden notleidend. Der Verfasser beschreibt minutiös die Verhandlungen, die darauf hin zur Fusion von F.A.Brockhaus mit seinem Hauptkonkurrenten, dem Mannheimer Bibliographischen Institut im Jahre 1984 führten – eine Sensation im konservativen Verlagsmilieu. Damit nicht genug. Zur Abwehr einer unfreundlichen Übernahme holte das vereinigte Unternehmen BIFAB AG vier Jahre später die Münchner Langenscheidt KG als Großaktionär ins Boot. Der Vorgang, exemplarisch für die nun in Gang gekommene allgemeine Verlagskonzentration in Deutschland, erweist sich als spannende Materie.

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Im DDR-Kapitel beschreibt der Verfasser kenntnisreich den Weg des Unternehmens vom Privatbetrieb über die Treuhandverwaltung – 1951 durch die Stadt Leipzig – bis zur Ausgliederung der Betriebsabteilungen und der Umwandlung der Firma in den VEB F.A.Brockhaus Verlag im Jahr 1953. Mit neuer Programmstruktur steigerte der Verlag seine Absatzerlöse bis zum Ende der DDR von einer auf dreizehn Millionen Mark und entwickelte sich zum Vorzeigebetrieb des Landes. Der bald einsetzende Streit um die Warenzeichen- und Vertriebsrechte im Westen führte 1980 zu einer gütlichen Vereinbarung mit Wiesbaden.

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Das letzte Kapitel des Buches behandelt die kurze Nachwende-Geschichte des Leipziger Hauses, den Rückfall der dortigen Vermögenswerte an die Brockhaus-Familie und die Errichtung des Brockhaus-Zentrums (unter Hubertus Brockhaus) als Gewerbe-Immobilie auf dem alten Grundstück, sowie die Fortführung der Markentradition von Brockhaus im Rahmen des Mannheimer Gesamtunternehmens (Nachwort S. 382–383).

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Enzyklopädische Ausflüge

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Neben einer durchgeschriebenen Firmengeschichte enthält das Buch drei umfangreiche Exkurse in die Geschichte, Technik und Ökonomie der Lexikon-Produktion. Während der erste Exkurs einen Überblick über die historische Entwicklung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert ermöglicht, beschreibt der zweite, verfasst von Dorottya Lipták (Ungarn), Sondra M. Cooney (USA) und Erhard Hexelschneider (Leipzig), die Wirkungen ›des‹ Brockhaus im Ausland. Adaptionen des deutschen Konversationslexikons erschienen schon früh in Dänemark, den Niederlanden, den USA und Ungarn, dort bei Wigand in Pest zwischen 1831 und 1834. Auch Chambers’s Encyclopedia aus Edinburgh beruhte ursprünglich auf einer Lizenz von Brockhaus. Besonders deutlich werden die Chancen und Probleme einer solchen Kooperation in dem Beitrag von Hexelschneider über den russischen Brockhaus-Efron, für den mit Leipziger Teilhaberschaft eine eigene Firma in St. Petersburg gegründet wurde. Dieses Großlexikon, ursprünglich als Übersetzung gedacht, erwies sich mehr und mehr als eigenständiges Unternehmen unter russischer Redaktion mit zunehmenden Originalartikeln, veranlasst zum einen durch das Bedürfnis nach ›Russifizierung‹, zum anderen durch die anhaltende Modernisierung von Wissenschaft und Technik. Die Ausgabe des Brockhaus-Efron (1890–1907) erreichte hohe Auflagen, rief Konkurrenzwerke hervor – unter anderem in Kooperation mit dem Bibliographischen Institut – und blieb bis in die Gegenwart durch CD-ROM-Versionen präsent.

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Der dritte Exkurs »Aus der Werkstatt eines großen Lexikons« stellt, den Gestus eines Firmen- Prospekts nicht immer vermeidend, die Arbeitsvorgänge in Redaktion, Datenverarbeitung, Design und Produktion eines modernen Lexikons dar.

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Zur Methode und Gestaltung

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In deutlicher Abgrenzung zum familiengeschichtlichen Ansatz der früheren Firmengeschichte von Heinrich Eduard Brockhaus aus dem Jahr 1905 –»Das Buch ist zunächst nur für die Angehörigen der Firma bestimmt«, hieß es dort im Vorwort – hat Thomas Keiderling die Fragen einer unternehmensgeschichtlichen Forschung von heute gestellt, 4 Fragen nach der technischen Entwicklung im Druckereibetrieb, nach Bilanzen und Umsätzen des Verlages, nach den Hintergründen und den Rahmenbedingungen unternehmerischer Entscheidungen, auch nach wirtschaftlichen, sozialen und personalen Krisensituationen. Weil das alte Leipziger Brockhaus-Archiv im Krieg vernichtet wurde, mussten zahlreiche andere Sammlungen zwischen Berlin, Leipzig, Mannheim und Wiesbaden nach einem solchen Fragenraster durchsucht und gegebenenfalls auch mündliche Auskünfte eingeholt werden. Aus diesen Materialien ist eine ebenso sachkundige wie lebhafte Beschreibung der wechselvollen Firmengeschichte eines buchgewerblichen Großunternehmens im 20. Jahrhundert entstanden: Am Anfang noch gestützt durch die rapide Entwicklung im 19. Jahrhundert, nach 1945 zunehmend kompliziert durch die Doppelexistenz des Verlages und den Neuaufbau in Westdeutschland. Der Reichtum des Bandes an detaillierten Informationen, an Bilddokumenten wie an aufbereiteten Tabellen und Diagrammen ist außerordentlich.

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Dass das Buch als Teil der Jubiläums-Aktivitäten von F.A.Brockhaus im Paket erscheint und dass alles zusammen hier und da mit dem bei Historikern unbeliebten Gattungsbegriff ›Festschrift‹ bezeichnet wird, ändert nichts an seinen Qualitäten. Ein anderes Problem entsteht allerdings durch die Marketing-Entscheidung, die Gestaltung »am bewährten Layout« der Lexika des Hauses zu orientieren (Grußwort, S. 5). Die starke Mischung von Text und Bild bei großzügiger Verwendung von Farbe sowie die Ausgliederung von Textelementen in ›Infokästen‹ einerseits, andererseits die typographische Rückstufung des durchlaufenden Textes (zweispaltig in zu kurzen Zeilen mit zu kleinem Schriftgrad), die Verweisung der Anmerkungen in einen Anhang, der noch vieles mehr, unter anderem eine hilfreiche Chronik und eine nützliche Stammtafel der Inhaber enthält, der Verzicht auf Kapitelzählung im Hauptteil: Alles das sind Elemente eines Designs, das für die selektive Nutzung von Nachschlagewerken zweckmäßig sein mag, aber die kontinuierliche Lektüre und das kombinierte Text- und Bild-Verständnis einer historischen Darstellung eher behindert als fördert. Typographie wäre in diesem Fall nicht eine Sache der attraktiven Oberfläche, sondern der durchgehenden, lesefreundlichen Organisation des vom Autor vorgegebenen Materials.

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Fest steht jedoch: Wer sich über die Entwicklung des Buchwesens im Zeitalter seiner Industrialisierung informieren will, findet in Keiderlings Brockhaus-Geschichte eine exemplarische Fallstudie.



Anmerkungen

Thomas Keiderling: Unternehmer im Nationalsozialismus. Machtkampf um den Konzern Koehler & Volckmar AG & Co. Beucha: Sax-Verlag 2003 (vgl. dazu die Rezension von Arno Mentzel-Reuters: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/MentzelReuters3934544398_524.html).   zurück
Vgl. Thomas Keiderling (Hg.): Betriebsfeiern bei F.A.Brockhaus. Wirtschaftliche Festkultur im 19. und frühen 20.Jahrhundert. Beucha: Sax-Verlag 2001.   zurück
Vgl. Volker Titel (Hg.): Heinrich Brockhaus – Tagebücher. Deutschland 1834–1872. Erlangen: filos 2004 S. 26.   zurück
Einführung zum Faksimile S. 10–11. Seit Anfang 2005 unterhält die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte einen Arbeitskreis Mediengeschichte, der das Verlagswesen einschließt.   zurück